Seit der Einführung der generalistischen Pflegeausbildung (GPA) im Jahr 2020 sollen künftige Pflegefachpersonen umfassend für alle Versorgungsbereiche qualifiziert werden. Eine Befragung von Schulleitungen aus Nordrhein-Westfalen zeigt jedoch: Die Umsetzung bringt erhebliche Herausforderungen mit sich – insbesondere in der Praxis.
Die im Januar 2020 eingeführte generalistische Pflegeausbildung (GPA) war ein Meilenstein für die Pflegeberufe in Deutschland. Ziel der Reform war es, die Pflegeausbildung zu modernisieren, die Berufsfelder zu vereinen und Pflegefachpersonen für alle Versorgungsbereiche zu qualifizieren. Doch wie wird diese Reform in der Praxis umgesetzt? Eine aktuelle Befragung von Schulleitungen aus Nordrhein-Westfalen (NRW) zeichnet ein differenziertes Bild.
Hintergrund: Warum wurde die Generalistik eingeführt?
Die Pflegebranche ist tiefgreifenden gesellschaftlichen und demografischen Veränderungen unterworfen. Die Lebenserwartung steigt, die Geburtenrate bleibt niedrig und die Zahl der Pflegebedürftigen wächst kontinuierlich. Prognosen zufolge wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis 2055 um 37 Prozent steigen, in NRW um 33 Prozent.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurde mit dem Pflegeberufegesetz (PflBG) die GPA eingeführt. Sie vereint die vormals getrennten Ausbildungszweige der Altenpflege, der Gesundheits- und Krankenpflege sowie der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege.
Vorteile: mehr Flexibilität, breitere Einsatzmöglichkeiten und eine höhere Durchlässigkeit zwischen den Pflegebereichen.
Nachteile: Verlust spezialisierter Kompetenzen, Herausforderungen insbesondere bei der Qualität der Praxisanleitung und der Verfügbarkeit qualifizierter Lehrkräfte.
Die Befragung: Stimmen aus den Pflegeschulen
Elf Schulleitungen aus NRW wurden schriftlich zu ihren Erfahrungen mit der GPA befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Reform zwar grundsätzlich begrüßt wird, aber in der Umsetzung auf erhebliche Hürden stößt.
Herausforderungen bei der Anpassung der Ausbildungsstruktur
- Fehlende praktische Einsatzmöglichkeiten wurden von 82 Prozent der Befragten als größtes Problem genannt.
- Mangel an Ressourcen wie Personal und Zeit wurde von 73 Prozent als relevant eingestuft.
- Weitere Hürden: fehlende Absprachen zwischen Institutionen (45 %), Widerstände von Lehrkräften (18 %) und infrastrukturelle Defizite bei pädiatrischen Einsätzen.
Probleme bei der Umsetzung der Generalistik in NRW
- Fachkräftemangel in Ausbildung und Praxisanleitung wurde von 73 Prozent als zentrales Problem genannt.
- Unzureichende Praktikumsplätze (45 %) und fehlende Koordination zwischen Theorie und Praxis (36 %) erschweren die Umsetzung.
- Nur neun Prozent der Befragten sahen keine wesentlichen Herausforderungen.
Ausbildungsqualität: Luft nach oben
- 46 Prozent bewerten die Vorbereitung der Auszubildenden auf den Beruf als "ausreichend", 27 Prozent als "befriedigend".
- Nur neun Prozent halten die Vorbereitung für "sehr gut" – niemand stufte sie als "mangelhaft" ein.
- Die Abstimmung der Ausbildungsinhalte mit den Anforderungen des Berufs wurde mehrheitlich als "mäßig" bewertet (64 %).
Vorteile der Generalistik: Flexibilität und Zukunftsfähigkeit
Trotz der Herausforderungen sehen die Befragten auch klare Vorteile:
- Höhere Anpassungsfähigkeit an künftige Anforderungen (73 %)
- Mehr Flexibilität in der Ausbildung (55 %)
- Breitere berufliche Einsatzmöglichkeiten (36 %)
- Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Versorgungsqualität wurden positiv bewertet.
Was muss sich verbessern?
Die dringendsten Herausforderungen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität:
- Breitere berufliche Einsatzmöglichkeiten (73 %)
- Bessere Versorgungsqualität und höhere Anpassungsfähigkeit (jeweils 55 %)
- Mehr Flexibilität und Förderung interdisziplinärer Zusammenarbeit (36 %)
- Weitere Wünsche: klarere Lehrplanvorgaben, optimierte Prüfungsprozesse und mehr Simulationstraining.
Diskussion: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die GPA hat das Potenzial, die Pflegeausbildung zukunftsfähig zu gestalten. Doch die Befragung zeigt, dass strukturelle Defizite die Umsetzung erschweren. Besonders kritisch sehen die Schulleitungen:
- Den Mangel an qualifizierten Praxisanleitenden und Lehrkräften.
- Die fehlende Standardisierung der Rahmenlehrpläne.
- Die schwache Praxisintegration der theoretischen Inhalte.
Ein weiteres Spannungsfeld: Die GPA reduziert Spezialisierungen, etwa in der Altenpflege oder Kinderkrankenpflege. Einige Befragte befürchten, dass dies langfristig die Versorgungsqualität in diesen Bereichen beeinträchtigen könnte.
Fazit: Reform mit Potenzial – aber auch mit Baustellen
Die generalistische Pflegeausbildung wird von vielen Schulleitungen als sinnvoller Schritt gesehen, um die Pflegeberufe zu stärken und zukunftsfähig zu machen. Doch die Umsetzung zeigt: Es braucht mehr Ressourcen, bessere Abstimmung zwischen Theorie und Praxis sowie eine stärkere Einbindung der Praxisanleitenden.
Die Generalistik ist ein wichtiger Reformschritt – aber sie muss weiterentwickelt werden, damit sie ihr volles Potenzial entfalten kann.
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