Ein Entlastungstarifvertrag kann nur ein erster Schritt sein hin zu besseren Rahmenbedingungen für die Pflege. Ein Kommentar.
In Nordrhein-Westfalen streiken die Pflegenden an den Universitätsklinika seit mehreren Wochen für einen sog. Entlastungstarifvertrag. Dieser sieht – vereinfacht formuliert – für jede Schicht auf jeder Station eine personelle Mindestanzahl und bei Unterschreitung dieser einen Ausgleich für das Pflegepersonal in Form von Freizeit oder Geld vor.
Sind also in einer Frühschicht drei Pflegefachpersonen als Mindestanforderung festgelegt worden und wird diese Zahl unterschritten, weil beispielsweise eine Pflegefachperson krank geworden und kein Ersatz zu beschaffen ist, freuen sich die anderen beiden Pflegenden über entweder mehr Freizeit oder mehr Geld in der Tasche.
Der Streik ist gut begründet
Entlastung, mehr Freizeit oder auch mehr Geld sind grundsätzlich legitime Forderungen eines Streiks. Dies umso mehr angesichts der Belastung, der sich professionell Pflegende tagtäglich ausgesetzt sehen, und, wie immer wieder als Streikargument richtigerweise angeführt, dem Fakt, dass ein „Weiter so“ den Pflexit beschleunigen wird und Gefährdungssituationen für Patientinnen und Patienten durch ständige Unterbesetzung und Überlastung des Pflegepersonals zunehmen werden.
Doch handelt es sich wirklich um einen Meilenstein in der Geschichte der deutschen Pflegelandschaft, wenn sich die Pflege nach den Jahren der Demütigung endlich auf den Weg macht, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?
Der Streik ist gut begründet und nachvollziehbar, der Streik insoweit also ein Meilenstein in der deutschen Pflegegeschichte. Und doch bleibt das zu erwartende Ergebnis, der Entlastungstarifvertrag, nicht nur hinter den Forderungen der Streikenden zurück – etwas völlig Normales für Arbeitsniederlegungen. Scharf formuliert ist er auch ein pflegerisch-gewerkschaftliches Produkt der Verantwortungslosigkeit, in dem der Geist nach „historischen Meilensteinen“ und kurzatmigen Erfolgen weht.
Pflege von kranken, alten oder beeinträchtigten Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die die Gesellschaft den professionell Pflegenden als Berufsgruppe bei Bedarf überträgt. Somit übernehmen die Pflegenden eine herausfordernde gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den ihnen anvertrauten pflegebedürftigen Menschen.
Pflege ist keine moralische Selbstverpflichtung
Fälschlicherweise wird immer wieder angenommen, dass sich aus dieser Verantwortungsübernahme der Pflegenden eine moralische Selbstverpflichtung der pflegerischen Versorgung ableiten ließe, die völlig unabhängig der Rahmenbedingungen zu erfüllen sei.
Dem ist aber mitnichten so, denn die Bedingungen, unter denen sich Pflege vollzieht, lassen sich nur gesamtgesellschaftlich vereinbaren, da sie in jeder Hinsicht, ob finanziell oder personell, die gesamte Gesellschaft betreffen. Wenn also die Gesellschaft und ihre politischen Vertreterinnen und Vertreter nicht bereit sind, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass sich die Übernahme der Verantwortung aus dem Selbstverständnis von professioneller wissenschaftlich fundierter empathischer und bedürfnisgerechter Pflege heraus rechtfertigen lässt, muss die Berufsgruppe der Gesellschaft unmissverständlich darlegen, dass die derzeitige Form der Versorgung nicht mehr möglich ist.
Zwischen Mittäterschaft und Rechtfertigung
Diese Überlegungen führen nun zu dem Schluss, dass der Streik nicht deshalb verantwortungslos ist, weil Patientinnen und Patienten nicht gepflegt, operiert und behandelt werden können. Sondern er ist verantwortungslos, weil die Pflege sich mit einem möglichen Entlastungstarifvertrag zur Mittäterin macht, indem sie die grundlegende Fragestellung – unter welchen Bedingungen diese Gesellschaft professionelle Pflege will, wenn sie sie überhaupt will – ungewollt übermalt und übertüncht.
Zu plakatieren, dass professionelle Pflege unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich ist und eine Gefährdungslage für die Patientinnen und Patienten darstellt, ist scheinheilig, wenn gleichzeitig Arbeitgebende tariflich die personelle Unterbesetzung damit legitimieren, dass sie einen Freizeit- oder Geldausgleich spendieren. Dies führt die gerechtfertigte Argumentation für den Streik ad absurdum.
Wer käme bei der Lufthansa auf die Idee, einen Entlastungstarifvertrag zu unterschreiben, wenn darin festgehalten würde, dass ein Passagierflugzeug zwar grundsätzlich zwei Piloten zum Abheben benötigt, aber es mit einem Piloten dann möglich sei, wenn dieser einen Freizeitausgleich erhielte? Niemand!
Bessere Rahmenbedingungen schaffen
Wenn diese Gesellschaft professionelle Pflege möchte, muss sie dafür Rahmenbedingungen schaffen, die es der Berufsgruppe der professionellen Pflegenden ermöglicht, pflegerische Versorgung auf höchstem Niveau jederzeit zu leisten und höchstattraktiv für den Nachwuchs zu sein. In Anbetracht der Verrentung ganzer Generationen von Pflegefachpersonen und einer schnell alternden Gesellschaft ist dies dringlicher als je zuvor.
Bis wir allerdings diesen gesellschaftlichen Rahmenvertrag miteinander neu vereinbart haben, dürfen wir uns als verantwortungsbewusste Pflegefachpersonen nicht mit freien Tagen abspeisen lassen. Wir sollten stattdessen dafür streiken, dass die Versorgungsangebote auf ein Maß reduziert werden, in dem verantwortungsvolle professionelle Pflege jederzeit möglich ist. Unsere Gesellschaft muss spüren, dass professionelle Pflege kein selbstverständliches, immer fortwährendes, kostengünstiges Dauerangebot auf unserem moralischen Rücken ist.
Pascal Langensiepen
Tarifkonflikt an Uniklinika in NRW
Ein Ende des Streiks an den Uniklinika in Nordrhein-Westfalen (NRW) ist weiter nicht absehbar. Die Gewerkschaft Verdi hat Streikmaßnahmen und weitere Verhandlungstage bis mindestens 1. Juli angekündigt.
Laut Verdi-Landesleiterin in NRW Gabriele Schmidt habe die Arbeitgeberseite "leider die Chance verpasst", eine rasche und konstruktive "Lösung im Tarifkonflikt zu erreichen". Schmidt sagte am Freitag:
"Es ist für uns absolut unverständlich, warum sich die Arbeitgeber weiterhin Entlastungsmodellen versperren, die an Kliniken wie der Charité oder der Universitätsklinik Mainz erfolgreich erprobt sind."
Zuletzt hatte sich die Gewerkschaft zuversichtlich geäußert und ein Ende der Tarifverhandlungen in der Vorwoche in Aussicht gestellt. Mangels einer Einigung in entscheidenden Knackpunkten würden Verhandlungen und Streik fortgesetzt.