• 10.05.2021
  • PflegenIntensiv
Forderungskatalog der DGF und DIVI

"Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir viele verlieren"

Lothar Ullrich ist 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktionsdienste (DGF).

PflegenIntensiv

Ausgabe 2/2021

Seite 28

Langfristige Lösungen helfen uns jetzt nicht mehr weiter, mahnt der DGF-Vorsitzende Lothar Ullrich. Es muss sich schnell etwas ändern, um die sich zuspitzende Situation in der Intensivpflege zu verbessern. Dazu haben sich Intensivpflegende und Mediziner der DGF und DIVI zusammengetan und konkrete Forderungen vorgelegt. Erweiterte Kompetenzen und eine angemessene Entlohnung spielen dabei eine wichtige Rolle.

Herr Ullrich, seit Jahren kämpfen Intensivstationen mit einem immer größer werdenden Fachkräfte- mangel. Bringt Corona jetzt das Fass zum Überlaufen?

Die angespannte Personalsituation hat sich durch Corona tatsächlich erheblich zugespitzt. Bislang ist es vor allem dem Einsatz der Intensivpflegenden zu verdanken, die den Mangel mit Mehrarbeit, verlängerten Dienstzeiten und zusätzlichem Engagement ausgeglichen haben. Doch das geht natürlich bis an den Rand der Erschöpfung – sowohl körperlich als auch psychisch. Wie lange das noch kompensiert werden kann, ist von daher mehr als fraglich.

Der Weltbund der Pflegenden, kurz ICN, warnte kürzlich vor einem Exodus erfahrener Pflegender. Gibt es schon Intensivstationen mit vermehrten Kündigungen?

Ich erlebe, dass die meisten Intensivpflegenden sich der besonderen Verantwortung, die sie haben, bewusst sind und nicht einfach alles hinwerfen würden. Viele sehen weiter die Sinnhaftigkeit ihres Berufs und haben den Anspruch, eine gute Intensivpflege zu leisten. Die entscheidende Frage ist: Wie lange können sie das unter den derzeitigen Bedingungen noch? Wenn die dritte Welle der Pandemie sich weiter massiv auf die Intensivstationen auswirkt, könnte sehr bald der Zeitpunkt erreicht sein, wo die Pflegenden wirklich nicht mehr können und auch bereit sind zu gehen. Oder sie halten jetzt noch irgendwie durch und gehen, wenn das Schlimmste vorüber ist.

Erst Corona-, dann Kündigungswelle?

Nach Abklingen der Pandemie droht der Massenexodus in der Pflegebranche. Jede dritte Pflegeperson überlegt offenbar, den Beruf zu verlassen. Welche Strategien schützen vor der drohenden Katastrophe? Abonnenten lesen hier den vollständigen Artikel. Wenn Ihnen noch das passende Abo fehlt, werden Sie hier fündig. 

Zum Ausgleich der enormen Belastungen hat die Bundesregierung erneut einen Corona-Bonus für die Mitarbeitenden in Kliniken beschlossen. Wie bewerten Sie das?

Erst mal ist ein Bonus ein Geschenk und das kann man natürlich annehmen. Trotzdem haftet diesem ein gewisser Makel an, und viele Pflegende erleben den Bonus auch eher als ein Almosen. Hinzu kommt: Ein Bonus, der innerhalb der Kliniken auf viele Mitarbeitende verteilt wird, führt zu einer immensen Neid- debatte – das haben wir bereits bei der ersten Bonuszahlung erlebt. Im Endeffekt bleiben pro Pflegeperson vielleicht 250 Euro übrig, und da fragt man sich zu Recht: Was soll das? Was wir brauchen, sind also keine Boni, sondern eine bessere und gerechtere Bezahlung. Alles andere ist ein vollkommen falscher Ansatz. Es geht darum, die Verantwortung, die Pflegende übernehmen, endlich anzuerkennen und angemessen zu entlohnen.

Im Moment erhalten Intensivpflegende über eine Intensivzulage etwa 50 Euro netto pro Monat mehr, fachweitergebildetes Personal wird im TV-L oder TVöD eine Entgeltstufe höher eingruppiert – das sind brutto rund 250 Euro mehr. Im Gegenzug ist die Verantwortung immens. Wie ist das zu rechtfertigen?

Das ist natürlich nicht zu rechtfertigen. Es heißt doch immer: Qualifikation muss sich lohnen. Wenn jemand eine zweijährige Fachweiterbildung absolviert, sehr viel Zeit investiert und eine hohe Kompetenz erworben hat, muss sich diese erweiterte Qualifikation auch im Gehalt widerspiegeln. Hier sind die Tarifparteien gefordert, die Tarifgruppen für Pflegende mit Fachweiterbildung anzupassen.

Welches Gehalt würden Sie als DGF-Vorsitzender für angemessen halten? Der Deutsche Pflegerat und die Pflegekammern fordern ein Einstiegsgehalt von 4.000 Euro.

Neben einem erhöhten Einstiegsgehalt ist eine bessere Staffelung der Gehälter dringend erforderlich. Für Pflegende, die sich engagieren und weiterqualifizieren, zum Beispiel mit einer Fachweiterbildung, muss es ein deutliches Plus geben. Dies gilt auch für Praxisanleitungen und akademisch Qualifizierte, die besondere Aufgaben übernehmen. Das wäre dann auch ein deutliches Signal an die Pflegenden: Es lohnt, sich weiterzuqualifizieren und Verantwortung zu übernehmen.

Und wie könnte ein angemessenes Bruttomonats­gehalt für Intensivpflegende konkret aussehen?

Ich würde 4.000 Euro für angemessen halten. Eine Fachweiterbildung sollte mit einem zusätzlichen Plus von 500 Euro einhergehen. Qualifizierung muss sich finanziell lohnen. Damit binde ich Mitarbeitende und eröffne Perspektiven. Aber Gehalt ist dabei nur ein Punkt. Es braucht – über finanzielle Anreize hinaus – weitere Veränderungen, um die verantwortungsvolle Arbeit am lebensbedrohlich erkrankten Patienten gut leisten zu können.

Sie haben als DGF zusammen mit der DIVI eine Stellungnahme mit notwendigen Veränderungen vorgelegt. Was hat Sie dazu motiviert?

Seit Jahren sprechen wir über die zunehmend schlechten Arbeitsbedingungen der Intensivpflegenden auf unseren Stationen. Es geht mir um die Stärkung und damit um die Zukunft der Intensivpflege. Wir müssen uns jetzt Gedanken machen, wie wir die Situation für die Pflegenden zeitnah verbessern können. Und das müssen Dinge sein, die kurzfristig umsetzbar sind. Was wir definitiv nicht brauchen, sind noch mehr Thesen- oder Strategiepapiere, die erst in Jahren greifen. Davon gibt es schon reichlich. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir viele Intensivpflegende verlieren. Und die Situation wird nicht besser werden. Es ist ein Teufelskreis, in dem wir uns bewegen. Die Arbeitsbedingungen werden noch schlechter, einige verlassen den Beruf, diejenigen, die bleiben, sind mit noch schlechteren Bedingungen konfrontiert und so weiter.

An wen richten Sie Ihre Forderungen?

Wir richten uns an die Politik, Tarifparteien, Gewerkschaften und Arbeitgeber. Denn jeder kann und muss zu einer Verbesserung der Situation beitragen. In unserem Forderungskatalog sind viele Punkte, die sehr konkret sind und die man auch verhältnismäßig schnell umsetzen kann.

Sie haben insgesamt 27 Vorschläge und konkrete Maßnahmen formuliert. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten drei Punkte?

Erstens: Wir müssen akzeptable Arbeitsbedingungen schaffen. Zweitens: Wir brauchen, am besten sofort, ein am Pflegebedarf ausgerichtetes Pflegebedarfs- bemessungsinstrument – dieser Punkt hängt mit dem ersten eng zusammen. Und drittens: Wir müssen die Handlungsautonomie der Pflegenden stärken, verbunden mit einer Neubewertung der Entgeltgruppe durch die Tarifpartner.

Zu Ihrem ersten Punkt: Was muss sich an den Arbeitsbedingungen ändern?

Zentral ist: Wir müssen eine Dienstplansicherheit gewährleisten können. Es darf nicht sein, dass Pflegende freitags auf ihren Privathandys angerufen werden: Kannst du einspringen? Es darf nicht sein, dass Pflegende drei oder vier Wochenenden hintereinander arbeiten müssen, weil keine anderen mehr da sind. Wenn wir das nicht ändern, werden Pflegende das auf Dauer nicht mittragen. Dann sperren sie ihre Handynummern, damit sie vom Arbeitgeber nicht mehr angerufen werden können – was auch ihr gutes Recht ist. Das ist einfach nicht hinnehmbar. Damit kommen wir zu Punkt 2: Wir brauchen ein gutes Personalbemessungsinstrument, das die Pflegepersonaluntergrenzen ergänzt.

So ein Personalbemessungsinstrument liegt aber nicht vor.

Genau, und das wäre vonseiten der Politik im Moment die dringlichste Aufgabe: die Entwicklung eines solchen Instruments schnellstmöglich in die Wege zu leiten. Und die Umsetzung müsste streng überwacht werden. Es darf nicht sein, dass – wie bei den Pflegepersonaluntergrenzen – Arbeitgeber mit lapidaren Sanktionen konfrontiert werden, die sie gerne in Kauf nehmen. Es muss empfindliche Sanktionen geben und dazu gehört auch, dass Betten gesperrt werden müssen, wenn Personalvorgaben nicht eingehalten werden können. Das erwarten Pflegende auch! Wir brauchen auch eine stärkere Differenzierung nach Kliniken.

Inwiefern?

Im Moment sind alle Intensivstationen vom Personalschlüssel her gleichgeschaltet. Eine Hochleistungs- intensivstation, auf der überwiegend Hochrisiko- patienten wie COVID-19-Patienten behandelt und gepflegt werden, hat also den gleichen Betreuungsschlüssel wie eine Intensivstation, auf der hauptsächlich Überwachungspatienten liegen. Hier brauchen wir eine bessere Differenzierung, die über ein gutes Personalbemessungsinstrument möglich ist.

Ihr dritter Punkt lautet, die Handlungsautonomie der Pflegenden zu stärken. Was meinen Sie damit?

Es geht darum, die Übernahme heilkundlicher Tätigkeiten durch Intensivpflegende mit Fachweiterbildung rechtlich abzusichern. Das ist im Moment eine Grauzone. Ein Beispiel: Die Entwöhnung von der Beatmung wird auf vielen Intensivstationen von Pflegenden gesteuert. Das gehört zu den Kompetenzen, die sie im Rahmen der Fachweiterbildung erworben haben. Rechtlich ist allerdings bislang ausschließlich der Intensivmediziner dafür zuständig. Pflegende haben also – trotz Fachweiterbildung – keinen offiziell erweiterten Handlungsspielraum. Dabei übernehmen sie viele Tätigkeiten, die in diesen Bereich fallen, wie zum Beispiel die Anpassung der kreislaufwirksamen Medikamente oder der Sedativa. Während der Pandemie sind sie sogar offiziell dazu befugt, nur – was ist danach? Für diese Aufgaben, die fachweitergebildete Pflegende oft selbstverständlich übernehmen, müssen sie auch rechtliche Sicherheit bekommen.

Wer ist für diese Forderung zuständig?

Das müsste politisch in die Wege geleitet und gesetzlich festgelegt werden. Hier haben wir mit dem Gesetz zur Heilkundeübertragung bereits eine gute Grundlage. Aber natürlich sind auch Berufsverbände und Fachgesellschaften gefordert, indem zum Beispiel Vorbehaltsaufgaben für fachweitergebildetes Personal definiert werden, in Abstimmung mit ärztlichen und pflegerischen Vertretern. Wir als DGF haben bereits eine Arbeitsgruppe damit beauftragt, um zu prüfen: Welche Vorbehaltsaufgaben sollten von fachweitergebildeten Intensivpflegenden übernommen werden?

Die psychosoziale Unterstützung der Pflegenden nimmt im Forderungskatalog ebenfalls einen wichtigen Punkt ein. Warum braucht es mehr Fürsorge für die Mitarbeitenden?

Weil der psychische Druck für die Intensivpflegenden immens ist – das war er schon immer und das hat sich in der Pandemie noch mal verstärkt. Es gibt Intensivstationen, auf denen innerhalb von zehn Tagen 44 COVID-19-Patienten verstorben sind. 44! Und dann haben Pflegende noch nicht mal die Möglichkeit, mit jemandem darüber zu sprechen. Ich habe schon vor 20 Jahren gesagt: Es kann nicht sein, dass in der Psychiatrie die Supervision als fester Bestandteil im Arbeitsprozess etabliert ist – und auf den Intensivstationen nicht. Hier geht es täglich um lebensverlängernde Maßnahmen, um ethische Entscheidungen der Therapiebegrenzung, um den Umgang mit Sterbenden.

Wie kann dieser Belastung professionell begegnet werden?

Indem Supervisionsangebote und Peer-Support-Strukturen etabliert werden. Und wir brauchen gerade bei den Maximalversorgern einen Psychologen auf der Intensivstation, mit dem die Mitarbeitenden über ihre Sorgen, Ängste und Nöte sprechen können. Auch bei ausgewählten Patienten oder bei herausfordernden Angehörigengesprächen könnte man dann im Einzelfall einen Psychologen hinzuziehen.

Die Politik weiß spätestens seit der Pandemie, wie unersetzlich Intensivpflegende für eine hochwertige medizinische Versorgung sind. Spüren Sie eine Bereitschaft der politisch Handelnden, auch etwas an den Bedingungen in der Intensivpflege zu ändern?

Einige Politiker haben den Ernst der Lage mittlerweile verstanden, aber das gilt leider nicht für alle politischen Vertreter. Ein gutes Beispiel ist die Selbstverwaltung der Pflegenden in Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Hier wird deutlich: Pflegende werden weiterhin bevormundet und nicht ernst genommen. Wenn die Landesregierungen die pflege- rischen Belange weiterhin nicht in den Händen der Pflegenden sehen, stellt sich natürlich die Frage: Was traut die Politik den Pflegenden überhaupt zu?

Was wäre aus Ihrer Sicht das dringlichste Anliegen, wenn Sie einen Wunsch beim Bundesgesundheits­minister Jens Spahn frei hätten?

An der Etablierung von Pflegekammern kann er leider nichts ändern, das ist Sache der Länder. Von daher wäre aus meiner Sicht die dringlichste Aufgabe, ein am Pflegebedarf ausgerichtetes Personalbemessungsinstrument zu entwickeln. Und: Er muss diese Aufgabe direkt angehen. Ansonsten wird sich die Situation nicht verändern – sie wird eher schlechter und die Versorgungslage der Bevölkerung auf deutschen Intensivstationen ist gefährdet. Das ist auch die große Befürchtung, die viele Pflegende haben: Irgendwann ist diese Pandemie abgeflaut und alles geht weiter wie vorher – ohne dass sich an Entlohnung, Arbeitsbedingungen oder Handlungsautonomie etwas geändert hat. Genau das wäre fatal. Die nächste Pandemie steht vielleicht schon bald vor der Tür und dann werden wir personell wahrscheinlich noch schlechter aufgestellt sein.

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