Angesichts kontinuierlich steigender Zahlen von Menschen mit einem Leistungsanspruch aus der Pflegeversicherung hat der Medizinische Dienst (MD) flexible Begutachtungsformate gefordert. Anders seien die Anträge künftig nicht mehr zeitnah zu bearbeiten, teilte der MD am Donnerstag mit. Über den MD stellen qualifizierte Pflegefachpersonen die Pflegebedürftigkeit eines Versicherten fest und empfehlen einen Pflegegrad.
Telefoninterviews besonders für Höherstufungsanträge geeignet
Erfahrungen aus der Pandemie hätten gezeigt, dass das strukturierte Telefoninterview eine gleichwertige Alternative zum Hausbesuch sein könne. Die Pflegegradverteilung sei bei der Anwendung des strukturierten Telefoninterviews bundesweit stabil geblieben und die Zufriedenheit der Versicherten mit dieser Begutachtungsform sei genauso hoch gewesen wie bei den Hausbesuchen.
Das Telefoninterview eignet sich nach MD-Angaben vor allem bei Höherstufungsanträgen, die in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben: Deren Zahl hat sich zwischen 2016 und 2022 von 0,6 Millionen auf 1,2 Millionen verdoppelt.
PUEG sieht eine Flexibilisierung der Pflegeberutachtung nicht vor
Der Vorstandsvorsitzende des MD Westfalen-Lippe, Martin Rieger, sagte.
"Die Medizinischen Dienste können die persönliche Begutachtung nicht mehr in jedem Fall fristgerecht gewährleisten, wenn nicht gegengesteuert wird."
Die Flexibilisierung ist aus MD-Sicht deshalb auch im Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege umzusetzen.
Ein erster Entwurf des Bundesgesundheitsministeriums für ein Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) enthält zwar Neuregelungen zur Pflegebegutachtung. Allerdings soll diese demnach weiterhin im persönlichen Hausbesuch erfolgen. Telefoninterviews sind nur in Krisensituationen von nationaler oder regionaler Tragweite vorgesehen.
Evaluation läuft
Im Auftrag des MD werden derzeit strukturierte Telefoninterviews unter wissenschaftlicher Begleitung des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld evaluiert, und es werden Kriterien für geeignete Fallkonstellationen ermittelt. Die Ergebnisse sollen im zweiten Quartal 2023 vorliegen, "sodass die Telefoninterviews umgehend eingeführt werden könnten".
Der MD hat während der Pandemie auch Videobegutachtungen in Pflegeeinrichtungen getestet, um deren Potenzial für die Weiterentwicklung der Begutachtungsformate zu eruieren. Die ersten Erfahrungen zeigten, dass sie sehr gut geeignet seien, um ortsungebunden und flexibel qualitativ hochwertige Pflegebegutachtungen vorzunehmen.
Digitalisierung dringend weiter voranbringen
Aktuell laufe eine große Forschungsstudie in Zusammenarbeit mit der Universität Bremen, um Eignung, Güte und Einsatzmöglichkeit der Videobegutachtungen wissenschaftlich zu untersuchen.
Dieses Format will der MD in einem zweiten Schritt Versicherten anbieten. Voraussetzung dafür sei jedoch die Verfügbarkeit von W-LAN – das derzeit weder in Pflegeheimen noch in der ambulanten Versorgung flächendeckend vorhanden sei.