• News
Pflegeberuf im Wandel

Generalistik, Digitalisierung, Akademisierung: Wie Pflege zukunftsfähig wird

Der Pflegeberuf befindet sich im Umbruch: Warum die Generalistik an Grenzen stößt, digitale Kompetenzen fehlen und akademisierte Rollenprofile überfällig sind.

Der Pflegeberuf befindet sich im Umbruch. Torsten Rantzsch, Vorstandsvorsitzender des Verbands der Pflegedirektorinnen und Pflegedirektoren der Universitätskliniken und Medizinischen Hochschulen Deutschlands, und Matthias Wokittel, Mitglied der Geschäftsleitung des Beratungsunternehmens FuturaMed, beschreiben, warum die Generalistik an Grenzen stößt, digitale Kompetenzen fehlen und akademisierte Rollenprofile überfällig sind. Gleichzeitig zeigen sie auf, an welchen Stellschrauben anzusetzen ist, um die Pflege zukunftsfähig zu machen.

Der Pflegeberuf in Deutschland befindet sich in einer Phase grundlegender Transformation. Im Spannungsfeld aus demografischem Wandel, wachsendem Fachkräftemangel, fortschreitender Ambulantisierung und digitalisierter Versorgungsrealität wird deutlich: Der bisherige Ordnungsrahmen genügt den Herausforderungen nicht mehr. Gefragt sind neue Rollenbilder, moderne Ausbildungswege und international anschlussfähige Qualifikationen. Die Einführung der generalistischen Pflegeausbildung zum 1. Januar 2020 sollte hierfür ein zentraler Hebel sein. Doch fünf Jahre später zeigt sich ein gemischtes Bild: konzeptionell stark, praktisch fragmentiert, unterfinanziert und organisatorisch überfordert.

Generalistik befördert unbeabsichtigt eine neue Wettbewerbsdynamik

Die Grundidee der Generalistik war ambitioniert: eine einheitliche Pflegeausbildung, die Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sowie Altenpflege integriert. Ziel war es, Pflege als integralen Bestandteil eines sektorenübergreifenden Versorgungskonzepts zu stärken. Doch die Umsetzung zeigt Reibungsverluste: Die einheitliche Ausbildung trifft auf fragmentierte Versorgungslogiken und divergierende kulturelle Identitäten. Besonders kleinere Einrichtungen berichten von Schwierigkeiten bei der Implementierung. Die strukturellen Voraussetzungen für eine flächendeckende, hochwertige Ausbildung wurden vielerorts nicht geschaffen.

Bereiche wie Intensivpflege, OP oder Notaufnahme erscheinen attraktiver – technisch modern und medizinisch komplex. Stationäre Altenpflege oder psychiatrische Langzeitpflege hingegen kämpfen um Nachwuchs. Die Generalistik hat unbeabsichtigt eine neue Wettbewerbsdynamik befördert, obwohl sie als Brücke zwischen den Feldern gedacht war.

Digitalisierung als Chance – und Baustelle

Obwohl sich der Pflegealltag rasant verändert – durch elektronische Dokumentation, Telemonitoring, Robotik und KI-basierte Assistenzsysteme – ist die digitale Pflegebildung kaum systematisch verankert. Ausbildungszentren verfügen oft weder über technische Infrastruktur noch über didaktisch reflektierte Curricula. Simulationszentren oder KI-gestützte Trainingssysteme sind die Ausnahme. Es fehlt eine koordinierte nationale Strategie zur Digitalisierung der Pflegebildung, flankiert von Investitionen in Hard- und Software sowie medienpädagogisches Know-how.

Einzelne Projekte zeigen, was möglich wäre: Das Cluster Zukunft der Pflege entwickelt Pflegetechnologien unter realen Bedingungen. KIADEKU nutzt KI zur sicheren Wunddiagnostik. KI(4)SS setzt auf intelligente Sensorik zur postoperativen Überwachung. Doch diese Ansätze bleiben punktuell – eine flächendeckende Implementierung fehlt bislang.

Akademisierung: Potenzial ohne Struktur

Eng verbunden mit diesen Themen ist die Diskussion um die Akademisierung der Pflege. Im internationalen Vergleich fällt Deutschland hier deutlich zurück. Während in Ländern wie Kanada, Schweden oder den Niederlanden akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen komplexe Aufgaben in Diagnostik, Case Management und Therapieplanung übernehmen (häufig als Advanced Practice Nurses, kurz APN bezeichnet), bleibt die Rolle akademischer Pflege in Deutschland unklar. Zwar existieren inzwischen primärqualifizierende Bachelorstudiengänge, diese jedoch fristen ein Nischendasein. Um ihr Potenzial gezielt zu erschließen, bedarf es spezifischer beruflicher Einstiegsprofile für Bachelorabsolventinnen und -absolventen, die sich klar von klassischen Ausbildungsprofilen unterscheiden. Diese Profile sollten klar definierte Aufgabenbereiche umfassen und eng mit der praktischen Pflege verknüpft sein. Nur so können die zusätzlichen Kompetenzen als praxisnah, unterstützend und teamfördernd wahrgenommen werden. Zugleich muss sichergestellt sein, dass diese Rollen anschlussfähig für weiterführende Qualifikationen auf Master- und Promotionsebene sind.

Die Absolventenzahlen sind gering, die Anbindung an Versorgungseinrichtungen lückenhaft, tarifliche Eingruppierungen unzureichend. Eine flächendeckende Integration akademisch qualifizierter Pflegefachpersonen in multiprofessionelle Teams findet kaum statt – weder strukturell noch kulturell. Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, braucht es verbindliche und rechtssichere Regelungen für erweiterte Pflegekompetenzen – etwa durch eine konsequente Anwendung von § 14 Pflegeberufegesetz, länderspezifische Weiterbildungsordnungen oder sektorenübergreifende Modellprojekte nach § 64 SGB V. Sie könnten die Brücke schlagen zwischen hochschulischer Qualifikation und realer Versorgungspraxis und die bislang unterentwickelten Karrierepfade für Pflegefachpersonen systematisch institutionalisieren.

Die Definition neuer Rollenprofile darf sich nicht allein auf strukturelle Fragen konzentrieren, sondern muss sich an den Anforderungen einer zunehmend komplexen Versorgung orientieren. Dabei ist akademische Pflege kein Selbstzweck, sondern notwendig, um Pflegefachpersonen auf Aufgaben in Versorgungskoordination, Prävention, Beratung, Qualitätsmanagement und evidenzbasierter Praxis vorzubereiten. Gerade im Kontext komplexer Multimorbidität, sektorenübergreifender Patientenpfade und dem Anspruch qualitätsgesicherter Versorgung braucht es Pflegefachpersonen mit vertieftem wissenschaftlichem Verständnis und erweiterter Handlungskompetenz. Die Entwicklung neuer Rollenprofile – etwa in der Geriatrie, Onkologie oder Palliativpflege – muss eng mit akademischer Qualifikation verzahnt sein. Dazu sind klare berufsrechtliche Rahmenbedingungen, Vergütungsmodelle und institutionalisierte Karrierepfade erforderlich – doch diese sind bislang weitgehend ungeklärt. Deshalb bedarf es ergänzend zum Pflegekompetenzgesetz eines eigenständigen Gesetzgebungsverfahrens zur Schaffung neuer Berufsbilder auf Masterniveau. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat hierzu bereits ein Pflege- und Gesundheitsexperten-Einführungsgesetz angekündigt, mit dem ein bundesweit einheitlicher Pflegeberuf auf Masterniveau eingeführt und heilkundliche Befugnisse geregelt werden sollen.

Internationale Anschlussfähigkeit und Zuwanderung

Auch die internationale Dimension darf nicht unterschätzt werden. Angesichts des globalen Wettbewerbs um Pflegefachpersonen ist es entscheidend, dass deutsche Pflegeabschlüsse international anerkannt und anschlussfähig sind. Wer auf qualifizierte Zuwanderung setzt, muss im Gegenzug transparente Qualifikationsprofile, integrative Anerkennungsverfahren und langfristige Entwicklungsperspektiven bieten. Programme wie das "ePflegebericht"-Verfahren in Bayern sind ein guter Anfang: Sie beschleunigen die Anerkennung ausländischer Abschlüsse durch digitale Prozesse. Doch auch hier braucht es begleitende Maßnahmen: gezielte Sprachförderung, berufsfachliche Nachqualifizierung und ein integratives Arbeitsumfeld, das über reine Arbeitsplatzbesetzung hinausgeht.

Pflegeprofession im KHVVG: Mitdenken reicht nicht

Im Kontext des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG), das derzeit die politischen und strukturellen Debatten im Gesundheitssystem prägt, gewinnt die Diskussion um die Zukunft der Pflege nochmals an Dringlichkeit. Die Reform zielt auf eine bedarfsorientierte, qualitätsgesicherte und sektorengerechte Versorgung. Ohne eine starke, gut qualifizierte und professionell integrierte Pflege ist dies nicht realisierbar. Pflegefachpersonen werden nicht nur als Ausführende am Patientenbett benötigt, sondern auch als koordinierende, steuernde und beratende Akteure – etwa im Entlassmanagement, bei sektorenübergreifender Versorgung, im Qualitätsmanagement und in der Anwendung digitaler Systeme. Dafür braucht es neue Rollenbilder mit klar definierten Kompetenzen, eine geregelte Vergütung erweiterter pflegerischer Tätigkeiten und einen rechtssicheren Ordnungsrahmen für APN, orientiert an internationalen Standards, aber realitätsnah adaptiert an die deutsche Versorgungslandschaft.

Pflege muss – insbesondere im Zuge von Ambulantisierung und Zentralisierung – als verbindendes Element zwischen den Sektoren gedacht werden. Sie kann helfen, Versorgungslücken zu schließen, Schnittstellen zu überbrücken und Versorgung ressourcenschonend zu koordinieren. Dabei geht es nicht nur um Fachlichkeit, sondern auch um Haltung: Pflege verbindet technische Exzellenz mit menschlicher Zuwendung, evidenzbasierte Entscheidung mit empathischer Begleitung. Diese doppelte Kompetenz verdient nicht nur Anerkennung, sondern erfordert einen klar definierten Platz im System.

Die Zukunft der Pflege entscheidet über die Zukunft des Gesundheitssystems. Qualifizierung, Akademisierung und Digitalisierung sind dabei keine isolierten Einzelthemen, sondern bilden das strategische Fundament eines modernen, resilienten Versorgungssystems. Die Einführung der generalistischen Pflegeausbildung war ein wichtiger Schritt in Richtung sektorübergreifender Kompetenzen und internationaler Anschlussfähigkeit. Jedoch reicht dieser Schritt allein nicht aus. Es bedarf einer praxisnahen Weiterentwicklung, die nicht nur auf strukturelle Vereinheitlichung zielt, sondern auch die differenzierten Bedarfe der Versorgungsrealität abbildet. Entscheidend ist, dass die Generalistik nicht auf dem Papier modern ist, sondern auch im Alltag funktioniert: durch bessere Ausstattung der Ausbildungseinrichtungen, ausreichende Anleitungskapazitäten, stabile Kooperationen zwischen Praxis und Schule sowie eine verlässliche Refinanzierung.

Dabei darf Pflege nicht länger als bloßer Kostenfaktor betrachtet werden. Zwar ist sie im Pflegebudget der Krankenhäuser als eigenständiger Bereich verankert und damit formal von ökonomischen Kürzungslogiken abgekoppelt. Doch Investitionen in Weiterentwicklung – etwa in akademische Laufbahnen, digitale Kompetenzen oder neue Rollenprofile – werden bislang nicht adäquat berücksichtigt. Die nicht angemessene Einordnung bleibt somit ein zentrales Hindernis – nicht nur für die Attraktivität des Berufs, sondern auch für seine strategische Wirkung im System.

Digitalisierung als Strukturvoraussetzung

Zugleich ist Digitalisierung nicht nur ein technologischer Modernisierungsschub, sondern eine zentrale Strukturvoraussetzung für die Zukunft der Pflege. Elektronische Dokumentation, Telemonitoring, KI-gestützte Systeme und simulationsbasierte Ausbildungsformate eröffnen nicht nur Effizienzgewinne, sondern verbessern auch die Qualität und die Koordination der Versorgung. Perspektivisch werden digitale Werkzeuge zur Grundlage für eine präzisere Pflegeplanung, zum Beispiel durch die Einführung der PPR 2.0 oder den Einsatz von digitalen Skills-Matching-Systemen. Umso dringlicher ist es, digitale Kompetenzen systematisch zu berücksichtigen – sowohl in der Ausbildung als auch in der Fort- und Weiterbildung des Pflegepersonals.

Diese Transformation lässt sich nicht ohne politische Rückendeckung gestalten. Soll das KHVVG seinem Anspruch gerecht werden, die Versorgung zukunftssicher und qualitätsorientiert auszurichten, muss die Pflegeprofession nicht nur mitgedacht, sondern strukturell und konzeptionell zentral verankert werden. Die Pflegeprofession ist nicht lediglich eine mitwirkende Instanz am Patientenbett, sondern ein eigenständiger, qualitätsrelevanter Gestaltungsfaktor der Versorgungsrealität. Gerade im Kontext der geplanten Leistungsgruppen muss sie explizit berücksichtigt werden – etwa hinsichtlich Komplexitätsanforderungen, Mindestvorhaltungen und Schnittstellenkompetenz zwischen stationären und ambulanten Sektoren.

Fazit: Pflege kann mehr – wenn man sie lässt

Pflege kann mehr: Sie verbindet technische Innovation mit menschlicher Nähe, überwindet Sektorengrenzen und schafft Struktur dort, wo Fragmentierung den Alltag prägt. Damit sie diese Rolle ausfüllen kann, braucht sie verlässliche Ordnungsrahmen, tariflich abgesicherte Laufbahnen, digitale Infrastruktur und politische Sichtbarkeit. Die Generalistik ist ein Anfang – aber sie darf nicht das Ende der Entwicklung sein. Nur wenn Akademisierung, Digitalisierung und neue Rollenbilder miteinander verschränkt werden, kann der Pflegeberuf seine systemrelevante Rolle nicht nur behaupten, sondern weiterentwickeln. Denn Pflege ist nicht nur systemrelevant – sie ist existenzrelevant.

 

Literatur

Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) Pflegeberufegesetz (11.04.2024). Im Internet: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/pflegeberufegesetz.html. (Zugriff: 21. Juli 2025)
Denninger, N.-E., Ries, K. S., & Jux, C. Faktoren bei der Implementierung von APNs in Krankenhäusern im deutschsprachigen Raum: ein Scoping Review. Pflege & Gesellschaft 2023, 28(4): 352-367. Im Internet: https://www.researchgate.net/publication/375888584_Faktoren_bei_der_Implementierung_von_APNs_in_Krankenhausern_im_deutschsprachigen_Raum_Ein_Scoping_Review (Zugriff: 22. Juli 2025)
Heeser, A. Die neuen Alleskönner in der Pflege (22.11.2024)
Millich, N. Sorge um "dramatische" Abbrecherquoten (15.12.2023). Im Internet: Pflegeausbildung - Sorge um "dramatische" Abbrecherquoten; Zugriff: 22.07.2025
Millich, N. Reizthema Generalistik (11.04.2024). Im Internet: Diskussion - Reizthema Generalistik; Zugriff: 21.07.2025
Ordóñez‐Piedra, J., Ponce‐Blandón, J. A., Robles‐Romero, J. M., Gómez‐Salgado, J., Jiménez‐Picón, N., & Romero‐Martín, M. Effectiveness of the Advanced Practice Nursing interventions in the patient with heart failure: A systematic review. Nursing open 2021, 8(4), 1879-1891. Im Internet: pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8186677/pdf/NOP2-8-1879.pdf, Zugriff: 22. Juli 2025
Reiber, K., Reuschenbach, B., Wochnik, M., Großmann, D., Olden, D., Tsarouha, E., Krause-Zenß, A., Greißl, K. & Schatt, V. Veränderungen in Pflegeberuf und Pflegeausbildung – Intentionen und Effekte der Reform aus Sicht der Begleitforschung. Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online 2023, (45), 1-19. Im Internet: www.bwpat.de/ausgabe45/reiber_etal_bwpat45.pdf, Zugriff: 22. Juli 2025
Schubert, M., Herrmann, L. & Spichiger, E. Akademisierung der Pflege–Evidenz und Wirksamkeitsforschung. In: Simon, A. (Hrsg.) Akademisch ausgebildetes Pflegefachpersonal: Entwicklung und Chancen. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer; 2017: 85-100

Kostenloser Newsletter

  • 2x Wöchentlich News erhalten
  • garantiert kostenlos, informativ und kompakt
* Ich stimme den Bedingungen für den Newsletterversand zu. 

Bedingungen für Newsletterversand:

Durch Angabe meiner E-Mail-Adresse und Anklicken des Buttons „Anmelden“ erkläre ich mich damit einverstanden, dass der Bibliomed-Verlag mir regelmäßig pflegerelevante News aus Politik, Wissenschaft und Praxis zusendet. Dieser Newsletter kann werbliche Informationen beinhalten. Die E-Mail-Adressen werden nicht an Dritte weitergegeben. Meine Einwilligung kann ich jederzeit per Mail an info@bibliomed.de gegenüber dem Bibliomed-Verlag widerrufen.