Seit 2002 beleuchtet das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) verschiedene Versorgungsbereiche der Pflege im Rahmen der Studienreihe Pflege-Thermometer. Welche Bedeutung hat diese für die Pflege? Wer hatte die ursprüngliche Idee zum Pflege-Thermometer? Wie kann man sich die Arbeit am Pflege-Thermometer vorstellen? Antworten gibt Studienleiter Prof. Dr. Michael Isfort im exklusiven BibliomedPflege-Interview.
Herr Professor Isfort, wie ist es zum ersten Pflege-Thermometer im Jahr 2002 gekommen?
Als wir im Jahr 2000 die Arbeit im dip gestartet haben, hatten wir sehr früh die Idee, eine Reihenuntersuchung in der Pflege durchzuführen. Denn wir haben schnell gemerkt, dass es an Kennzahlen mangelt. Auf einer Tagung in Berlin haben wir dann Kontakt zur B. Braun-Stiftung bekommen und gemeinsam mit einem Kollegen das erste Pflege-Thermometer an den Start gebracht.
Können Sie sich noch an die damaligen Reaktionen der Fachöffentlichkeit erinnern?
Die Fachöffentlichkeit hat sofort mit großem Interesse reagiert. Wir erhielten sehr schnell Einladungen auf Kongresse und Tagungen, um die Ergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren. Auch die Berufsverbände haben sehr schnell großes Interesse gezeigt und waren dankbar, weil sie für ihre Forderungen neben guten Argumenten auch gute Kennzahlen benötigen. Diese liefern die Pflege-Thermometer-Studien.
Das Pflege-Thermometer ist auf externe Förderer angewiesen. Können Sie trotzdem unabhängig arbeiten?
Die B. Braun-Stiftung war und ist bis heute der exklusive Förderer der Pflege-Thermometer-Studien. Das Besondere daran ist, dass wir inhaltlich und zeitlich vollkommen unabhängig arbeiten können, und dabei sehr unkompliziert und zugleich verlässlich gefördert werden. Das ist sonst leider nicht häufig der Fall.
Wer hatte die Idee für die Bezeichnung Pflege-Thermometer?
Wir haben damals nach einem griffigen Titel gesucht, der in Verbindung steht mit der Pflege und dem, was die Studie inhaltlich darstellt- nämlich eine Form der Messung. Das Pflege-Thermometer ist mittlerweile fast so etwas wie eine Marke mit einem hohen Wiedererkennungswert.
Warum ist eine Studienreihe wie das Pflege-Thermometer wichtig für die Berufsgruppe Pflege?
Ich glaube, dass wir künftig noch mehr als heute Entwicklungen und Reformen in der Pflege nur anstoßen können, wenn wir gute Datengrundlagen haben. Die Pflege-Thermometer haben dabei eine ganz wichtige Funktion: Sie systematisieren Eindrücke, die vieleeinzelne Personen oder Einrichtungen haben. In der „großen Politik" wird das aber gerne schnell als Einzelmeinung abgetan. Das Pflege-Thermometer kann hier mit guten Datengrundlagen aufzeigen, welche Fragen und Probleme jenseits von Einzelmeinungen bei allen bestehen.
Nach 14 Jahren: Welchen Stellenwert hat das Pflege-Thermometer heute in der Fachwelt?
Wir werden heute schon sehr früh angesprochen, wann das neue Pflege-Thermometer startet und welches Thema es beinhaltet. Wir sehen, dass häufig aus den Analysen zitiert wird, dass Abbildungen für Präsentationen genutzt werden und dass mit den Ergebnissen der Studien tatsächlich gearbeitet wird. Auch die Politik, bis in die Ministerien hinein, nehmen heute die Ergebnisse wahr und auch ernst. Das ist genau, was wir erreichen wollten.
Warum gibt es nicht jedes Jahr ein neues Pflege-Thermometer?
Das hängt aktuell mit zwei Dingen zusammen: Zum einen müssten wir dafür eine weitere Förderung oder Finanzierung finden, zum anderen ist dies auch eine Frage der personellen Ressourcen und Kapazitäten. Die Vorbereitung, Planung und Durchführung dauert, wenn man es gut machen möchte. Da sind wir dann schnell wieder beim Geld - denn wenn wir schneller werden wollen, dann müssen wir mit mehr Kolleginnen und Kollegen daran arbeiten können. Denkbar und lösbar wäre das natürlich, und vielleicht gelingt uns das in Zukunft - ein Themenmangel jedenfalls besteht nicht.
Wer legt die Themen fest?
Das machen wir meist gemeinsam im Vorstand vom Institut. Wir beobachten, welche Themen aktuell von großem Interesse sind und wo wir selber Fragen haben. Wir versuchen, dies in ein Pflege-Thermometer zu übersetzen. Die konkreten Fragen entwickeln wir dann in Abstimmung mit Experten aus der Praxis und von Verbänden und testen die Fragen und Fragebögen.
Gibt es etwas, das Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist, wenn Sie die vergangenen 14 Jahre Pflege-Thermometer Revue passieren lassen?
Da gibt es sehr viele schöne und auch verrückte Dinge, die passiert sind. Als wir 2009 den Fragebogen als Einleger in der Zeitschrift „Die Schwester Der Pfleger" verteilt haben, wurden 52.000 Fragebögen an Pflegende und Einrichtungen versendet. Wir hatten mit etwa 5.000 Antworten gerechnet. Als es dann über 10.000 waren, haben wir sechs Wochen lang bis spät in den Abend und auch in die Nacht hinein gearbeitet, Pizza bestellt und weitergemacht. Irgendwann ist man dann an dem Punkt, an dem man Kollegen nur noch Unsinn erzählt. Das war eine recht verrückte Situation - im positiven Sinn-, aber auch irre lustig. Und am Ende haben wir die hohen Fragebogenberge immer sehr gut systematisch abarbeiten können.
Haben Sie alle Pflege-Thermometer-Studien wissenschaftlich geleitet?
Ich habe von Beginn an als wissenschaftlicher Mitarbeiter des dip daran mitgearbeitet. Geleitet hat sie anfangs mein Kollege, Frank Weidner. Später habe ich das Pflege-Thermometer mit in meinen Arbeitsbereich übernommmen.
Wie groß ist das Team derer, die am Pflege-Thermometer arbeiten?
In aller Regel sind wir fünf bis sechs Personen, die daran arbeiten. Das heißt aber nicht, dass alle in Vollzeit jeden Tag daran arbeiten. Die jeweiligen Mitarbeiter bringen ihre spezifischen Kompetenzen ein und sind teilweise „nur" an einem Teilschritt beteiligt, wie zum Beispiel bei der Datensammlung und Datenprüfung oder der Analyse der Daten aus der Gesundheitsberichterstattung.
Wie genau erfolgt die Arbeitsteilung?
Das lässt sich schwierig generaliseren und hängt auch immer damit zusammen, welche Kapazitäten gerade bei wem im Team vorhanden sind. Ich selbst arbeite meist sehr intensiv an der Fragebogenerstellung mit und übernehme große Teile der Berichterstellung und Artikel, die am Ende geschrieben werden. Die Erstellung der Grafiken werden meist von den Kollegen im Datenmanagement übernommmen und Recherchearbeiten wiederum von anderen Kollegen. Nicht zu vergessen ist auch die wichtige Korrekturarbeit, die von der Kollegin im Sekretariat durchgeführt wird.
Wie lange dauert die Durchführung einer Pflege-Thermometer-Studie?
Zwischen der Planung und der konkreten Berichterstellung und Veröffentlichung vergehen nicht selten zwölf bis 14 Monate. Man sitzt schon einige Wochen an der abschließenden Berichterstellung, und auch wenn wir viele Prozesse mittlerweile schneller können, wie zum Beispiel die Datenaufbereitung, ist doch jedes Thermometer ein „Maßanzug", das ja so nie wiederholt wird. Alleine die Information über die Studie, die Einbindung der Verbände und die Werbung um die Teilnahme kann nicht in wenigen Tagen oder Wochen stabilisiert werden. Davon aber hängt die Qualität der Studie ab und daher ist es ein sehr wichtiger Part. Eine Idee ist noch keine Frage - alleine die Entwicklung und Abstimmung sowie Überprüfung der Fragebögen durchläuft viele Runden. Am Ende ist es dann die zehnte Version, die genommen wird und es dauert rund acht bis zehn Wochen, bis wir den Fragebogen so weit haben, dass man ihn in Druck geben kann.
Was sind typische Stolpersteine bei der Durchführung?
Klassisch ist natürlich die Gewinnung von Teilnehmern. Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Studie und keiner nimmt teil - das ist die Horrorvorstellung eines jeden Forschenden. Wichtig ist daher der Befragungszeitpunkt, zum Beispiel ist es nicht sinnvoll, in der Urlaubszeit zu befragen. Stolpersteine sind aber manchmal auch ganz banaler Art - zum Beispiel: Wer hat eigentlich möglichst aktuelle und vollständige Adresslisten der ambulanten Dienste in Deutschland? Es gibt ja kein Zentralregister oder ein Telefonbuch und Verzeichnis, wie bei den Krankenhäusern.
Welche der Pflege-Thermometer-Studien war besonders herausfordernd in der Durchführung?
Herausfordernd war die aktuelle Studie in der ambulanten Pflege. Zum einen war der Fragebogen länger als sonst und zum anderen waren auch die Vorbereitungen und Auswertungen sehr intensiv.
Wann wird es das nächste Pflege-Thermometer geben?
Ich gehe davon aus, dass wir Ende 2016 mit Vorbereitungen beginnen können und dann in 2017 die konkrete Befragung durchführen können. Ergebnisse wären dann im Frühjahr 2018 zu erwarten. Das aber hängt, wie so oft, von einer Förderzusage ab.
Welches Thema würden Sie persönlich gerne bearbeiten?
Es gibt zahlreiche Themen, die mich interessieren würden. Wichtig ist, dass man den Blick auf die Pflege im Heimbereich und die Auswirkungen der Gesetzgebungen richtet. Aber auch in den Psychiatrien wird sich durch eine Veränderung in der Finanzierung vieles verändern. Das vernünftig aufzuarbeiten, wäre wichtig und auch interessant.
Im ersten Pflege-Thermometer 2002 wurde ein massiver Pflegenotstand konstatiert - heute diskutieren wir immer noch über den sogenannten Fachkräftemangel. Treten wir in der Pflege auf der Stelle?
Das glaube ich nicht - es sind ja Entwicklungen vorhanden, wenn auch nicht in der gewünschten Form und Intensität. Den Fachkräftemangel übrigens werden wir nicht mehr loswerden - wir werden ihn kontinuierlich bearbeiten und möglichst gering halten müssen. Den werden wir also auch in zehn jahren wieder bemerken und in Zahlen ausdrücken können. Ihre Feststellung aber verdeutlicht, dass eine Studie alleine natürlich keine Wunderdinge bewirken kann und nicht sofort zu politischem Handeln führt. Das sind langsame Mühlen, die viel Anschubkraft benötigen. Ich glaube aber, dass ohne die Pflege-Thermometer- und andere Studien beispielsweise kein Förderstellenprogramm für die Pflege im Krankenhaus geschafft worden wäre. Einen Beitrag zur Diskussion zu leisten und auch nicht aufzuhören, vor Fehlentwicklungen zu warnen, ist, so denke ich, eine wichtige Aufgabe der Pflegewissenschaft, so wie ich sie verstehe.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Isfort.
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