Nach einem beispiellosen Arbeitskampf am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) wurde 2023 ein historischer Tarifvertrag geschlossen. Doch wie steht es heute um die versprochene Entlastung für das Pflegepersonal? Wir werfen einen kritischen Blick auf die Umsetzung, die Rolle der PPR 2.0 und was noch getan werden muss, damit echte Entlastung Realität wird.
Es war ein harter Arbeitskampf am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) im Frühjahr 2023. Nachdem ein 100-Tage-Ultimatum verstrichen war, mit dem die Beschäftigten einen Tarifvertrag Entlastung erreichen wollten, setzten sie auf Streiks: Hunderte Beschäftigte protestierten jeden Tag, zogen durch die Stadt und machten ihrem Unmut laut Luft – auch wenn es strömend regnete. Drei Wochen lang dauerte die Auseinandersetzung, bis sich die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) mit dem UKGM auf Eckpunkte für einen Tarifvertrag Entlastung einigte. Es war die erste derartige Vereinbarung an einem kommerziell betriebenen Krankenhaus – die Uniklinik gehört zu 95 Prozent zur Rhön-Klinikum AG, das Land Hessen hält eine 5-Prozent-Beteiligung.

Im Entlastungstarifvertrag (TV-E) sind unter anderem schichtgenaue Personalvorgaben für Stationen und Funktionsbereiche festgeschrieben. Maßgabe ist unter anderem, dass die Pflegepersonalregelung (PPR) 2.0 in jeder Schicht verbindlich ist. Werden Personalvorgaben nicht eingehalten, erhalten die Betroffenen einen Belastungsausgleich, wurde im TV-E festgelegt. Anspruch auf einen Ausgleich haben sie auch dann, wenn es andere belastende Situationen gibt – zum Beispiel durch fachgebietsfremde Einsätze oder tätliche Übergriffe. Für drei belastende Schichten erhalten Beschäftigte einen zusätzlichen freien Tag – wobei maximal 36 belastete Schichten ausgeglichen werden. Zudem wurde vereinbart, mehr als 100 zusätzliche Vollzeitstellen in anderen Bereichen wie Laboren oder bei der Technik zu schaffen.
Doch was ist mehr als zwei Jahre nach der Einigung aus der Vereinbarung geworden? Was kann solch ein Tarifvertrag eigentlich bewirken?
Per Knopfdruck Personalvorgaben prüfen
Eine Herausforderung bei der Umsetzung des TV-E besteht darin, zu ermitteln, ob ausreichend Personal eingesetzt wird. So lässt sich zwar für bestimmte Bereiche leicht feststellen, ob die Personalvorgaben erfüllt werden – etwa auf einer Intensivstation oder in der Anästhesie. "Im Psych-Bereich ist das aber komplexer", sagt Verdi-Gewerkschaftssekretär Fabian Dzewas-Rehm. Denn dort muss überdies geklärt werden, ob die Vorgaben für andere Berufsgruppen eingehalten werden – beispielsweise für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.
Mit dem bisherigen Dienstplanungsprogramm am UKGM lässt sich noch nicht auf Knopfdruck ermitteln, ob die Personalvorgaben eingehalten werden. Automatisiert und flächendeckend soll das erst mithilfe eines neuen Dienstplanungsprogramms möglich sein. Hierfür soll im dritten Quartal dieses Jahres die Pilotphase starten, teilte die UKGM-Pressestelle auf Anfrage von BibliomedPflege mit. "Danach wird das Programm sukzessive ausgerollt."
Entlastungstarifvertrag verschafft freie Tage
Auch wenn das Programm noch nicht im Einsatz ist, hat sich für die Beschäftigten bereits etwas getan. Alle Mitarbeitenden haben für die Erprobungsphase von April 2023 bis April 2024 pauschal Entlastungstage erhalten. Wer in dieser Zeit durchgängig in Vollzeit (38,5 Stunden Wochenarbeitszeit) beschäftigt war, erhielt rund 31 Stunden auf sein Stundenkonto gebucht. Die Beschäftigten konnten dann entscheiden, ob sie dafür freie Tage erhalten oder sich den Gegenwert auszahlen lassen.

Verändert hat sich auch etwas bei der Zahl der Beschäftigten. Die Besetzung habe sich beispielsweise auf Intensivstationen verbessert, so die Einschätzung von Fabian Dzewas-Rehm. Auch in anderen Bereichen gebe es bei der Zahl der Beschäftigten einen "Aufwärtstrend", zum Beispiel bei den Hol- und Bringdiensten. Dennoch: "Es fehlt an allen Ecken und Enden Personal", sagt der Gewerkschaftsfunktionär. Es gelinge daher nicht die PPR 2.0 flächendeckend einzuhalten. Ein Aktionstag im November vergangenen Jahres zeigt schlaglichtartig, wie der Stand der Dinge ist: Laut Verdi waren am Aktionstag im pflegerisch-stationären Bereich lediglich 20 Prozent der Schichten am Standort Gießen Marburg unbelastet. In Gießen waren es demnach 10 bis 15 Prozent.
Entlastungstage nicht das eigentliche Ziel
Das UKGM reklamiert für sich, dass "insbesondere im Bereich des Pflegedienstes" im Vergleich zu 2019 die Zahl der Vollzeitstellen an beiden Standorten des UKGM erhöht wurden. Die Zahl der Patienten liege hingegen noch unter der des Jahres 2019. UKGM-Sprecher Frank Steibli verweist zudem darauf, dass die Kosten infolge der Entlastungstage wieder erwirtschaftet werden müssten. Bei anderen Universitätskliniken würden die jeweiligen Bundesländer Verluste ausgleichen. "Dies ist auch ein Grund, warum wir als UKGM vom Land Hessen fordern, auch in diesem Punkt wieder gleichbehandelt zu werden", so Steibli.
Wenn man ein Zwischenfazit zum Entlastungstarifvertrag ziehen will, so bleibt aus Sicht von Fabian Dzewas-Rehm auf der Habenseite, dass Entlastungstage bewilligt wurden – auch wenn das nicht das eigentliche Ziel sei. "Es geht ja nicht um freie Tage, sondern darum, die Versorgungsqualität zu verbessern und für Entlastung bei der Arbeit zu sorgen."
PPR 2.0 sorgt für Transparenz
Positiv sei zudem, dass sich im Rahmen des Entlastungstarifvertrags zeige, was die PPR 2.0 bewirken könne. Klinik-Geschäftsführer würden immer mal wieder behaupten, Beschäftigte in der Pflege würden den Pflegeaufwand nur subjektiv als zu hoch wahrnehmen, so Dzewas-Rehm. Die PPR 2.0 schaffe nun Transparenz. "Mit dem Instrument lässt sich zeigen, dass der Pflegeaufwand mit dem vorhandenen Personal nicht zu stemmen ist."
Auch trotz des bisher Erreichten sei aber noch ein weiter Weg zu gehen, bis der Entlastungstarifvertrag richtig greife, sagt der Gewerkschaftsfunktionär. Das Dienstplanungsprogramm muss noch eingeführt werden, erst dann kommen die Vereinbarungen zur tatsächlichen Überlastung zum Tragen. Eines sei aber in jedem Fall bereits jetzt ein Erfolg: "Die Krankenhausbeschäftigten haben gesehen, dass sie gemeinsam etwas durchsetzen können."