Ferien – das ist für die meisten Kinder ein Grund zur Freude. Auch viele Eltern können in dieser Zeit die Dinge ein bisschen lockerer angehen. Für Familien mit geistig behinderten Kindern kann das ganz anders aussehen. Insbesondere in ländlichen Gebieten fehlen geeignete Angebote.
Wenn Hannah etwas möchte, nimmt sie ihre Mutter an die Hand und zeigt es ihr. Beispielsweise, wenn sie schaukeln will. Sprechen kann sie nicht. Das Mädchen ist zwölf Jahre alt. Aber es ist klein und zierlich, mit 110 Zentimetern und 17 Kilogramm körperlich nur etwa so weit entwickelt wie gesunde Fünfjährige. Hannah leidet am Cornelia de Lange-Syndrom, einer, nach einer holländischen Kinderärztin benannten, seltenen Erbkrankheit, die mit verschiedenen Fehlbildungen und meist geistiger Beeinträchtigung einhergeht.
Damit sie sich ihren Fähigkeiten entsprechend entwickeln kann, braucht sie besondere Unterstützung. Morgens geht sie in eine Förderschule, dort gibt es eigens für sie eine Integrationskraft, kurz: „I-Kraft“. Nachmittags stehen Ergo-, Logo- oder Physiotherapie auf dem Programm. Hannah wohnt zusammen mit ihren Eltern in einem ländlichen Gebiet in Nordrhein-Westfalen. Ein Taxi bringt das Mädchen morgens gegen acht Uhr zur Schule und nachmittags um 15 Uhr wieder nach Hause. In dieser Zeit erledigt die Mutter, Dagmar S., den Haushalt, die Einkäufe, eigene Termine und den riesigen Berg an organisatorischen und bürokratischen Aufgaben, die ein behindertes Kind mit Pflegestufe drei mit sich bringt. Kommt Hannah nach Hause, steht sie sofort im Mittelpunkt.
Doch in dieser Woche ist alles anders. Hannahs I-Kraft ist krank. Also kann das Kind nicht in die Schule gehen. Für die Mutter heißt das, 24 Stunden am Tag für die Tochter da sein. Hannah kann nicht alleine bleiben, denn manchmal ist sie unberechenbar. Wenn sie etwa plötzlich auf jemanden zugeht, um ihn zu beißen. Oder wenn sie ihren eigenen Kopf nachts heftig gegen die Gitterstäbe ihres Bettes stößt. Oder wenn sie in der Schlange an einer Supermarktkasse fremden Menschen ihre Einkäufe aus den Händen schlägt. Selbst- und Fremdaggression nennen Fachleute das.
Hannah braucht besondere Betreuung
Hannah meint es nicht böse. „Sie ist an sich ein fröhliches Kind“, sagt ihre Mutter. Sie ist auch nicht aggressiver als andere Kinder. Aber sie hat autistische Züge, und es mangelt ihr an Selbstkontrolle. Außerdem leidet sie unter Sodbrennen und einem angeborenen Herzfehler. Das macht sie vielleicht zusätzlich anfällig gegenüber anderen Belastungen. Manchmal, wenn die Eindrücke von außen sie überfordern, zieht sie ihren Kopf ein und umschlingt ihn mit den eigenen Armen, so als wolle sie sich vor der Außenwelt schützen.
Vor allem wegen ihrer Unberechenbarkeit ist sie rund um die Uhr auf andere Menschen angewiesen. Nicht jeder ist in der Lage, mit ihr umzugehen. Sie muss gewickelt und gefüttert werden. Alleine das Essen dauere mitunter Stunden, so Dagmar S. Nur die Eltern und die I-Kraft seien in der Lage, sie dazu zu bewegen. In ihrem Alltag stößt die Familie ob der besonderen Umstände daher ständig an ihre Grenzen. Verzweifeln wollen sie aber nicht, sondern möglichst das Beste daraus machen. Dabei sind sie dankbar für die verschiedenen Hilfsangebote, die es für pflegebedürftige Kinder gibt. Zum Beispiel für die I-Kraft in der Schule und für das Verhinderungspflegegeld und die zusätzlichen Betreuungsleistungen der Pflegekasse. „Wir wissen: Im Vergleich zu anderen Ländern geht es uns hier gut“, sagt Dagmar S.
Dennoch gibt es Phasen, in denen sich die Familie überfordert fühlt. Zum Beispiel in dieser Woche, in der die I-Kraft krank ist. Oder, wenn das Kind selbst krank ist und deshalb nicht zur Schule gehen kann. Und dann sind da noch die vielen langen Ferienzeiten. Selbst an den Abenden, wenn ihr Mann zu Hause ist, dreht sich alles um Hannah. Dann versucht sie, ihre Eltern abwechselnd für sich allein zu haben. „Sie nimmt einen von uns an ihre Hand und führt ihn in ein anderes Zimmer, weil sie seine volle Aufmerksamkeit möchte“, erzählt Dagmar S. Sich mit ihrem Mann zu unterhalten, sei nur möglich, wenn sie eine Runde mit dem Auto fahren würden. Das beruhige das Kind.
Barrierefrei wird nicht jedem Behinderten gerecht
Für die Familie S. sind die schulfreien Zeiten kaum zu bewältigen. Das zwölfjährige Mädchen brauche Anregungen und habe keine Lust, den ganzen Tag an der Hand ihrer Mutter zu verbringen, so Dagmar S. „Zwar gibt es in der Umgebung immer wieder auch integrative Freizeitangebote, aber für mein Kind ist meistens nichts dabei“, erzählt sie.
Diese Erfahrung hat auch ihre Freundin Katja T., gemacht. Ihr zehnjähriger Sohn Felix hat frühkindlichen Autismus. Er ist zudem gehörlos, kann aber über ein Cochlea-Implantat auf dem rechten Ohr hören. Außerdem leidet er unter Epilepsie. Was Felix versteht, ist unklar. Er selbst kommuniziert nicht – weder verbal noch nonverbal. Auch er benötigt eine Integrationskraft in der Schule und ist bei allen Verrichtungen des Alltags auf fremde Hilfe angewiesen. „Die fehlende Kommunikation ist für die ganze Familie die größte Belastung“, so Katja T., die mit ihrem Mann Klaus noch zwei weitere gesunde Kinder im Alter von drei und sieben Jahren hat. Manchmal verhält Felix sich selbstgefährdend, vielleicht weil er sich nicht anders äußern kann.
„Die integrativen Angebote beziehen sich meist auf Kinder mit körperlichen Behinderungen“, erzählt seine Mutter. Mit barrierefreien Angeboten ist aber diesen beiden Familien nicht geholfen. Für ihre Kinder zählen ganz andere Dinge. „Wir brauchen Betreuungskräfte, die sich gerne mit Kindern beschäftigen, die nicht sprechen und sich zum Beispiel stundenlang mit Stöcken beschäftigen wie Felix“, sagt Katja T. mit einem Blick auf ihren Sohn, der gerade konzentriert einen Stift durch die Luft schwingt, als würde er damit Wasseradern suchen.
Dr. Edna Rasch, wissenschaftliche Referentin in der Bundesgeschäftsstelle der Lebenshilfe in Berlin, sagt: „Es ist ein Dauerbrenner, so viel Leistung für Familien mit schwer mehrfachbehinderten Kindern finanziert zu bekommen, wie sie eigentlich bräuchten.“ Dabei versucht gerade die Lebenshilfe, neben anderen Organisationen, wie Caritas oder Diakonie, auch Freizeit- und Betreuungsangebote für geistig behinderte Kinder zu bieten. Insbesondere in dünn besiedelten Regionen sei das aber schwierig. Und selbst dort, wo es entsprechende Angebote gebe, müssten die Eltern lange im Voraus planen, weil diese schnell ausgebucht seien.
Das bestätigt Christoph Gräf, Leiter des Bereichs Kinder, Jugend und Familie bei der Stiftung Liebenau, die sich unter anderem auf dem Gebiet der integrativen Betreuung von Kindern mit Behinderungen engagiert. „Wir haben prinzipiell den Anspruch, niemanden auszuschließen“, sagt er. Auch Kinder, die beatmet werden, die autistisch sind, bei denen ein fremdgefährdendes Verhalten droht oder die unter Epilepsie leiden, sind bei ihren Angeboten, wenn irgend möglich, willkommen.
In den Ferien beginnt die Wüste
Doch schon aus finanziellen Gründen stoße man da an Grenzen. Eine geeignete Betreuung kostet viel Geld, selbst wenn Ehrenamtliche mit im Boot sind. „Es gibt Situationen, wo ich sage, wir kriegen das nicht hin“, sagt er. Bei Kindern mit erhöhtem Betreuungsbedarf könne er keine schwarzen Zahlen schreiben. Seine Organisation ist hier auf Fördermittel angewiesen. Wenn man ehrlich sei, müsse man zugeben, wenn bestimmte Umstände zusammenkämen, dann beginne an den Wochenenden und in den Ferien für manche Familien die Wüste, so Gräf.
Hinzu kommt: Für Familien mit pflegebedürftigen Kindern gibt es kaum Beratungsstellen, sodass die Eltern auf der Suche nach Unterstützung oft auf sich selbst gestellt sind. Die Lebenshilfe hat seit vier Jahren in Bonn eine Pflegeberatungsstelle für Kinder und Jugendliche als Pilotprojekt laufen. „Nur weniger als fünf Prozent aller Pflegebedürftigen sind Kinder“, sagt Leiterin Corinna Bell. Da gibt es keine Lobby. Die Kinderkrankenschwester und Pflegeberaterin versucht trotzdem, das Projekt durch Spenden am Laufen zu halten.
Keine Freunde zum Spielen
Kinder wie Hannah und Felix können nicht für sich sprechen. Sie sagen nicht: „Mir ist so langweilig“ oder „Ich möchte gerne mal wieder mit anderen Kindern zusammen sein!“. Vielleicht sind sie sogar nicht in der Lage, das zu denken. Aber selbst wenn die beiden nicht wie „normale“ Kinder denken – normale Bedürfnisse haben sie dennoch, auch nach sozialen Kontakten. Doch sie haben keine Freunde, die eben mal bei ihnen vorbeikommen und mit ihnen spielen. „Wir müssen uns jeden sozialen Kontakt erkaufen“, sagt Dagmar S. Geeignete Angebote zu finden, sei nicht nur schwierig, sondern auch noch teuer, und die unterstützenden Leistungen der Pflegekassen beziehungsweise der Sozialhilfe dann schnell aufgebraucht.
Und Hannahs Familie muss mit einem Verdienst auskommen. Denn Dagmar S. ist zwar Tierarzthelferin, sieht aber keine Möglichkeit, zu arbeiten. Felix’ Mutter ist Lehrerin und kann ihren Beruf zumindest stundenweise ausüben, weil sie in den Ferien zu Hause ist. So komme sie ab und zu „mal raus“. Beide Frauen nehmen die Behinderungen ihrer Kinder mit einer bewundernswerten Stärke, die Nichtbetroffene sich kaum vorstellen können. Aber wenn ihre behinderten Kinder nicht zur Schule gehen, haben beide kaum eine Auszeit. Die Organisation des Alltags fordert dann besonders viel Kraft, vor allem, wenn die Nächte schlecht sind. „Wir lieben unsere Kinder“, sagt Katja T., „und wir wollen selbstverständlich für sie da sein, wenn sie uns brauchen.“ Aber besonders die sechs Wochen Sommerferien, das sei eine lange Zeit. „Und manchmal kommt die pure Verzweiflung.“