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Heilkundeausübung

Aufbruchsstimmung im Pflegesystem

Die gesetzliche Kodifizierung einer substituierten Heilkundeausübung ermöglicht eine Kompetenzerweiterung innerhalb der Profession Pflege.

Die gesetzliche Kodifizierung einer substituierten Heilkundeausübung ermöglicht eine Kompetenzerweiterung innerhalb der Profession Pflege. Pflegestudiumstärkungsgesetz und Pflegekompetenzgesetz müssen dafür Hand in Hand gehen und aufeinander abgestimmt sein für einen nachweislich positiven Effekt in der Patientenversorgung, fordert Pflegewissenschaftler Ismail Özlü.

Das geplante Gesetz zur Regulierung der eigenverantwortlichen Ausübung von Heilkunde durch die Pflegeprofession – das Pflegestudiumstärkungsgesetz (PflStudStG) – bedeutet eine Abkehr von den bisherigen funktionalen Regelverstößen im deutschen Gesundheitssystem. Es scheint ein Ausweg aus der bestehenden brauchbaren Illegalität zu sein, um es mit den Worten von Stefan Kühl [1] zu sagen.

Der Gesetzestext sieht primär die Kompetenzerweiterung der professionell ausgeübten Pflege als Heilkundeausübung in substituierter Form vor, vorerst in den Bereichen "Demenz", "Diabetes" und "Wundversorgung" – mit dem Ziel, dem gesellschaftlichen Versorgungsauftrag im deutschen Gesundheitssystem nachzukommen [2].

Pflegeweiterentwicklungsgesetz, G-BA-Richtlinie und Modellvorhaben

Die Historie zum Thema Heilkundeübertragung auf Pflegefachpersonen hat ihren Ursprung im Jahr 2008 im kodifizierten Pflegeweiterentwicklungsgesetz und in der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zum § 63 Abs. 3c SGB V. Diese sah vor, dass der Erwerb der erweiterten Heilkundekompetenz für die selbstständige Ausübung dergleichen nach ärztlicher Erstdiagnose auf die Pflegefachperson im klassischen Substitutionsmodell übertragen wird und in einem Modellvorhaben erprobt werden sollte.

Die Weiterentwicklung des Gesetzesvorhabens mündete dann 2022 im § 64d SGB V, "Verpflichtende Durchführung von Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten". Diese Regelung sieht vor, Modellprojekte unter Einbeziehung der gesetzlichen Krankenkassen zu erproben. Die Kassen sollten sich nunmehr verpflichtend an den Modellprojekten beteiligen, um mindestens ein Modellvorhaben je Bundesland durch die Landesverbände der Kranken- und Ersatzkassen gemeinsam nach Maßgabe eines Rahmenvertrags zu starten – spätestens zum 1. Januar 2023. In diesem Rahmenvertrag sind gemäß § 64d SGB V insbesondere folgende Aspekte zu regeln:

"1. ein Katalog der ärztlichen Tätigkeiten, die von Pflegefachkräften nach Absatz 1 Satz 1 unter Berücksichtigung der von der Fachkommission nach § 53 des Pflegeberufegesetzes entwickelten, standardisierten Module nach § 14 Absatz 4 des Pflegeberufegesetzes selbständig durchgeführt werden können,

2. Vereinbarungen zur ausgewogenen Berücksichtigung aller Versorgungsbereiche bei der Durchführung von Modellvorhaben,

3. einheitliche Vorgaben zur Abrechnung und zu Maßnahmen zur Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit,

4. Rahmenvorgaben für die interprofessionelle Zusammenarbeit".

Pflegestudiumstärkungsgesetz

Aktuell tut sich im Hochschulkontext einiges zu diesem Themenbereich. Zum einen bringt der Gesetzgeber nunmehr das PflStudStG (befindet sich derzeit im laufenden Verabschiedungsprozess, soll in Teilen am 1. Juli 2024 und 1. Januar 2025 in Kraft treten) auf den Weg, das ein Novum für das deutsche Gesundheitssystem bedeuten würde. Das PflStudStG [2] stärkt die hochschulische Pflegequalifizierung, indem die Studierenden eine Ausbildungsvergütung erhalten und die Praxisanleitung im Rahmen der praktischen Qualifizierung mit einem Zehn-Prozent-Anteil geregelt ist. Die Praxisträger refinanzieren zudem sowohl die Ausbildungsvergütung als auch die Praxisanleitung mittels Ausbildungsfonds [2].

Heilkundekompetenzen. Neben der besseren finanziellen Ausrichtung der hochschulischen Pflegequalifizierung soll die Pflegeprofession weitere Kompetenzen im Bereich der Heilkunde zugeschrieben bekommen. Deutsche Hochschulen, die primärqualifizierende Pflegestudiengänge anbieten, werden künftig Heilkundekompetenzen vermitteln, die entsprechend ins Lehrcurriculum und somit in die Modulhandbücher aufzunehmen sind.

Im jetzigen Gesetzesentwurf heißt es dazu, dass heilkundliche Kompetenzen ab 2025 verbindliche Studieninhalte und Teil der staatlichen Prüfungen werden. Die bisherigen Kompetenzen, die im Rahmen staatlicher Prüfungen zu prüfen sind, werden in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe (PflAPrV) in einen Teil A überführt und der neue Teil B der PflAPrV wird nunmehr die erweiterten heilkundlichen Kompetenzen des Pflegestudiums beinhalten [2].

Die Formulierungen dieser heilkundlichen Kompetenzen entsprechen vollumfänglich den standardisierten Modulen, die die Fachkommission Pflege nach § 53 des Pflegeberufegesetzes (PflBG) zum Erwerb erweiterter Kompetenzen zur Ausübung heilkundlichen Aufgaben erarbeitet hat [3]: ein Grundlagenmodul und insgesamt acht Wahlmodule. Im Kontext des neuen PflStudStG sind vorerst das Grundlagenmodul sowie die ersten drei Module verpflichtend:

  • "Grundlagenmodul: Ein professionelles Berufs- und Rollenverständnis mit erweiterter heilkundlicher Verantwortung entwickeln
  • Erweiterte heilkundliche Verantwortung für Pflege- und Therapieprozesse mit Menschen aller Altersstufen in diabetischer Stoffwechsellage
  • Erweiterte heilkundliche Verantwortung für Pflege- und Therapieprozesse mit Menschen aller Altersstufen, die von chronischen Wunden betroffen sind
  • Erweiterte heilkundliche Verantwortung für Pflege- und Therapieprozesse mit Menschen, die von einer Demenz betroffen sind"


Kompetenzerweiterung. Das Gesundheitsministerium hat bereits angekündigt, ein weiteres Gesetz zeitnah vorzulegen, das die Heilkundeübertragung auch für nicht akademische Pflegefachpersonen regeln soll. In § 33 PflAPrV heißt es wie folgt:

"Für die Prüfung der Kompetenzen zur selbständigen und eigenverantwortlichen Ausübung erweiterter heilkundlicher Tätigkeiten durch hochschulisch ausgebildete Pflegefachkräfte nach § 37 Absatz 2 Satz 2 des Pflegeberufegesetzes müssen dem Prüfungsausschuss zusätzlich zu den in Satz 2 Nummer 1 bis 4 genannten Personen zwei ärztliche Fachprüferinnen oder Fachprüfer angehören; die ärztlichen Fachprüferinnen und Fachprüfer sollen die studierenden Personen in den selbständigen und eigenverantwortlichen Kompetenzen zur Ausübung erweiterter heilkundlicher Tätigkeiten unterrichtet haben, die Gegenstand der staatlichen Prüfung sind."

Das bedeutet, dass nicht nur der Prüfungsausschuss um zwei ärztliche Kolleginnen und Kollegen zu erweitern ist, sondern dass auch im Rahmen der schriftlichen staatlichen Prüfungen zur Pflegefachperson zu den bisherigen drei Aufsichtsarbeiten eine vierte staatliche Klausur hinzukommt. Im Rahmen der staatlichen mündlichen Prüfung wird mindestens ein Modul die bisherige Modulprüfung ergänzen, um die Heilkundekompetenz durch ärztliche Fachprüferinnen und -prüfer abzufragen. Die praktische staatliche Prüfung basiert auf einem eigenständigen Modul zu den bisherigen Kompetenzbereichen (I-V) der staatlichen Pflegeprüfungen neuerdings dann aus der Anlage 5 Teil A der PflAPrV und einem separaten und eigenständigen Modul für die staatliche praktische Prüfung, die konkret die Heilkundekompetenz (dann nach Prüfungs-Teil B der Anlage 5 der PflAPrV) prüft, auch hier werden ärztliche Kollegen als Fachprüfer eingesetzt.

Diese Kompetenzerweiterung für Pflegefachpersonen in der Heilkundeausübung wäre neben der rechtlichen Kodifizierung von "Vorbehaltenen Tätigkeiten" für Pflegefachpersonen, die bereits mit der Reformierung des PflBG – in Kraft getreten zum 1. Januar 2020 (§4 PflBG) [4] – ein weiteres Merkmal erfüllt, ein richtiger, konsequenter Schritt in die richtige Richtung. Dies zeigt etwa ein vergleichender Blick auf die skandinavischen Länder (zum Beispiel Schweden und Dänemark) und in die USA. In den dortigen Gesundheits- und Pflegesystemen ist es seit vielen Jahren Aufgabe der Advanced Practitioner Nurses, die Primärversorgung der Bevölkerung mit sicherzustellen.

Für das deutsche Gesundheits- und Pflegesystem bedeutet dieser Schritt eine Steigerung des Professionalisierungsgrads, die der Pflegeprofession formalrechtlich mehr Kompetenzen zuschreibt. In der Praxis sind bereits heute in vielen Versorgungssituation Prozesse zu beobachten, in denen Pflegefachpersonen aufgrund ihrer Qualifikation und fachlichen Fähigkeiten einen großen Beitrag zur Versorgungssicherheit sowohl von Patientinnen und Patienten als auch von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Klientinnen und Klienten leisten.

Regulierung des Leistungsrechts. Allein mit der Regulierung der formellen Qualifikation akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen mit einer erweiterten Kompetenz zur Erbringung von Heilkunde ist es aber nicht getan, um das Gesundheits- und Pflegeversorgungssystem mit entsprechend gewünschten Systemeffekten weiterzuentwickeln. Es bedarf der Regulierung des Leistungsrechts im Gesundheits- und Pflegesystem. Erst dann greift das eine Zahnrad "Formelle Qualifikation" in das nächste Zahnrad "Heilkundeausübung in der Praxis im Rahmen eines Substitutionsmodells" und in das weitere Zahnrad "Neuregulierung des Leistungsrechts".

So wird erst die Kraftübertragung ermöglicht und kann die Pflegeprofession ihr gesamtes Potenzial in einem funktional und interprofessionell gut ausgerichteten Gesundheits- und Pflegesystem entfalten – im Sinne der Verbesserung der Versorgungsqualität für die Patienten im akutstationären Sektor sowie für Bewohner und Klienten im ambulanten und stationären Langzeitpflegesektor.

Pflegekompetenzgesetz

Das Pflegekompetenzgesetz soll noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden – mit der Zielsetzung, Pflegefachpersonen mehr Kompetenzen und Verantwortung zu übertragen. Dieses Gesetzesvorhaben könnte auf vielen Ebenen den aktuellen demografiebedingten Herausforderungen und dem Fachkräftemangel im Gesundheits- und Pflegesystem begegnen.

Interprofessionelle Zusammenarbeit. Einerseits könnte es den Pflegeberuf attraktiver machen, andererseits in der Primärversorgung das Versorgungssystem entlasten und den Leistungsempfängerinnen und -empfängern Versorgungssicherheit gewährleisten. Funktioniert die interprofessionelle Zusammenarbeit aller Beteiligten im Gesundheits- und Pflegesystem, steigern sich auch Versorgungsqualität, Patientenzufriedenheit und entsprechend die Patienten-Outcomes (5, 6). Die Beteiligten selbst profitieren von höherer Arbeitszufriedenheit.

Damit eine interprofessionelle Zusammenarbeit gelingt, braucht es gut etablierte Kommunikationsstrukturen sowie eine gegenseitige Wertschätzung. Eine stets arztzentrierte Gesundheitsversorgung stellt ein anachronistisches und viel zu starres Versorgungssystem dar, in dem Output-Leistung und Patienten-Outcomes nicht immer optimal sind.

Zu diesem Ergebnis kam der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen (SVR) bereits in seinem Gutachten aus dem Jahr 2007 (6): "Darüber hinaus bestehen eine nicht immer effiziente Arztzentriertheit der Krankenversorgung sowie Ausbildungsmangel." Als Fehlerursachen erkannte der SVR neben rechtlichen Unsicherheiten eine schlechte interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen, Ärzten und Pflegefachpersonen. Der SVR machte daher den Vorschlag: "Insbesondere die Entwicklung von interprofessionellen Leitlinien können den Prozess der Neuordnung der Aufgabenteilung maßgeblich unterstützen."

Zu vielen verschiedenen Versorgungsthemen existieren bereits interprofessionelle Kooperationen – etwa in der Leitlinienerstellung. Ein Beispiel dafür ist die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die Experten unterschiedlicher medizinischer Fachgesellschaften und der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft in Arbeitskooperationen vereint (7).

Konzeptideen

Für eine innovative Neuausrichtung der Gesundheits- und Pflegeversorgung lohnt ein Blick auf die Konzeptideen des Instituts für Pflege, Altern und Gesundheit (ipag) unter dem Projektnamen "Care Share 13" (8). Die Autorinnen und Autoren von Care Share 13 deklarieren, die Sektorenarchitektur des Gesundheitssytems sei nicht mehr passend und entwerfen architektonisch ein Vorschlag für ein neues Leistungsrecht, das sich in dem fiktiven Sozialgesetzbuch (SGB) XIII niederschlägt. Dieses SGB XIII stellt erst einmal ein neu zu schaffendes Leistungsrecht der Fachpflege dar.

Die Idee ist ein Konzept, in dem die Gesundheitsversorgungsleistungen, "im Sinne einer modernen integriert-interprofessionellen Care-Share-Versorgung barrierefrei, evidenzbasiert und unter Berücksichtigung neuer Vergütungsmixe zusammengeführt werden. Zusätzlich werden im neuen SGB XIII erstmals die Leistungen der beruflichen Fachpflege abgebildet und kodifiziert." (8). Ziel ist, dass in einem integrierten Gesundheits- und Pflegesystem Pflegefachpersonen und Ärzte gemeinsam über die individuell bestmögliche medizinische und pflegerische Patientenversorgung entscheiden.

 

[1] Kühle, Stefan (2019). Funktionale Regelverstöße und brauchbare Illegalität. Weswegen sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen. Working Paper 8/2019: 1-22. https://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/kuehl/pdf/Kuhl-Stefan;-Working-Paper-8-2019-Grauzonen-zwischen-Regelabweichung-und-Regelkonformitat.pdf

[2] Bundesrat Drucksache 225/23 (26.05.2023). Gesetzesentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der hochschulischen Pflegeausbildung, zu Erleichterungen bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse in der Pflege und zur Änderung weiterer Vorschriften (Pflegestudiumstärkungsgesetz – PflStudStG). Im Internet: https://dserver.bundestag.de/brd/2023/0225-23.pdf

[3] Bundesinstitut für Berufsbildung (2022). Schriften der Fachkommission nach § 53 PflBG. Standardisierte Module zum Erwerb erweiterter Kompetenzen zur Ausübung heilkundlicher Aufgaben. o. O. https://www.bibb.de/dienst/publikationen/de/17717

[4] Gesetz über die Pflegeberufe (PflBG) (17.07.2017). Im Internet: https://www.gesetze-im-internet.de/pflbg/PflBG.pdf  

[5] Deutscher Bundestag (2003). Gutachten 2003 des Sachverständigenrates (SVR) für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität. Drucksache 15/530. o. O. Im Internet: https://dserver.bundestag.de/btd/15/005/1500530.pdf

[6] Deutscher Bundestag (2007). Gutachten 2007 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Kooperation und Verantwortung- Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Drucksache 16/6339. Im Internet: https://dserver.bundestag.de/btd/16/063/1606339.pdf

[7] Leitlinien mit Beteiligung der DGP | DGP – Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. (dg-pflegewissenschaft.de). Im Internet: https://dg-pflegewissenschaft.de/leitlinienkommission/leitlinien-mit-beteiligung-der-dgp/

[8] Two-Page-Paper | Care Share 13 (jimdo-storage.global.ssl.fastly.net). Im Internet: https://jimdo-storage.global.ssl.fastly.net/file/2dd9b569-76f0-4ee6-becd-0a66f414d046/Care%20Share%2013_Two-Page%20Paper.pdf

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