Sollte es eine Neuauflage der Pflegeforschungsagenda aus dem Jahr 2012 geben? Darüber sprachen wir mit dem Professor für klinische Pflegewissenschaft an der Universität zu Köln und dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP), Sascha Köpke.
Herr Professor Köpke, 2012 erschien – gefördert von der Robert Bosch Stiftung – erstmals eine Pflegeforschungsagenda für Deutschland. Die Forschungsaktivitäten in der Pflege blieben dennoch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Warum ist der erhoffte Schub ausgeblieben?
Das stimmt – man hatte sich deutlich mehr versprochen. Im Rahmen der DGP haben wir in einer Arbeitsgruppe analysiert, in welchem Bereich und in welchem Ausmaß Pflegeforschung in Deutschland seit Erscheinen der Agenda gefördert wurde – mit dem Ergebnis, dass die Agenda keinen nachweisbaren Einfluss hatte. Auch der Wissenschaftsrat bescheinigte den Gesundheitsberufen in seinem letzten Gutachten "geringe Forschungsaktivitäten und fehlende Schwerpunktbildung in der Forschung". Die Pflege als mit Abstand größte Profession unter den Gesundheitsberufen war hier besonders angesprochen.
Woran liegt es, dass sich Pflegewissenschaft in Deutschland bislang nicht richtig durchsetzen konnte?
Die Gründe sind vielfältig. Eine wichtige Ursache ist sicher die weiterhin schwache Stellung der Pflegewissenschaft, aber auch der geringe politische Einfluss der Profession Pflege. Pflegewissenschaft ist hierzulande eine relativ kleine Disziplin, die zudem in der Regel keine direkte Anbindung an die Praxis hat. Dies wiederum liegt daran, dass die meisten Pflegewissenschaftler:innen an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften beschäftigt sind, die einen klaren Fokus auf Lehre verfolgen. Es fehlt daher an sogenannter klinischer Pflegeforschung, die Fragen aus der Praxis aufgreift und deren
Ergebnisse einen direkten Einfluss auf die Versorgung haben. Somit ist auch die Akzeptanz der Kolleginnen und Kollegen der direkten pflegerischen Versorgung erschwert. Ein weiterer Grund sind die mangelhaften finanziellen Rahmenbedingungen.
Was genau ist hier mangelhaft?
Die bisherige Forschungsförderung ist fragmentiert und nicht nachhaltig ausgerichtet. Wenn sich Pflegewissenschaft etablieren und weiterentwickeln soll, ist eine strukturelle Förderung nötig – so wie es sie in der Vergangenheit beispielsweise in der Geriatrie und in der Allgemeinmedizin gab. Wichtig wäre auch die Einrichtung von pflegewissenschaftlichen Instituten und Professuren an medizinischen Fakultäten. Darüber hinaus bräuchte es eine gezielte Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, beispielsweise in Form von Mentoring- und Clinician-Scientist-Programmen. Außerdem müssen wir daran arbeiten, dass die Akzeptanz der Pflegewissenschaft sowohl innerhalb der eigenen Profession als auch bei anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen steigt.
Die DGP hatte bereits vor fünf Jahren eine aktualisierte Pflegeforschungsagenda ins Spiel gebracht. Wird daran momentan noch gearbeitet?
Angesichts des mangelnden Einflusses der ersten Forschungsagenda braucht es sicher einen anderen Ansatz. Im Vorstand der DGP diskutieren wir derzeit mögliche Alternativen. Klar ist: Als Profession Pflege müssen wir Forschungsthemen definieren, um nicht anderen Disziplinen die Deutungshoheit zu überlassen. Dabei sollten wir auf Klarheit achten, denn in der Ursprungsagenda waren Themen unspezifisch formuliert und damit schwer umsetzbar. Der breite Ansatz mit einem bunten Strauß an Themen war sicher auch nicht hilfreich. Insofern ist es wichtig, eine neue Pflegeforschungsagenda mit Maßnahmen zur nachhaltigen Implementierung zu flankieren. Denn es nützt nichts, eine Forschungsagenda zu publizieren und darauf zu hoffen, dass sie sich von allein herumspricht, um es etwas polemisch zu formulieren. Wir müssen zudem dringend an den Faktoren arbeiten, die die Entwicklung der Pflegewissenschaft bremsen, wie fehlende pflegewissenschaftliche Institute und Forschungsgruppen, fehlende Professuren, fehlende spezifische und langfristige Förderprogramme.
Sie haben den Wissenschaftsrat angesprochen, der die zu geringen Forschungsaktivitäten in den Gesundheitsberufen bemängelt. Die Notwendig von
Pflegeforschung scheint also auch außerhalb der eigenen Berufsgruppe erkannt zu sein. Gleichzeitig zeigen sich mit Blick auf Vallendar und Bielefeld rückläufige Tendenzen. Welche Prognose haben Sie für die Entwicklung der Pflegewissenschaft in den kommenden Jahren?
In der Tat sind gegensätzliche Entwicklungen erkennbar, aber die Notwendigkeit von Pflegewissenschaft und -forschung hat inzwischen deutlich mehr Gewicht erhalten – sowohl innerhalb der Profession als auch bei den Entscheidungsträger:innen. Auch in der Pflegepraxis scheint mir durch die zwar langsame, aber stetige Implementierung akademischer Rollen der Bedarf an und das Verständnis für klinische Pflegeforschung und somit für Pflegewissenschaft zuzunehmen. Das zu erwartende Pflegekompetenzgesetz wird meines Erachtens hier ein wichtiger Meilenstein sein. Vor allem kommt es aber auf die Berufsgruppe selbst an. Die Profession Pflege muss als wissenschaftliche Bezugsdisziplin stärker in Erscheinung treten und sich untereinander besser vernetzen. Nur so können wir mit einer starken Stimme sprechen und die Bedeutung von Pflegewissenschaft und -forschung klar herausstellen.