Im Pflegealltag herrschen Zeitmangel, Arbeitsverdichtung und Personalnot. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die praktische Pflegeausbildung. Wie können Praxisanleiter und Schüler mit diesem Widerspruch umgehen? Darüber sprachen wir mit Pflegewissenschaftlerin Karin Kersting, die die Bedingungen von Pflegenden, Praxisanleitern, Pflegepädagogen und Auszubildenden seit vielen Jahren erforscht.
Frau Professorin Kersting, Pflegende möchten auf einem hohen fachlichen Niveau arbeiten, haben dafür aber zu wenig Zeit. In Ihrer Studienreihe „Coolout in der Pflege“ beschreiben Sie dieses Phänomen mit der Metapher der „Kälte“: Pflegende lernen, sich kalt zu machen und sich an die Rahmenbedingungen anzupassen. Was bedeutet der scheinbar unauflösbare Widerspruch zwischen Patientenorientierung und ökonomischen Zwängen für Praxisanleiter und Auszubildende?
Es ist kein scheinbar unauflösbarer, sondern ein unauflösbarer Widerspruch! Schüler können daher den allgemeingültigen pflegefachlichen Anspruch, der mit dem Begriff der Patientenorientierung zusammengefasst wird, in der Praxis nicht verwirklichen. Aufgrund der ökonomischen Zwänge werden sie dazu genötigt, schnell zu arbeiten und im Stationsalltag zu funktionieren. Das bedeutet: Eine patientenorientierte Pflege wird durch die Bedingungen im Alltag nicht nur zufällig, sondern systematisch verhindert. Und das gilt auch für Praxisanleiter und Schüler. Denn sie befinden sich in den gleichen Zwängen.
Das klingt ernüchternd, denn an den Bedingungen ist kurzfristig wenig zu ändern. Wie kann eine gute Praxisanleitung dennoch gelingen?
Es ist zunächst notwendig, dass Praxisanleiter und Schüler gemeinsam einen kritischen Blick dafür entwickeln, was um sie herum geschieht. In den Coolout-Studien haben wir festgestellt, dass dies unterschiedlich reflektiert stattfindet. Einerseits gibt es Praxisanleiter und Schüler, denen gar nicht klar ist, dass sie nicht patientenorientiert arbeiten. Sie haben sich fraglos an das System angepasst und glauben, dem fachlichen Anspruch zu genügen.
Und andererseits?
Andererseits gibt es Auszubildende, die das Spannungsfeld erkennen und sich selber als Opfer der Strukturen betrachten. Sie wissen, dass sie patientenorientiert arbeiten sollen und wollen dies auch tun. Sie sehen sich aber genötigt, zügig zu arbeiten, weil sie Druck von den Kollegen befürchten. Darunter leiden sie. Dennoch akzeptieren sie die Situation ohnmächtig, denn sie sehen keine Möglichkeiten, es anders zu machen.
Gibt es nicht auch Auszubildende, die gezielt nach Wegen suchen, um das Beste aus den Rahmenbedingungen herauszuholen?
Ja, die gibt es. Diese Auszubildenden erkennen das Dilemma und suchen engagiert nach Lösungen, um im Alltag patientenorientiert arbeiten zu können.
Welche Strategien sind das?
Es sind pragmatische Lösungen, die im Grunde jeder kennt, der in der Pflege arbeitet: Kompromisse machen, Prioritäten setzen, sich Nischen suchen, die Arbeit anders organisieren. Dies alles ist zunächst einmal sinnvoll, doch im Endeffekt verwirklichen die Pflegenden auf diese Weise keine Patientenorientierung. Dies gelingt ihnen im besten Fall teilweise oder zufällig. Denn Kompromisse zu machen und Prioritäten zu setzen, dient letztlich nur der Sicherung der Arbeitsabläufe und bedeutet im Umkehrschluss immer, Abstriche zu machen bei der Pflege. Und wer Abstriche macht, arbeitet streng genommen nicht patientenorientiert.
Und das ist vielen Auszubildenden nicht klar?
Genau, sie glauben, über viel Engagement den pflegefachlichen Anspruch zu verwirklichen. Genau das ist aber der Trugschluss, der im Übrigen auch in der Fachliteratur zu finden ist. Die schlechten Bedingungen bleiben unangetastet. Wichtig ist es meines Erachtens, sich den Widerspruch bewusst zu machen und sehr reflektiert mit ihm umzugehen. Manche Pflegende tun das auch: Sie sind sich im Klaren darüber, dass sich Patientenorientierung nicht verwirklichen lässt, solange die Bedingungen so sind, wie sie sind. Diese Erkenntnis ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass Pflegende einen kritischen Blick entwickeln für das, was ihnen und den Patienten widerfährt.
Wie kann dies im Rahmen von Praxisanleitung geschehen?
Dass sich Schüler genau damit beschäftigen, was das System mit ihnen macht. Es darf nicht sein, dass Auszubildende die Alltagsbedingungen unreflektiert hinnehmen. Denn eine zeitgemäße Pflege braucht überlegt handelnde Persönlichkeiten, die sich und ihre Umwelt bewusst wahrnehmen. Sie sollten kritisch denken und sich auch berufspolitisch engagieren.
Wie kann man Schülern dabei helfen?
Das ist eine wichtige Aufgabe für Praxisanleiter und Lehrende in den Schulen. Sie müssen mit den Auszubildenden den Widerspruch in den an sie gestellten Anforderungen offen thematisieren. Dies muss nicht zwangsläufig über die Coolout-Studien geschehen, aber ich finde, dass sie ein gutes Medium dafür sind. Denn sie beschreiben sowohl den Widerspruch als auch den Umgang damit sehr genau. Beides gilt es zu diskutieren in der Ausbildung. Ich weiß, dass die Coolout-Studien in manchen Schulen unterrichtet werden und dass sie in den Lehrplan der dreijährigen Ausbildung mancher Bundesländer aufgenommen wurden. Ich leite eine Arbeitsgruppe, in der Lehrer und Praxisanleiter diskutieren und erarbeiten, wie man die Thematik in die Ausbildung integrieren kann. Das ist aus meiner Sicht ein sehr wichtiger Ansatz.
Lassen Sie uns die Rahmenbedingungen einmal ausblenden – wie sieht eine gute Praxisanleitung grundsätzlich für Sie aus?
Praxisanleiter benötigen vor allem ausreichend Zeit, um ihre wichtige Aufgabe wahrzunehmen. Sie benötigen den Respekt ihrer Kollegen, deren Anerkennung und Unterstützung. Zudem sind für eine geplante strukturierte Anleitung eine gute Vor- und Nachbereitung erforderlich. Und: Praxisanleiter müssen über aktuelles pflegefach- liches Wissen verfügen.
Welchen Stellenwert hat pädagogisches Know-how?
Einen hohen Stellenwert. Praxisanleiter müssen in der Lage sein, pädagogisch-didaktische Fragestellungen sehr genau für sich zu beantworten: Wie kann ich Schülern vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Lernstandes eine fachlich fundierte Pflege vermitteln? Welche Bedingungen bietet meine Station dafür? Welche Lernsituationen kann ich wie gestalten? Was sind die Stärken und Schwächen des Auszubildenden? Welche Methoden und Vertiefungsmöglichkeiten kann ich nutzen? Was aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtig ist: Praxisanleiter sind Vorbilder für die Auszubildenden und sie müssen ehrlich mit ihnen umgehen.
Wie meinen Sie das?
Praxisanleiter sollten Schülern nicht nur eine korrekte Pflege vermitteln, sondern sie immer auch dazu auffordern, die Umstände des Stationsalltags mitzudenken. Praxisanleiter und Schüler sollten gemeinsam die jeweiligen konkreten Bedingungen reflektieren und situative Lösungen suchen – im Wissen, dass der Widerspruch nicht aufgelöst werden kann. Das ist schwer auszuhalten, und deshalb benötigen die Auszubildenden eine gezielte Unterstützung. Das muss in Anleitungskonzepten, die die Praxisanleiter lernen, berücksichtig werden.
Praxisanleiter sollten also authentisch sein und die unschönen Seiten des Berufs nicht ausblenden?
Ja, denn sonst werden sie von den Schülern nicht ernstgenommen. Die Schüler kennen ja die – wie Sie sagen – unschönen Seiten. Gute Praxisanleitung bedeutet für mich immer, die pädagogischen Möglichkeiten auszuschöpfen, sich aber auch der Grenzen bewusst zu sein. Indem Praxisanleiter mit den Missständen in der Pflege in dieser Weise offen umgehen, können sie den Schülern eine gute Unterstützung geben.
All dies zeigt: Die Anforderungen an Praxisanleiter sind sehr hoch. Ist die 200-stündige Qualifikationsmaßnahme für Praxisanleiter ausreichend, die in den meisten Bundesländern gilt?
Wenn man sich anschaut, was Praxisanleiter alles leisten sollen, wird schnell klar, dass 200 Stunden definitiv zu wenig sind. Die angehenden Praxisanleiter können in dieser Zeit höchstens einen kleinen Einblick in die vielen relevanten Themen der Pflegepädagogik und -wissenschaft erhalten. Das ist aber zu wenig, wenn man den pädagogischen Anspruch und die Forderung ernst nimmt, evidenzbasierte Pflege nachvollziehbar und – im Spannungsfeld des Alltags – nachhaltig zu vermitteln.
Sie bilden an Ihrer Hochschule Pflegepädagogen aus. Sehen Sie Praxisanleitung als mögliches Betätigungsfeld Ihrer Absolventen?
Manche Absolventen gehen tatsächlich in die Praxisanleitung, weil sie ein großes Interesse an der praktischen Pflegeausbildung haben. Insgesamt sind das aber nur wenige, denn das Studium befähigt ja primär zum Unterrichten in Bildungseinrichtungen.
Ist Praxisanleitung dennoch im akademischen Bereich anzusiedeln?
Das ist eine schwierige Frage, weil man unterschiedliche Perspektiven in den Blick nehmen muss. Für die ideale Qualifikation braucht es zunächst einmal grundsätzlich ausreichend Zeit, um sich mit den relevanten theoretischen Inhalten wissenschaftsorientiert auseinanderzusetzen und sich als Pädagoge in der Anleitung zu erproben. Hierbei gilt es, Theorie und Praxis zu reflektieren, auch hinsichtlich des besprochenen Spannungsfelds. Nimmt man dabei zusätzlich in den Blick, dass sich zum einen die Verwissenschaftlichung der Pflege weiterentwickelt und zum anderen zunehmend Studierende aus Pflegestudiengängen in der Praxis angeleitet werden müssen, so muss man sagen, es braucht aus dem Grunde eine akademische Qualifikation.
Wie könnte so eine akademische Qualifikation aussehen?
Da sind verschiedene Modelle denkbar. An der Hochschule Ludwigshafen am Rhein etwa gibt es im dualen Bachelorstudiengang Pflege Wahlmodule für die Qualifikation zum Praxisanleiter. Zu klären wäre auch – und das ist sehr wichtig für die Praxisanleiter –, wie dann die Vergütung aussehen wird. Und letztlich muss klar sein, dass die Qualifikation der Praxisanleiter – wo und wie auch immer sie ausgestaltet wird – den Widerspruch zwischen pflegefachlichem Anspruch und ökonomischen Zwängen nicht auflösen wird, solange die Bedingungen in der Pflege sich nicht grundlegend ändern.
Frau Professorin Kersting, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.