Sind Intensivpatienten immobil bis bewegungsunfähig, drohen Folgekomplikationen – von Funktionseinbußen bis zur erworbenen Muskelschwäche. Das passive Bewegen als physiotherapeutische Maßnahme kann die Bewegungsfunktionen von Patienten erhalten. Es trägt dazu bei, Kontrakturen zu vermeiden, und wirkt sich auf den ganzen Organismus aus.
Beim „passiven Bewegen“ wurde lange Zeit an das „passive Durchbewegen der Gelenke“ gedacht. Das Ziel lautete, die Beweglichkeit der Gelenkstrukturen zu erhalten und damit Kontrakturen von Intensivpatientinnen und -patienten (im Folgenden: Intensivpatienten) vorzubeugen. Die Methode wird schon seit Jahrzehnten als physiotherapeutische Maßnahme nahezu pauschal verordnet. Jedoch gehen die Ziele des passiven Bewegens heute weit über die Kontrakturprophylaxe hinaus. Es geht vielmehr darum, frühzeitig physiologische Bewegungsmuster anzubahnen und damit positive Effekte auf unterschiedliche Organsysteme zu erzielen.
In die Eigenständigkeit bringen
Das passive Bewegen als physiotherapeutische Maßnahme wird vor allem bei sedierten Intensivpatienten angewendet, die sich nicht eigenständig bewegen können. Durch eine längerfristige Immobilität kann es zu Funktionseinschränkungen, Kontrakturen, Schmerzen und Entzündungsreaktionen kommen, bis hin zum Delir. Eine besonders schwerwiegende Komplikation ist die ICU-AW, eine auf der Intensivstation erworbene Muskelschwäche (Intensive Care Unit Acquired Weakness), die mit massivem Muskelschwund einhergeht.
Rund 80 Prozent aller septischen Patienten können von einer ICU-AW betroffen sein [1]. Damit gehen viele funktionelle Fähigkeiten verloren, zum Beispiel bestimmte Bewegungen auszuführen. Diese Defizite sind später nicht oder nur sehr schwer aufholbar.
Das passive Bewegen kann helfen, die Bewegungsfunktionen der Intensivpatienten zu erhalten, und damit die physiologischen Stoffwechselprozesse und Organfunktionen unterstützen. Bewegungen der Extremitäten wirken immer über das Gelenk hinaus. Eine Bewegung der Arme hat zum Beispiel einen Einfluss auf die Thoraxbeweglichkeit und die Atemfunktion. Das Bewegen der Beine wirkt sich über das Becken auf den Thorax aus. Darüber hinaus haben Bewegungen – ob aktiv oder passiv – einen positiven Effekt auf die Durchblutung und Stoffwechselprozesse.
Das vorrangige Ziel des passiven Bewegens ist es, körperliche Defizite durch eine Immobilität zu vermeiden und eine ICU-AW zu verhindern [2]. Je besser die Beweglichkeit und damit die Körperfunktionen gefördert werden, desto besser sind das Outcome und die langfristige Perspektive der Betroffenen. Es geht darum, die Intensivpatienten wieder in die Eigenständigkeit zu bringen und eine nachfolgende Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.
Dabei ist es weiterhin wichtig, Kontrakturen zu verhindern. Diese zeichnen sich durch eine Gelenksteife aus, die die Beweglichkeit der Gelenke einschränkt. Kontrakturen können bei Menschen mit Immobilität auftreten, zum Beispiel bei Schlaganfall, Rückenmarksverletzungen und Zerebralparese, und zu weiteren Komplikationen wie Schmerzen, Dekubitus und Deformitäten führen. Ziel des passiven Bewegens ist es in dieser Hinsicht, eine Schmerzlinderung zu erreichen und dafür zu sorgen, dass es zu keiner Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit kommt. Dieses Ziel integriert sich in das übergeordnete Ziel der Vermeidung einer ICU-AW.
Bekannte Bewegungsmuster nutzen
Beim passiven Bewegen führt die Physiotherapeutin bekannte Bewegungsmuster am sedierten Intensivpatienten durch. Hierbei wird auf die physiotherapeutische Methode „PNF“, die propriozeptive neuro-muskuläre Fazilitation, zurückgegriffen [3]. Diese Methode fördert das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln. Der Mensch agiert in Bewegungsmustern, nicht in einzelnen Muskelaktivitäten. Vertraute Bewegungsmuster werden erkannt, dadurch lassen sich Reserven der Patienten aktivieren und Bewegungen ansteuern.
Im Alltag entsteht eine Bewegung nicht durch eine isolierte Muskelansteuerung, sondern aus zusammengesetzten Bewegungen. Deshalb sollten beim passiven Bewegen keine selektiven Bewegungen durchgeführt werden, indem zum Beispiel erst die Finger, dann das Handgelenk und danach die Ellenbogen bewegt werden. Anzustreben ist eine dynamische Bewegung im Funktionsverbund der Muskelgruppe. Diese ist bestenfalls orientiert an Bewegungen aus dem Alltag. An den oberen Extremitäten können zum Beispiel Bewegungen durchgeführt werden, wie Haare kämmen oder einen Löffel zum Mund führen. An der unteren Extremität können es Schreitbewegungen oder das Fahrradfahren sein. Physiotherapeuten kennen diese Bewegungen aus dem PNF-Programm als definierte Bewegungsmuster.
Bewegungen sollten dabei niemals bis zum Bewegungsende gehen, sondern immer im geschmeidigen Bewegungsumfang verbleiben. Kommt es zur Überdehnung, besteht die Gefahr von Luxationen, Gelenkeinrissen und anderen Schädigungen. Auch muss die Kreislaufsituation während des passiven Bewegens sehr gut überwacht werden.
Diagnostik und Therapie gehen beim passiven Bewegen Hand in Hand. Ergreift die Physiotherapeutin zum Beispiel mit ihrer rechten Hand die Hand des Patienten, erhält sie einen ersten Eindruck von der Hauttemperatur und -beschaffenheit. Greift sie mit ihrer linken Hand unter den Ellenbogen des Patienten und bringt diesen in eine Beugefunktion, kann sie erkennen, wie gut sich das Gelenk bewegen lässt oder ob schon eine Versteifung zu erkennen ist. Dann kann sie versuchen, die Hand des Patienten zum Kopf zu führen, und bekommt weitere diagnostische Hinweise.
Grundsätzlich ist das passive Bewegen für die meisten sedierten Intensivpatienten indiziert, allerdings sollte es an die individuelle Patientensituation angepasst werden. Lediglich in instabilen Situationen sollten die Vorteile gegenüber den Nachteilen abgewogen werden. Bei erhöhtem Hirndruck kann zum Beispiel ein Minimal Handling indiziert sein, und Bewegungen – auch passive – sollten vermieden werden.
Das aktive Bewegen kommt erst zum Einsatz, wenn die Intensivpatienten ihre Muskeln wieder selbst aktivieren können [2]. Im Gegensatz zum passiven Bewegen führen die Patienten das aktive Bewegen eigenständig aus, die Physiotherapeutin gibt lediglich die Bewegung vor.
Passives Bewegen durch Pflegende?
Viele Jahre galt das passive Bewegen durch Pflegende als Standardmaßnahme der Kontrakturprophylaxe. Mittlerweile spricht die Studienlage eher dagegen [4]. Die Lagerung-in-Neutralposition-(LiN-)Therapie zeigt heute auf, dass es auf die reizneutrale Lagerung ankommt. Diese bewirkt, dass es in der gelagerten Position nicht zu Dehnreizen kommt, die ansonsten Schmerzen verursachen und eine Reaktion einleiten würden, mit der Aufforderung: Positioniere dich neu. Das Gehirn gibt ein Signal, dem Schmerz entgegenzuwirken, mit der Bewegungsaufforderung, sich aus der Situation herauszubewegen. Dies ist beim atrophierten Muskel oder beim sedierten Intensivpatienten nicht aktiv möglich, das Schutzsignal bleibt ohne Antwort. Aus diesem Prozess entsteht nach heutigen Erkenntnissen eine Kontraktur [5]. Die Kontrakturprophylaxe, wie sie teilweise noch in Lehrbüchern empfohlen wird, ist somit nicht mehr zeitgemäß und sollte nicht standardmäßig erfolgen.
Trotzdem haben alle pflegerischen Maßnahmen am Intensivpatienten natürlich einen wesentlichen Einfluss auf die Bewegungsfunktionen – ob beim Positionieren, im Rahmen der Körperpflege oder beim Mobilisieren. Sie sorgen für eine kontinuierliche funktionelle Bewegung, die der Patient dringend braucht.
Bei jeder pflegerischen Handlung sollten Pflegende darauf achten, die Intensivpatienten so gut wie möglich in die damit verbundenen Bewegungen einzubeziehen. Das heißt, die Pflegeperson führt die Bewegungen nicht allein durch, sondern nutzt die Ressourcen des Patienten so gut wie möglich und führt zum Beispiel die Hand des Patienten beim Waschen des Gesichts mit. Wird der Patient neu positioniert, sollten die Pflegenden ebenfalls eine physiologische Bewegungsanbahnung im Blick haben. Dabei gilt es, die Extremitäten vorsichtig zu bewegen, bis diese in einer neuen Positionierung die Endposition finden.
Ob ein zusätzliches passives Bewegen durch Pflegende erfolgen sollte, ist infrage zu stellen. Jede Berufsgruppe hat eigene Arbeitsbereiche, die sie eigenverantwortlich übernimmt. Diese sind zwar variierbar, das sollte aber im Team besprochen werden. Nur so können therapeutische und pflegerische Konzepte wirkungsvoll und in interprofessioneller Absprache eingesetzt werden, sodass die Patienten davon bestmöglich profitieren.
Beim passiven Bewegen können ebenfalls Risiken auftreten, zum Beispiel, wenn die Pflegenden oder die Physiotherapeuten die individuellen Grenzen der Beweglichkeit missachten. In der Phase, in der die Intensivpatienten rein passiv bewegt werden, müssen diese Grenzen unter Berücksichtigung von möglichen Vorschädigungen der Gelenke betrachtet und bewertet werden.
Intensivpatienten profitieren
Im Gegensatz zur pharmakologischen Therapie führt die passive Bewegung zu positiven Effekten des gesamten Organismus – und das ohne medikamentöse Nebenwirkungen. Studien kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Arbeitsgruppe um Weber-Carstens an der Charité, Berlin, setzt sich in verschiedenen Studien intensiv mit dem Thema Critical Illness Myopathie (CIM) und ICU-AW bei Intensivpatienten auseinander [6]. In den Studien ist ersichtlich, dass eine Aktivierung von Muskelkontraktionen über physiotherapeutische Maßnahmen dazu beiträgt, den Transport von Glukose in die Muskelzellen aufrechtzuerhalten und damit zu einem Muskelerhalt beizutragen. Noch lässt sich nicht sagen, wie häufig diese Maßnahmen notwendig sind, um gute Effekte zu erzielen.
Das passive Bewegen ist als ein wesentlicher Baustein im Gesamtkonzept der Frühmobilisation zu sehen, um Intensivpatienten wieder in die Bewegung und Eigenständigkeit zu bringen. Voraussetzung für dieses Behandlungskonzept ist die ärztliche Verordnung mit Vorgaben, ggf. von Kontraindikationen oder Belastungsstabilitäten. Ein wichtiger Baustein im Zusammenhang mit der Mobilisation ist zudem eine zielorientierte Sedierungstherapie, um einen möglichst wachen und kooperativen Patienten zu haben. Aktivieren, mobilisieren und sedierungsfreie Kliniken sind hier die entscheidenden Schlagworte für eine moderne, evidenzbasierte und effektive Therapie.
[1] Clavet H, Hébert PC, Fergusson D, Doucette S, Trudel G. Joint contracture following prolonged stay in intensive care unit. 2008; 178 (6): 691–697. DOI: htpps://doi.org/10.1503/cmaj.071056
[2] Saal S, Beutner K, Bogunski J et al. Interventions for the prevention and treatment of disability due to acquired joint contractures in older people: a systematic review. Age and Ageing 2017, 46 (3): 373–382
[3] Hedin S. PNF – Grundverfahren und funktionelles Training. 2. Aufl., München: Urban & Fischer; 2002
[4] Prabhu RKR, Swaminathan N, Harvey LA. Eine systematisches Cochrane-Review – Passive Bewegungen zur Behandlung und Vorbeugung von Kontrakturen“; 2013. Im Internet: www.cochrane.org/de/CD009331/INJ_passive-bewegungen-zur-behandlung-und-vorbeugung-von-kontrakturen; Zugriff: 12.01.2022
[5] Ludwig V, Pickenbrock H, Döppner D. Förderfaktoren und Barrieren bei der Anwendung von LiN – Lagerung in Neutralstellung in der klinischen Praxis: Eine Längsschnittuntersuchung. Neurol Rehabil 2021; 27 (S2): S21–04: S11
[6] Weber-Carstens S, AG CIP/CIM Charité. WissenschaftlerInnen erklären ihre Publikation – Muskelschwäche und Zuckerstoffwechsel bei CIM. Im Internet: anaesthesieintensivmedizin.charite.de forschung/arbeitsgruppen/cipcim/#c29582; Zugriff: 12.01.2022