• News
New Work

Pflegeausbildung braucht mehr Lernräume

Warum starre Lehrpläne die Pflegeausbildung bremsen – und wie Lernräume echte Verantwortung ermöglichen.

Die Pflegeausbildung steckt in starren Strukturen. Doch Fachkräftemangel, Digitalisierung und neue Versorgungsbedarfe verlangen mehr Flexibilität. Lernräume statt Lehrpläne sollen Innovation und Verantwortung fördern – und die Attraktivität des Berufs steigern.

Die Pflegeausbildung steckt in einem engen Korsett aus Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen, staatlichen Vorgaben und strengen Aufsichtsstrukturen. Vieles ist bis ins Detail geregelt: von der Zahl der Unterrichtsstunden über die Inhalte bis hin zu Prüfungsmodalitäten. Diese Verbindlichkeit sorgt zwar für Struktur und Orientierung, schafft aber auch ein Problem, denn sie lässt kaum Raum für Innovation. Wer Ausbildung nur verwaltet, wird jedoch weder Fachkräfte sichern noch den Beruf attraktiv machen.

Die Realität der Pflege verändert sich rasant: Digitalisierung, interprofessionelle Zusammenarbeit, neue Versorgungsbedarfe und steigende Erwartungen an Patientensicherheit stellen den Beruf vor enorme Herausforderungen. Die Ausbildung muss Schritt halten. Doch vor allem muss sie dafür sorgen, dass junge Menschen Lust haben, diesen Beruf zu ergreifen. Zukunft entsteht nicht durch das Abhaken von Lehrplänen, sondern durch Lernräume, die Verantwortung ermöglichen.

Verantwortung übernehmen statt nur lernen

Pflegeauszubildende brauchen heute mehr als reines Fachwissen. Entscheidend ist, dass sie frühzeitig Verantwortung übernehmen dürfen. Lernräume können dabei ganz unterschiedlich gestaltet sein:

  • In Ausbildungsstationen übernehmen Auszubildende im geschützten Rahmen die Organisation einer Station und erleben, wie es ist, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen.

  • Im Skills Lab werden komplexe Situationen realitätsnah trainiert und reflektiert – ein wichtiges Übungsfeld, in dem Fehler erlaubt und Lernprozesse sichtbar werden.

  • In interprofessionellen Projekten arbeiten Pflegeauszubildende mit Medizinstudierenden und anderen Gesundheitsberufen zusammen. Sie durchspielen Versorgungsszenarien, lernen die Perspektiven anderer Professionen kennen und üben die Zusammenarbeit.

  • In interprofessionellen Ausbildungsstationen schließlich gehen Lernende noch einen entscheidenden Schritt weiter: In diesen gestalten sie nicht nur Szenarien, sondern den gesamten Stationsablauf aktiv mit – von der Dienst- und Aufgabenplanung über die Dokumentation bis hin zur direkten Versorgung von Patient:innen. Verantwortung wird hier nicht simuliert, sondern tatsächlich gelebt.

Allen diesen Formaten ist gemeinsam, dass sie spürbar machen, wie wichtig die Rolle der Lernenden ist. Wer Entscheidungen trifft, Abläufe gestaltet und erlebt, dass das eigene Handeln Konsequenzen für Patient:innen hat, entwickelt ein starkes berufliches Selbstverständnis. Das verhindert Demotivation, reduziert Ausbildungsabbrüche und stärkt die Bindung an den Beruf.

Frage an Entscheider:innen: Was wäre, wenn wir die Lernenden nicht länger als "Zuschauende" behandelten, sondern ihnen echte Verantwortung zutrauten?

Innovation mit Risiko – und Wirkung

Viele Innovationen in der Pflegeausbildung beginnen als Experimente – etwa ein Barcamp, bei dem die Lernenden die Agenda selbst bestimmen. Oder ein Outreach-Programm wie die "Mini Nurse AcadeME", das Jugendlichen ab der 5. Klasse erste Begegnungen mit Gesundheitsberufen ermöglicht. Oder eine Zusatzqualifikation, die pädiatrische Kompetenzen vermittelt, obwohl dies nicht zwingend im Curriculum vorgesehen ist.

Solche Ideen sind oft nicht perfekt durchgeplant und manchmal provisorisch. Aber genau darin liegt ihre Stärke: Sie eröffnen neue Perspektiven, wagen Neues, machen Fehler sichtbar – und lernen daraus. Innovation ohne Risiko gibt es nicht. Entscheidend ist: Wer wagt, gewinnt.

Was in der Start-up-Welt als Minimum Viable Product (MVP) gilt, hat auch in der Pflegeausbildung seinen Wert: Lieber klein anfangen, Erfahrungen sammeln und Anpassungen vornehmen, als mit großem Aufwand ein vermeintlich fertiges Konzept zu entwickeln, das an den Bedürfnissen der Praxis vorbeigeht. Die Devise lautet daher: Mehr MVP wagen!

Denn diese Formate steigern nicht nur die Attraktivität der Ausbildung, sondern schaffen auch Sichtbarkeit nach außen. Und Sichtbarkeit ist kein Luxus. Sie ist ein zentraler Faktor der Fachkräftesicherung. Wer Pflege erlebbar und nahbar macht, weckt das Interesse von Jugendlichen, die sonst nie an eine Pflegeausbildung gedacht hätten. Gleichzeitig wirkt Sichtbarkeit nach innen. Die Lernenden erleben, dass ihre Arbeit wahrgenommen wird und einen Unterschied macht.

Ausbildung "made to measure"

Pflegeausbildung darf kein Job von der Stange sein. Jeder Mensch bringt eigene Voraussetzungen, Lebenssituationen und Talente mit. Deshalb brauchen wir Ausbildungsstrukturen, die individuelle Wege ermöglichen. Das bedeutet:

  • Individuelle Förderpläne, die Stärken fördern und Schwächen adressieren.
  • Nachwuchsprogramme, die besonders engagierten Auszubildenden Verantwortung und Sichtbarkeit geben.
  • Kongressteilnahmen, die Lernende mit neuen Impulsen konfrontieren – und ihnen zutrauen, dieses Wissen wiederum in die Ausbildung zurückzutragen.
  • Work-Life-Balance auch für Auszubildende, damit nicht nur Fachwissen, sondern auch Gesundheit und Resilienz wachsen können.

Solche Maßnahmen wirken doppelt: Sie professionalisieren die Ausbildung und erhöhen zugleich die Attraktivität des Berufs. Denn wer schon in der Ausbildung Wertschätzung erfährt, bleibt eher dabei.

Gesellschaftliche Verantwortung

Eine Pflegeausbildung ist nie nur eine individuelle Qualifizierung, sondern immer auch eine gesellschaftliche Aufgabe. In Zeiten des Fachkräftemangels hat sie eine strategische Bedeutung, die weit über Schulen und Kliniken hinausreicht.

Ein Beispiel ist die Schulsozialberatung, die Auszubildende professionell begleitet und somit Ausbildungsabbrüche reduziert. Weitere Beispiele sind die bereits erwähnten Outreach-Formate. Ebenso wichtig sind Präventionsprogramme, die mentale Gesundheit stärken und die Resilienz der Lernenden fördern.

Die Botschaft ist klar: Ausbildung ist kein reines Binnenprojekt. Sie ist Teil einer aktiven Fachkräftestrategie und somit auch ein politisches Thema. Wer die Ausbildung modernisiert, stärkt nicht nur einzelne Schulen oder Kliniken, sondern das gesamte Gesundheitssystem.

Pflegeausbildung am Scheideweg

Die Pflegeausbildung steht an einem Scheideweg. Sie kann in engen Strukturen verharren oder den Mut finden, Lernräume zu schaffen, in denen Verantwortung nicht nur vermittelt, sondern gelebt wird.

"New Work" ist dabei kein Schlagwort, sondern eine Haltung: Kommunikation, Selbstorganisation, Kooperation, Verantwortung, Experimentieren und Sichtbarkeit sind die Prinzipien, die die Ausbildung heute braucht.

Ihr Nutzen zeigt sich unmittelbar: Lernende erleben, dass sie etwas bewirken können, entwickeln ein stabiles berufliches Selbstverständnis und bleiben dem Beruf eher treu. Und auch die gesellschaftliche Dimension ist unübersehbar. Eine Ausbildung, die auf Beteiligung und Verantwortung setzt, macht Pflegeberufe attraktiver, senkt die Abbruchquoten und wirkt wie ein Hebel gegen den Fachkräftemangel.

Nicht New Work ist teuer, der Verzicht darauf ist es.

 

Hinweis:
Der Beitrag basiert auf einem ausführlicheren Praxisbericht: Ulrich Wirth: Kein Job von der Stange: Wie New Work die Ausbildung von Gesundheitsfachberufen neu denkt. Erfahrungen aus einer Universitätsklinik. In: Patrick Merke (Hrsg.): New Work in Healthcare. Die neue und andere Arbeitskultur im Gesundheitswesen. 2., überarb. Auflage. Berlin: MWV 2025, S. 261 ff. Dort finden sich weitere Beispiele und vertiefende Analysen.

Autor

Kostenloser Newsletter

  • 2x Wöchentlich News erhalten
  • garantiert kostenlos, informativ und kompakt
* Ich stimme den Bedingungen für den Newsletterversand zu. 

Bedingungen für Newsletterversand:

Durch Angabe meiner E-Mail-Adresse und Anklicken des Buttons „Anmelden“ erkläre ich mich damit einverstanden, dass der Bibliomed-Verlag mir regelmäßig pflegerelevante News aus Politik, Wissenschaft und Praxis zusendet. Dieser Newsletter kann werbliche Informationen beinhalten. Die E-Mail-Adressen werden nicht an Dritte weitergegeben. Meine Einwilligung kann ich jederzeit per Mail an info@bibliomed.de gegenüber dem Bibliomed-Verlag widerrufen.