Eine grundlegende Finanzreform und eine konzeptionelle Neuordnung der Altenpflege – diese Gesamtversion einer neuen Pflegewelt hat in dieser Woche der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang vorgestellt. In seinem Gutachten zeigt er eine "Pflegewelt ohne Sektoren" und beschreibt ein System, das nach "Wohnen" und "Pflegen" organisiert ist.
Zwar würden Pflegebedürftige weiterhin vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung begutachtet werden. Doch statt wie bisher über Pflegegrade abgerechnet, würde für jede Pflegebedürftige und jeden Pflegebedürftigen ein individuelles Pflegebudget nach ihren bzw. seinen Bedarfen errechnet werden.
Case- und Care-Manager sollen Pflegebedürftige beraten, welche Leistungen und Module in Anspruch genommen werden können.
Finanzierung über Sockel-Spitze-Tausch
Mit einem sog. Sockel-Spitze-Tausch soll dafür gesorgt werden, dass die Pflegekasse die Pflegekosten vollständig trägt und dem Versicherten einen fixen, begrenzten Eigenanteil berechnet.
Derzeit zahlt die Pflegeversicherung Pflegebedürftigen einen Sockelbetrag, den Rest müssen die Pflegebedürftigen selbst tragen. Allein für den Pflegeanteil in einem Heim müssen sie aktuell durchschnittlich mehr als 600 Euro monatlich aus eigener Tasche zahlen. Werden auch Unterbringung und Verpflegung eingerechnet, summieren sich die Kosten auf mehr als 1.800 Euro.
Das Szenario im Gutachten sieht vor, dass alle Pflegebedürftigen einen Sockelbetrag von 471 Euro zahlen. Unabhängig davon, ob jemand im Heim oder zu Hause wohnt, übernimmt die Pflegeversicherung Grundpflege und Betreuung, die Krankenkasse Behandlungspflege und Rehabilitation.
Rothgang präsentiert aber auch Finanzierungsmodelle über die Pflegevollversicherung sowie die Pflegebürgerversicherung und bietet damit je nach politischer Ausrichtung finanzierbare Handlungsoptionen.
Chance zur Reform nutzen
"Nun ist es Aufgabe der Wissenschaft, diesen Vorschlag zu validieren und die Module mit Zielen der pflegerischen Interventionen zu hinterlegen", kommentierte der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege, Bodo de Vries, das Gutachten. Es biete eine gute Grundlage für die notwendigen nächsten Schritte.
Die "beinahe revolutionären Lösungsvorschläge" bärgen viel Sprengstoff, hieß es seitens des Arbeitgeberverbands Pflege. Die Politik sollte davon aufgerüttelt werden, denn ein "Weiterwursteln" in der Pflege wie gehabt führe "schnurstracks zu einem Desaster".
Dass eine grundlegende Finanz- und Strukturreform der Pflegeversicherung möglich und finanzierbar ist, hatte Rothgang bereits 2017 in einem ersten Gutachten gezeigt. Das aktuelle zweite Gutachten beschreibt nun die Umsetzung. Beide Gutachten sind im Auftrag der Initiative Pro-Pflegereform erstellt worden. Die Initiative hat sich Ende 2016 gegründet und setzt sich aus über 120 Trägern, Organisationen und Verbänden mit insgesamt mehr als 1.000 Pflegeeinrichtungen und ambulanten Diensten zusammen.