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Streik an Uniklinika in NRW

"Eine Chance, die wir uns nicht entgehen lassen sollten"

"Uns ist bewusst, dass der Streik die Versorgung einschränkt, aber tatsächlich patientengefährdend ist der Alltag auf den Stationen", sagt Paula Klaan.

Am Universitätsklinikum Münster (UKM) streikt neben mehreren Hundert anderen Pflegenden Gesundheits- und Krankenpflegerin Paula Klaan. Im Interview mit BibliomedPflege berichtet die Aktivistin der Gewerkschaft Verdi, warum die Zeit reif ist, für einen Tarifvertrag Entlastung zu kämpfen, was der "Delegiertenrat der 200" ist und welche Signalwirkung der Streik an den Uniklinika in Nordrhein-Westfalen (NRW) für die Profession Pflege im Land haben könnte.

Frau Klaan, Sie arbeiten am UKM auf einer Station für Gastroenterologie und Hepatologie. Für wie viele Patientinnen und Patienten sind Sie verantwortlich in einer Schicht?

Wir betreuen durchschnittlich 28 Patientinnen und Patienten. In der Frühschicht arbeiten drei examinierte Pflegefachpersonen zusammen. Jede Fachkraft ist also für etwa neun bis zehn Patientinnen und Patienten zuständig. Im Spät- und Nachtdienst sind wir nur zu zweit. Dann betreut eine Pflegefachperson rund 14 Patientinnen und Patienten.

Können Sie unter diesen Umständen eine angemessene pflegerische Versorgung sicherstellen?

Nein, die Personaldecke ist so dünn – auch schon lange vor Corona –, dass wir eigentlich nur am Hin- und Herrennen sind. Für mich als Pflegefachperson gehört es zu meinem Selbstverständnis, im Job meine Tätigkeiten zu strukturieren und zu priorisieren. Bereits seit Jahren befinden wir uns in der Pflege aber in der Situation, dass wir uns nicht überlegen müssen, in welcher Reihenfolge wir Aufgaben erledigen – sondern: ob wir sie überhaupt erledigen. Das kann nur in patientengefährdende Situationen münden. Wir sind nicht mehr in der Lage, solche Situationen abzufedern, ohne unsere eigene Gesundheit zu vernachlässigen. Wir brauchen JETZT Lösungen, um diesen Missstand, der von Jahr zu Jahr schlimmer wird, zu beheben. Wir haben keine Zeit, auf Versprechungen aus der Politik zu warten. Zumal uns die Politik in den vergangenen Jahren ohnehin immer wieder enttäuscht hat.

"Wir haben keine Zeit, auf Versprechungen aus der Politik zu warten."

Ein 100-Tage-Ulitmatum hatte die regierende CDU-Landespolitik ebenso verstreichen lassen wie eine klare Positionierung zu der von Ihnen und anderen Pflegenden überreichten Petition...

Richtig, das Ultimatum haben wir im Januar ausgesprochen. Die Petition mit rund 12.000 Unterschriften haben wir im März der Landesregierung übergeben. Doch unsere Forderungen wurden sehr lange ignoriert. Der zuständige NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann hat erst Mitte April seine Unterstützung signalisiert.

Zu spät, um vor dem Auslaufen des Ultimatums am 1. Mai wirklich etwas zu bewegen. Seit Mittwoch vergangener Woche streiken Sie deshalb mit weiteren Beschäftigten an den sechs Uniklinika in NRW für einen Tarifvertrag Entlastung. Zuletzt konnten Pflegende an der Berliner Charité und bei Vivantes auch erst nach Streiks eine Bewegung Richtung Entlastung erzielen. Sind unbefristete Streiks also die logische Konsequenz, um als Profession Pflege Forderungen durchsetzen zu können?

Wir haben uns tatsächlich gezwungen gesehen, in diese Streiksituation zu treten. Wir haben ja nicht nur einfach ein Ultimatum ausgesprochen und dann gewartet, dass die Politik auf uns zukommt. Seit Jahresanfang haben wir immer wieder Gespräche mit verantwortlichen Politikerinnen und Politikern gesucht. Sowohl den regierenden Parteien als auch den übrigen demokratischen Parteien des Landesparlaments haben wir erläutert, dass es uns nicht um mehr Geld geht, sondern ausschließlich um verbesserte Arbeitsbedingungen in Form etwa von Sollbesetzungen und Konsequenzmanagement – und zwar für alle Bereiche im Klinikum. Mit Auslaufen des Ultimatums mussten wir unseren Worten Taten folgen lassen. Die Urabstimmung unter Gewerkschaftsmitgliedern hat uns mit über 98 Prozent Zustimmung den nötigen Rückhalt dafür gegeben. Uns ist bewusst, dass der Streik sicherlich die Patientenversorgung an den einzelnen Uniklinika einschränkt, aber tatsächlich gefährdend für die Patientinnen und Patienten ist aus unserer Sicht der Alltag auf den Stationen.

"Am UKM kommen 350 bis 400 Streikende pro Tag zusammen"

Nicht mal jede zehnte Pflegeperson ist gewerkschaftlich organisiert und damit streikberechtigt. Hingegen sind gut 60 Prozent der Krankenhausärztinnen und -ärzte Mitglied im Marburger Bund. Wünschen Sie sich mehr Unterstützung aus der Profession Pflege?

Die Pflegebranche ist wirklich nicht gerade für ihren hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad bekannt. Ich selbst bin erst im Januar in die Gewerkschaft Verdi eingetreten, obwohl ich mich bereits im vergangenen Herbst an Warnstreiks beteiligt hatte. Tarifverträge sind nun mal eine gewerkschaftliche Angelegenheit. Als ich erkannt habe, dass wir wirklich einen Tarifvertrag Entlastung erreichen könnten, war das für mich der Startschuss, mich – neben Berufsverband und Pflegekammer – auch in der Gewerkschaft zu engagieren. Wenn es um verbesserte Arbeitsbedingungen geht, ist das eine Chance, die wir uns als Pflegefachpersonen nicht entgehen lassen sollten. Gleichwohl will ein Streik an einem Krankenhaus gut vorbereitet sein und bedarf vieler Informationsarbeit, um das Kollegium abzuholen. Am UKM sind mittlerweile 20 Prozent der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert. Das ist enorm. Es ist ein Punkt erreicht, an dem wir nicht mehr bereit sind, die eklatanten Bedingungen mitzutragen, einfach, weil wir es auch nicht mehr können. Seit vergangenen Mittwoch kommen am UKM 350 bis 400 Streikende pro Tag zusammen – viele Kolleginnen und Kollegen kommen sogar aus ihrem Frei heraus, um für Entlastung zu kämpfen.  

Wie reagieren Ihr Kollegium und Ihre Vorgesetzten auf Ihr Engagement?

Kolleginnen, Kollegen und auch Stationsleitung stehen vollkommen hinter dem Streik. Sie sehen, dass wir gerade selbst etwas verändern können. Sicherlich ist diese Unterstützung nicht auf allen Stationen oder in allen Uniklinika in NRW gegeben. In Aachen zum Beispiel hat die Klinikleitung den Beschäftigten eine Notdienstvereinbarung verweigert und übt massiven Druck auf die Auszubildenden aus. Aktuelle Streiktage wertet die Klinikleitung dort als Fehlzeiten. Das kann die Auszubildenden ihre Examenszulassung kosten. In Münster stehen wir in engem Austausch mit der Klinikleitung und können auf deren volle Unterstützung vertrauen. Sie senden das Signal, dass wir gemeinsam die Streiksituation bewältigen. Denn die ist ja für uns alle kein Spaß.

"Wir sind inhaltlich zu 100 Prozent eingebunden."

Die Verdi-Tarifkommission, die die Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite übernehmen wird, bezieht auch einen "Delegiertenrat der 200" ein. Wer steckt konkret dahinter?

Die Tarifkommission besteht aus 75 Beschäftigten der Uniklinika, die von der Gewerkschaft unterstützt werden. Zudem hat jedes Team der sechs Uniklinika Teamdelegierte bestimmt – nicht nur aus der Profession Pflege, sondern zum Beispiel auch aus dem Therapeuten- oder Service-Bereich. Verhandlungsführend werden also im Prinzip die Beschäftigten aller Bereiche sein. Aus den Teamdelegierten wiederum ist der Delegiertenrat der 200 gewählt worden. Die Tarifkommission hat sich dazu verpflichtet, Angebote und verhandlungsentscheidende Fragen basisdemokratisch abklären zu lassen – es wird also definitiv dazu kommen, dass wir Pflegenden, die wir ja die Fachkompetenz mitbringen und die Erfahrung aus der Praxis haben, als Expertinnen und Experten unserer Berufsgruppen mitentscheiden und bereichsspezifisch entsprechende Inhalte beisteuern können. Das ist etwas Besonderes. Die Verhandlungen erfolgen nicht von oben herab. Wir sind nicht nur mit gewerkschaftlicher Stärke vertreten, sondern wirklich inhaltlich zu 100 Prozent eingebunden. Das trägt dazu bei, dass ein künftiger Tarifvertrag Entlastung, wie wir ihn einfordern, eine entsprechende Qualität aufweisen und auch in der Praxis anwendbar sein wird.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass mit den Streiks jetzt wirklich eine wegweisende Lösung zur Entlastung des Pflegepersonals resultiert?

Sehr zuversichtlich, weil ich sehe, was jeden Tag am Streikposten vor Ort passiert. Die Kolleginnen und Kollegen sitzen nicht einfach ihre Zeit ab und warten bis ihre Streikzeit vergeht, sondern sind sehr aktiv. Sie bilden zum Beispiel verschiedene Arbeitsgruppen, etwa um weitere Kolleginnen und Kollegen zu informieren. Andere erstellen gerade Wissenswertes zu den Hintergründen unserer Forderungen, damit wir vorbereitet in die zu erwartenden Verhandlungen gehen können. Die Bereitschaft, sich einzubringen, ist sehr groß; nicht zuletzt, weil für alle Beteiligten klar ist, welche Wirkung der Tarifvertrag Entlastung haben kann: Wenn wir es wirklich schaffen, für alle sechs Uniklinika in NRW diesen flächendeckend wirkenden Tarifvertrag Entlastung zu erkämpfen, dann hat das genauso eine Signalwirkung, wie beispielsweise ein Tarifvertrag der Länder auf monetärer Ebene. Auch andere Krankenhäuser in NRW werden sich dann nicht dagegen verwahren können, ihre Arbeitsbedingungen anzupassen, schlicht aus dem Grund, eine Personalflucht zu vermeiden.

"Wichtig für uns ist, mit allen sechs Uniklinika gemeinsame Standards zu vereinbaren."

In dieser Woche hat das NRW-Kabinett den Austritt der Uniklinika aus dem Arbeitgeberverband des Landes NRW beschlossen. Das ist Voraussetzung, damit die Uniklinika eigenständige Verhandlungen mit Verdi beginnen können. Ist jetzt also ein schnelles Ende der Streiks in Sicht?

Solange wir keinen Tarifvertrag Entlastung haben, sind wir bereit, die Form des aktuellen Erzwingungsstreiks aufrechtzuhalten. In Berlin zum Beispiel betrug die Gesamtstreikzeit vier Wochen, bis ein Eckpunktepapier vorlag. Ich rechne nicht damit, dass wir vor Ende Mai zu einer Lösung kommen. Diesen Freitag sind Gespräche mit der Tarifkommission geplant. Sie werden zeigen, wie sich die weiteren Verhandlungen gestalten. Wichtig und entscheidend für uns ist, gemeinsam mit allen sechs Uniklinika zu verhandeln und gemeinsame Standards zu vereinbaren.  

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