Der Arbeitsalltag vieler Pflegepersonen ist multikulturell geprägt. Immer mehr Patienten stammen aus unterschiedlichen Ländern. Da können Sprachbarrieren und die Unkenntnis fremder Kulturen schnell zu Missverständnissen führen, die den Erfolg der Pflege ernsthaft gefährden.
Die Pflege von Schmerzpatienten ist generell eine Herausforderung, weil Schmerz eine höchst subjektive Empfindung ist. Umso mehr aber bei Patienten aus anderen Kulturen, weil das subjektive Schmerzempfinden stark von der kulturellen Zugehörigkeit des Patienten geprägt ist. Daher ist es wesentlich, die kulturelle Dimension des Schmerzes zu beachten, denn sowohl innerhalb der eigenen Kultur als auch transkulturell sind die Einflussfaktoren auf das Schmerzerleben unterschiedlich. Nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist zwar die Schmerzempfindungsschwelle bei allen Menschen und in allen Kulturen gleich (Kohnen 2007), die Art, wie Schmerzen geäußert, beschrieben und bewältigt werden, ist allerdings in hohem Maße von soziokulturellen Faktoren beeinflusst.
Pflegende nehmen im Rahmen des Schmerzmanagements zweifellos eine Schlüsselrolle im interdisziplinären Team ein. Sie haben häufigen und intensiven Kontakt mit Patienten und sind meistens die ersten Adressaten für Schmerzäußerungen. Deshalb ist es hilfreich, wenn sie über kulturspezifische Schmerzäußerungen Bescheid wissen.
Andere Kulturen, andere Schmerzäußerungen
In jeder Kultur existieren soziale Normen darüber, wann Gefühle gezeigt werden, wie deutlich sie gezeigt werden und wo sie gezeigt werden. Diese Darstellungsregeln bestimmen nicht nur die Form von Gefühlsäußerungen, sondern legen zugleich fest, was als angemessen oder unangemessen gilt. So ist es in unserer westeuropäischen Kultur üblich, Gefühle in der Öffentlichkeit unter Kontrolle zu halten, ein selbstbeherrschtes Verhalten zu zeigen und auch den Schmerz nicht expressiv zum Ausdruck zu bringen. Sätze wie „Harte Männer weinen nicht“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Die Zähne zusammenbeißen“ prägen unser Verhalten.
Im Gegensatz dazu ist es in anderen Kulturen sozial akzeptiert, spontane Gefühle zu zeigen und Schmerzen stärker zu präsentieren als wir es tun.
Da Pflegepersonen aufgrund ihrer eigenen soziokulturellen Sichtweise eine Vorstellung davon haben, welche Schmerzäußerungen angebracht und welche unangemessen sind, können bei Patienten aus anderen Kulturkreisen expressive Schmerzäußerungen als befremdlich empfunden oder sogar als Normenüberschreitung angesehen werden.
Wenn etwa Patienten aus dem Mittelmeerraum oder aus dem Nahen Osten ihre Schmerzäußerungen expressiv zum Ausdruck bringen, führt dies bei Pflegepersonen nicht selten zu Verunsicherung bis hin zu einem Gefühl der Hilflosigkeit: Sowohl die Intensität der Äußerung als auch die lang anhaltende Lamentation sind ihnen nicht vertraut. Im Pflegealltag wird diese Art der Schmerzäußerung mitunter als Übertreibung abgetan, manchmal besteht sogar die Tendenz, solche Patienten für Simulanten zu halten. Dies geschieht unter anderem meist dann, wenn der Patient trotz einer angemessen ausreichenden Gabe von Schmerzmedikamenten keine Anzeichen von Linderung erkennen lässt, sondern nach wie vor ein deutliches Schmerzverhalten an den Tag legt. Leichthin verwendete spöttische Begriffe wie „Mama-mia-Syndrom“, „Morbus Bosporus“ oder „Morbus Balkan“ bringen dabei das Unverständnis der Pflegenden gegenüber der fremdartigen Verhaltensweise deutlich zum Ausdruck.
Auch wenn die Schmerzäußerungen des Patienten objektiv nicht immer der inneren Wirklichkeit oder den organischen Befunden des Schmerzleidens angemessen zu sein scheinen, müssen Pflegefachpersonen diese Äußerungen ernst nehmen. Denn Schmerz wird auch symbolisch gedeutet. Mitunter hat die Schmerzpräsentation eine größere Bedeutung als die Schmerzempfindung.
So wird in vielen südeuropäischen und vorderasiatischen Ländern der Schmerz als Zeichen einer Erkrankung erwartet: Es wird nur derjenige als krank betrachtet, der auch expressiv Schmerzen äußert. Jemand, der Schmerzen rational beschreibt, wird als Kranker nicht ernst genommen. Auch haben Patienten aus diesen Kulturen eine hohe externale Kontrollüberzeugung: Sie sind davon überzeugt, den Schmerz nur mithilfe der Familie bewältigen zu können. Um die familiäre Unterstützung und Zuwendung zu aktivieren, ist es notwendig, die Hilfsbedürftigkeit laut und deutlich zu äußern. Bei diesen Patienten kann der Besuch von Verwandten oder Freunden subjektiv durchaus schmerzverstärkend wirken. Aber auch Sprachbarrieren können die Ursache von heftigen Schmerzäußerungen sein. Menschen, die sich mangels ausreichender Sprachkenntnisse oder bildungsbezogener Barrieren nicht sicher sind, ob ihre Bedürfnisse auch verstanden wurden, neigen dazu, ihr Anliegen durch drastisch überzogene Schilderungen zu verdeutlichen.
Patienten aus asiatischen, lateinamerikanischen, afrikanischen sowie aus arabischsprachigen Ländern äußern zudem ihr Bedürfnis nach Schmerzmitteln oft nicht aus zurückhaltendem Respekt gegenüber Pflegefachpersonen und Ärzten. Sie werden als höher gestellte Personen angesehen, die man weder um etwas fragt, noch um etwas bittet.
Speziell in China gilt es als unhöflich, etwas anzunehmen, was einer Person zum ersten Mal angeboten wird. Falls diese Person also das erste Angebot eines Schmerzmittels ablehnt, ist es ratsam, das Angebot noch einmal zu wiederholen.
Ebenso stark beeinflusst von der kulturellen Zugehörigkeit ist die Art und Weise, wie Schmerzen geschildert werden. Nicht allein die Worte, mit denen der Schmerz an sich beschrieben wird, sondern auch die Beschreibung seiner Lokalisierung, sind unterschiedlich.
So drücken etwa Patienten aus südosteuropäischen und vorderasiatischen Ländern Schmerzen sehr leibnah und ganzheitlich aus. Die Vorstellung, dass nur ein Organ oder nur ein Teil des Körpers erkrankt sein kann, ohne dabei die gesamte leiblich-seelische und soziale Befindlichkeit zu beeinträchtigen, ist für diese Menschen nicht vorstellbar. Patienten aus diesen Kulturen werden daher den Schmerz weder auf eine schmerzhafte Stelle oder auf eine bestimmte Körperregion eingrenzen, noch beschreiben, wie sich der Schmerz anfühlt.
Aus dieser ganzheitlichen Sichtweise heraus ist es verständlich, dass diese Patienten einerseits Umschreibungen wie „alles ist krank“ oder „überall Schmerz“ verwenden, andererseits aber auch seelische Schmerzen leibnah erleben. Nicht selten werden psychische Konflikte als somatischer Ganzkörperschmerz ausgedrückt.
In arabischen und asiatischen Ländern, aber auch in der Türkei, ist die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen noch weit verbreitet. Patienten aus diesen Ländern neigen dazu, ihre psychischen Probleme in physiologischen Symptomen auszudrücken, um dieses Stigma zu umgehen. Psychische Symptome werden im Gegensatz zu somatischen Beschwerden als „sozial nachteilig“ bewertet. Eine psychische Krankheit wird nicht als medizinisches Problem gesehen, sondern als etwas Abnormales, etwas Verrücktes. Wenn bekannt wird, dass jemand wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung ist, kann dies für den Betroffenen das gesellschaftliche Aus bedeuten.
Türkische Patienten neigen dazu, Schmerzen in Organmetaphern auszudrücken. So ist die Äußerung „meine Leber brennt“ ein Ausdruck von Trauer, Sorge und depressiver Stimmung. Hierzulande ist es in etwa gleichbedeutend mit „Mir zerreißt es das Herz“.
Formulierungen wie „meine Arme sind gebrochen“ als Synonym dafür, dass man sich ohne Halt fühlt, „die Gallenblase ist geplatzt“, um mitzuteilen, über etwas sehr erschrocken zu sein, oder „mein Bauchnabel ist gefallen“ für ein gestörtes seelisches Gleichgewicht, können psychosomatische Befindlichkeiten ausdrücken. Hinter dem „Fallen von Organen“ steckt die Vorstellung, dass Beschwerden deshalb auftreten, weil ein Organ nicht mehr an der richtigen Stelle sitzt und der Körper deswegen aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Strategien zur Schmerzbewältigung
Schmerz wird nicht nur in verschiedenen Lebenssituationen, sondern auch entsprechend der religiösen oder kulturellen Wertvorstellungen unterschiedlich erduldet. Dabei werden verschiedenartige Verhaltensweisen beobachtet. Die fünf bekanntesten Schmerzbewältigungsstrategien nach Kohnen (2007) sollen kurz erläutert werden:
Fatalistische Schmerzbewältigung: Diese Form der Schmerzbewältigung ist vor allem bei traditionell lebenden Filipinos üblich. Auch wenn sie ihren Schmerz beklagen, erdulden sie ihn ergeben. Ihrer Ansicht nach entsprechen Schmerzen dem Willen Gottes und Gott gibt ihnen daher auch die Kraft, diese Schmerzen zu ertragen.
Religiöse Schmerzbewältigung: Dabei sieht der Patient den Schmerz als Zeichen Gottes, einen heilvolleren Lebensweg einzuschlagen. Er ist überzeugt, dass Gott ihm den Schmerz gesendet hat, um ihn zu prüfen, ob er standhaft im Glauben sei. Der Schmerz ist für den Gläubigen die einmalige Chance, sein Leben zu ändern und andere Wege zu gehen. Man verhält sich dem Schmerz gegenüber so, dass er ertragen und erduldet werden muss, damit das Zeichen und die damit verbundene Botschaft Gottes erkannt werden. Schmerz wird sehr wohl als unangenehm empfunden und kann – durchaus auch laut – geäußert werden; er sollte aber nicht durch Medikamente beseitigt oder völlig unterdrückt werden. Schmerzen sollen zum Nachdenken über das eigene Leben anregen. So nehmen zum Beispiel fromme jüdische Patienten Schmerzen hin und lehnen schmerzlindernde Medikamente ab, weil sie im Schmerz eine Prüfung Gottes sehen. Fallweise verzichten auch christliche Patienten im Hinblick auf das Leiden Christi am Kreuz auf eine Schmerzlinderung, da freiwillig ertragener Schmerz als ein Weg der Nachfolge Christi empfunden wird.
Auch muslimische Patienten deuten Schmerz als Zeichen ihres Gottes. Buddhistische Patienten wiederum glauben, dass Schmerzen in diesem Leben ihr Karma verbessern können. Derjenige, der jetzt auf Erden viel Leid erduldet, erwirbt Vorteile für das folgende Leben. Ebenso gehört bei hinduistischen Patienten das Leiden zum Leben, das ertragen werden muss. Schmerzen werden auch hier als karmischer Ausgleich angesehen und daher schmerzlindernde Medikamente abgelehnt.
Willentliche Schmerzbewältigung: Die generelle Leitüberzeugung dieser Bewältigungsstrategie ist, den Schmerz nicht zuzulassen. Tritt er dennoch auf, so wird er unterdrückt. Diese Patienten sind davon überzeugt, dass Schmerz zu äußern nicht angemessen sei und ziehen sich daher in die Einsamkeit zurück und ertragen den Schmerz im Stillen. Die Kontrollüberzeugung lautet: „Ich allein werde mit meinem Willen den Schmerz bewältigen.“
Familiäre Schmerzbewältigung: Diese Art der Schmerzbewältigung ist vor allem in kollektivistischen Gesellschaften wie dem Mittelmeerraum, der Türkei oder dem Nahen Osten weit verbreitet. Bei dieser Bewältigungsstrategie wird Schmerz kollektiv verarbeitet: Der Patient erhält uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Unterstützung von der Familie. Damit die familiäre Unterstützung aktiviert wird, muss der Patient sein Leid laut und deutlich vortragen. Denn es kann nur demjenigen geholfen werden, der seine Hilfsbedürftigkeit auch deutlich äußert, so die Überzeugung. Bei diesen Patienten kann daher der Schmerzausdruck weit stärker und emotionaler ausfallen als es in unserer westeuropäischen Kultur üblich ist.
Rationale Schmerzbewältigung: Diese in Mittel- und Nordeuropa sowie in Nordamerika verbreitete Bewältigungsstrategie ist mit einer hohen internalen Kontrollüberzeugung verbunden. Der Schmerz wird als etwas wissenschaftlich Kontrollierbares betrachtet. Der Patient schildert den Schmerz möglichst objektiv, nimmt an, dass der Schmerz einen körperlichen Ursprung hat und dass ein Arzt die Ursache durch genaue Beschreibung herausfinden und zielgerichtet behandeln kann.
Diese hier nur in ihren Ansätzen aufgezeigte Vielfalt kultureller, ethnischer und religiöser Komponenten lässt erkennen, welche unterschiedlichen Faktoren das Schmerzerleben beeinflussen können. Gleichzeitig wird deutlich, dass in der transkulturellen Pflege eine kulturkompetente, individuell-differenzierende Betrachtungsweise des Schmerzerlebens erforderlich ist. Dies nicht zuletzt deshalb, um Fehleinschätzungen aufgrund der eigenen kulturellen Prägung zu vermeiden.
Kohnen, N. (2007): Schmerzliche und nichtschmerzliche Patienten. Transkulturelle Aspekte des Schmerzerlebens. Trauma und Berufskrankheit 9 (Suppl 3), 323–328
Lenthe, U. (2016): Transkulturelle Pflege. Kulturspezifische Faktoren erkennen – verstehen – integrieren, 2. Auflage, Wien: Facultas
Lenthe, U. (2016): Transkulturelle Pflegepraxis. Bedürfnisse erheben – erwägen – erfüllen, Wien: Facultas