• 19.05.2020
  • PflegenIntensiv
Die Bundeswehr im Kampf gegen das Coronavirus

Intensivstation über den Wolken

PflegenIntensiv

Ausgabe 2/2020

Seite 32

Intensivstationen erfordern stets reibungslose Abläufe, zuverlässige Technik sowie eine hoch qualifizierte medizinische und pflegerische Behandlung der Patienten. Das gilt erst recht für die mit Medical Evacuation Equipment ausgerüsteten „fliegenden Intensivstationen“ der Bundeswehr. Auch im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie leisten die Sanitätsteams hoch über den Wolken Außergewöhnliches.

„Wir verfügen bereits seit mehr als 20 Jahren über speziell ausgerüstete Luftfahrzeuge, die eigentlich für die Rückholung verwundeter Soldaten aus unseren Einsatzgebieten, z. B. in Afghanistan, gedacht sind“, erläutert Oberfeldarzt Dr. Sven Marquardt, der die Einsätze der medizinischen Luftflotte der Bundeswehr koordiniert. In Deutschland sind derzeit zwei Großraumflugzeuge mit einer solchen Evakuierungstechnik, die kurz MedEvac genannt wird, ausgestattet: ein in Köln stationierter Airbus 310 und eine Langstreckenmaschine vom Typ A400M des Lufttransportgeschwaders 62 im niedersächsischen Wunstorf. Bei Bedarf können auch die VIP-Flugzeuge der Bundesregierung mit MedEvac-Technik genutzt werden.

Coronakrise stellt hohe Anforderungen an Technik, Logistik und Patientenversorgung

„Der A310-MedEvac ist schon länger im Einsatz, das ist sozusagen unser Arbeitspferd bei den Verwundetentransporten, mit sechs Intensivplätzen und insgesamt 44 Betten“, berichtet Marquardt, der früher selbst bei medizinischen Transporten in Kriegsgebieten als Anästhesist und Fliegerarzt mit an Bord war. Heute sorgt er als Leiter der Verwundetenleitstelle beim Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr in Koblenz dafür, dass im Notfall in kürzester Zeit speziell geschulte Crews und Sanitätsteams aus ganz Deutschland zusammengestellt werden, damit die Maschine in weniger als 24 Stunden nach Anforderung vom Boden abheben kann.

Ziel sind dabei immer öfter zivile Krisenherde: „Wir haben zum Beispiel 2002 beim Elbehochwasser mit MedEvac-Einsätzen geholfen, Menschen nach der Tsunamikatastrophe in Thailand evakuiert oder nach einem Busunglück auf Madeira schwer verletzte Touristen in deutsche Krankenhäuser gebracht“, fasst der erfahrene Fliegerarzt die „Highlights“ unter den luftgebundenen zivilen Hilfsaktionen der Bundeswehr innerhalb der letzten Jahre zusammen. Durch die Corona-Krise stehen Marquardt und die von ihm eingesetzten Teams nun erneut im Dienst der Allgemeinheit. Doch diesmal sind die Anforderungen an Technik, Logistik und Versorgung der Patienten höher denn je: Bereits in den ersten Wochen der Pandemie galt es, zahlreiche Schwerstkranke aus Italien und Frankreich zur Weiterbehandlung nach Deutschland zu fliegen – und dadurch Menschen zu retten, die in den vielfach überlasteten medizinischen Einrichtungen ihrer Heimatländer bereits dem Tod geweiht waren: „Ein solcher Einsatz muss stets gründlich vorbereitet und sauber getimet sein“, betont Marquardt. „Die Patienten müssen zunächst vor Ort entsprechend stabilisiert werden, damit sie transportfähig sind. Es kam leider vor, dass wir Patienten aufgrund der Besonderheiten des Lufttransports ablehnen mussten, weil sie den Flug vermutlich nicht überstanden hätten. Für andere war die Evakuierung nach Deutschland eine vielleicht letzte Überlebenschance.“

Bis Ende März brachten die Retter der Lüfte insgesamt 24 Intensivpatienten – etwa aus dem norditalienischen Bergamo oder aus Ostfrankreich – unter schwierigsten Bedingungen in deutsche Krankenhäuser: „Jeder dieser schwerstkranken Patienten musste beatmet werden, zum Teil waren kreislauf-unterstützende Maßnahmen erforderlich. In einigen Fällen kamen zuvor bereits Nierenersatzverfahren zum Einsatz.“

Intensivtherapie auf engstem Raum

Die Crux: Aufgrund des begrenzten Stauraums im Flugzeug ist das medizinische Verbrauchsmaterial im Vergleich zu herkömmlichen Intensivstationen eingeschränkt. Die Patientenbehandlung findet auf engstem Raum statt. Zudem sei der „Umgang mit infektiösen Patienten bereits am Boden eine besondere Herausforderung an ärztliches und pflegerisches Personal“, so Sven Marquardt. Der Einhaltung der Hygienemaßnahmen kommt daher in der Luft eine besondere Bedeutung zu.

Dabei erfordert nicht nur der Eigenschutz von Ärzten, Pflegenden und Sanitätern, sondern auch der Crew im Flugbetrieb hohe Aufmerksamkeit: „An Bord gelten natürlich die nötigen Abstandsregeln und auch Piloten oder Flugbegleiter, die keinen direkten Kontakt zum Patienten haben, werden mit persönlicher Ausrüstung geschützt.“ Ärztinnen und Ärzte tragen ebenso wie die bei Corona-Flügen eingesetzten Pflegefachpersonen zusätzlich Schutzbrillen und -handschuhe, Kittel sowie Kopfhauben.

Vor allem aber für die Patienten selbst bedeutet jeder Lufttransport besonderen Stress. Marquardt nennt die wichtigsten Faktoren: „Bereits der Wechsel des Beatmungsgeräts kann bei einem Intensivpatienten, der komplex beatmet wird, zum Einbruch der Lungenfunktion führen. Hinzu kommen die Besonderheiten der Flugphysiologie: In großer Flughöhe haben wir einen veränderten Luftdruck. Gasgesetze kommen ins Spiel. Ein Organismus, der schon am Boden schlecht mit Sauerstoff versorgt ist, kommt in großer Höhe zusätzlich durch den reduzierten Sauerstoffpartialdruck unter Stress. Dazu kommen die sogenannten ‚Stresses of Flight‘: Lärm, Temperaturschwankungen, Vibrationen, veränderte Luftfeuchtigkeit, Gefahr von Ödembildung. All diese Faktoren bemerken Gesunde in der Regel kaum. Manche haben vielleicht nach einem längeren Flug geschwollene Beine oder Blähungen. Für Intensivpatienten ist ein Flugtransport dagegen immer mit einer weitaus größeren körperlichen Belastung verbunden.“

In der Luft verringert sich der Sauerstoffpartialdruck um rund 25 Prozent. Die Sauerstoffsättigung geht um etwa 7 Prozent zurück. Zugleich steigt der Druck in den Körperhöhlen an, sorgt für „taube Ohren“, Blähungen und ein allgemeines Unwohlsein der Patienten. Ohne die strenge Überwachung der Patienten, die den besonderen Bedingungen eines Lufttransports ausgesetzt sind, würden manche Schwersterkrankte den Flug womöglich nicht überstehen. „Auch Infusionen können durch einen veränderten Luftdruck schneller laufen, ebenso unterliegt der Cuffdruck bei intubierten Patienten den Schwankungen des Luftdrucks. Daher müssen wir vor allem während der Start- und Landephase sowie in der Höhe immer etwas gegenregulieren“, erklärt der Oberfeldarzt.

Intensives Training bereitet auf Lufteinsatz vor

Für ihren Einsatz über den Wolken erhalten die Sanitäterinnen und Sanitäter eine spezielle modulare Zusatzausbildung: Zunächst werden in einem einwöchigen Grundlehrgang die Besonderheiten von Ausstattung und Organisation der „fliegenden Intensivstationen“ vermittelt. Daran schließt sich ein intensives Training an: Der Umgang mit Beatmungsgeräten, das Anlegen von Infusionen, EKG- und Ultraschalluntersuchungen oder etwa der Einsatz von Defibrillatoren unter Flugbedingungen will geübt sein. Neben der Reanimation ist sogar eine Lungenspiegelung möglich. Ähnlich wie im Astronautentraining erfahren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Veränderungen während eines Fluges in der Simulation einer Unterdruckkammer am eigenen Leib.

Zum Abschluss der Ausbildung beweisen die Teams schließlich ihr Können während eines Trainingsflugs mit einer der MedEvac-Maschinen. Sven Marquardt: „Die Behandlung eines Intensivpatienten bei Fluglärm, Turbulenzen und einer Verständigung über Kopfhörer und Mikrofon hat eine andere Qualität als die ohnehin schon anspruchsvolle Intensivmedizin am Boden.“

Die MedEvac-Einsätze sind Teil einer „Großoffensive“ der Bundeswehr im Kampf gegen das Coronavirus. Sanitäterinnen und Sanitäter unterstützen dabei die zivile Gesundheitsversorgung in vielen Bereichen – unter anderem auch auf einigen Intensivstationen der personell oft knapp besetzten Krankenhäuser. Bei alledem sehen sich die medizinisch und pflegerisch ausgebildeten Soldatinnen und Soldaten jedoch keineswegs als Konkurrenz zu ihren zivilen Pendants. Marquardt: „Es geht darum, die Herausforderungen durch die Coronavirus-Pandemie an unser Gesundheitssystem gemeinsam zu meistern.“

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