In einem ausführlichen Kommentar fällt Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler über die von der Bundesregierung vorgelegten Reformpläne zur Pflegeversicherung ein vernichtendes Urteil. Die Professorin zeigt auf, dass sich Politik und Gesellschaft mitten in einem Funktionsverlust des Sozialgesetzbuchs befinden und Lösungen für die Zukunft ausbleiben.
Ich kenne den Spruch "Never change a winning system", aber beim Sozialgesetzbuch (SGB) XI, das man leider Pflegeversicherung genannt hat, ist der politische Wille offensichtlich, sich der Maxime zu nähern "Never change a failing system". Wobei ich hier betonen will, dass das SGB XI kein System ist und wir vor allen Dingen in Deutschland kein Pflegesystem haben.
Nun liegt der Bericht der Bundesregierung zur langfristigen Finanzierung der Pflegeversicherung vor. Hier sagt die Überschrift bereits alles: Es geht nicht um die Frage, wie man die Langzeitversorgung verbessern kann, welche strukturellen Probleme im SGB XI liegen, welche Art der Versorgung oder welche Ziele oder welches Qualitätsniveau erreicht werden sollen. Nein, es geht ganz schlicht nur darum, ein insuffizientes SGB mit irgendeinem Finanzierungsmodell am Leben zu erhalten.
Allein die szenarienprägenden Merkmale (S. 13 des Berichts), wie Leistungsdynamisierung, Lohnentwicklung und Pflegeprävalenz, die offensichtlich den möglichen unterschiedlichen Berechnungen zugrunde gelegt wurden, zeigen, wie konservativ dieser Bericht erstellt werden sollte. Dabei gilt zu beachten, dass die Pflegeprävalenz allein von den Daten der Pflegeversicherung, also der als nach dem SGB XI anerkannten Pflegebedürftigen, ausgeht. Das Instrument zur Messung von Pflegebedürftigkeit misst – wenn wir Glück haben – ein Selbstständigkeitsdefizit. Es sind niemals ein Konstrukt von Pflegebedürftigkeit hinterlegt oder die Gütekriterien des Instrumentes untersucht worden.
Soziale Ungleichheit nimmt zu
Es gibt Hinweise, dass diverse Bevölkerungsgruppen mit diesem Instrument benachteiligt werden und die Varianz in der Einschätzung von Pflegegraden sehr hoch sowie der Interpretationsspielraum sehr groß sind, was auf eine ungünstige Interrater-Reliabilität hinweist. Die Pflegeprävalenz auf dieses Instrument vorauszuberechnen, kann man als schwierig betrachten.
Des Weiteren ist die Entwicklung von Pflegebedürftigkeit auch von diversen sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig, die leider in Deutschland nicht diskutiert werden, aber auf die Prävalenz Auswirkungen haben. Die Zeiten werden schlechter und damit auch die soziale Ungleichheit und die Chance, dass die Prävalenz "Pflegebedürftigkeit" im Verständnis des SGB XI zunimmt.
Interessant finde ich den Satz auf S. 24, dass der wachsende Anteil pflege- und hilfebedürftiger Menschen nicht zu einem Funktionsverlust des SGB XI und nicht zu einem Vertrauensverlust in das SGB XI führen darf. Warum nicht? Wir befinden uns mitten in einem Funktionsverlust dieses Sozialgesetzbuches. Dieser Satz zeigt, dass nicht verstanden wird, dass wir bereits in diesem Prozess sind. Das SGB XI wollte nie für eine bedarfsangemessene Langzeitversorgung zahlen und kann immer weniger die Grundversorgung leisten, die das SGB XI nur ermöglicht. Aus welchen Gründen kann man nicht unter ehrlicher Analyse feststellen, dass dieses SGB XI nicht mehr die ursprünglich intendierten Ziele erreichen kann? Stattdessen wird zwanghaft versucht, mit irgendwelchen Szenarien und Rechenmodellen dieses SGB XI mit verschiedenen Maßnahmen am Leben zu erhalten. Die auf S. 16f formulierten Ziele des SGB XI zeigen sehr, sehr deutlich: Es geht im gesamten SGB XI überhaupt nicht um die Finanzierung der pflegefachlichen Versorgung.
Toxisch für Pflegefachberufe
Ich hoffe, dass irgendwann mal alle mächtigen Entscheidungstragenden im Gesundheitssystem und in Politik dieses verstehen und endlich aufhören, SGB XI mit Pflegefachberufen zu verwechseln und gleichzusetzen, denn das ist toxisch für die Pflegefachberufe. Auf dieses Problem komme ich später noch einmal zu sprechen.
Sogleich schließt sich auf S. 24 dann ein inhaltsleerer Satz zur Demografiefestigkeit an. Es ist so ein typischer politischer Satz, der wenig darüber aussagt, wie man ein Problem lösen möchte. Vor allen Dingen wird dieser Satz wieder mit Bedarfsgerechtigkeit in Verbindung gebracht und ich kann es nicht häufig genug betonen: Bedarfe spielen im SGB XI gar keine Rolle – haben sie auch noch nie.
Begriff "Pflegebedarf" konsequent falsch genutzt
Deswegen verstehe ich die Überschrift von Kapitel 4.2 nicht, die betitelt ist mit „Finanzielle Belastungen der Menschen mit Pflegebedarf“. Hier würde ich erwarten, dass die bestellten Expertinnen und Experten in der Semantik, aber auch im Sprachgebrauch in der Intention des SGB XI bleiben: es geht um die finanziellen Belastungen der Menschen, die nach SGB XI als pflegebedürftig anerkannt sind. Pflegebedarf wird nicht ansatzweise erhoben und auch nicht finanziert. Es ist erschreckend, dass auch in einem Expertengremium wie diesem die Begriffe nicht sauber voneinander getrennt werden. In Kapitel 6.2 und im gesamten Text taucht dann immer wieder der Begriff "Pflegebedarf" auf. Es ist sehr ärgerlich, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ginge es im SGB XI um Pflegebedarfe. Es ist extrem nervig, dass der Begriff "Pflegebedarf" so konsequent falsch genutzt wird, und ich frage mich, ob da eine Intention hinter versteckt ist.
Ganz sicher geht es nirgendwo im SGB XI um Pflegebedarfe. In der öffentlichen und politischen Diskussion gehen die Begriffe der Pflegebedürftigkeit und Pflegebedarfe immer wieder durcheinander. Das SGB XI hat die Aufgabe, die individuelle Pflegebedürftigkeit nach dem Verständnis des SGB festzustellen, damit limitierte Leistungen, meistens organisatorischer Art und als Ersatz zur Angehörigenpflege, in Anspruch genommen werden können. Die möglichen Leistungen bewegen sich dabei überwiegend im Bereich der Basisversorgung.
Pflegebedarf ist das, was eine Pflegefachperson unter Einsatz des Pflegeprozesses und passender validierter Assessmentinstrument als relevant einschätzt, um eine qualitativ hochwertige gesundheitspflegerische Versorgung umzusetzen. Es handelt sich also um die Einschätzung der Pflegediagnose und Pflegeintervention, die Umsetzung dieser und der Überprüfung der Pflegeoutcomes. Die pflegerische Gesundheitsversorgung bewegt sich innerhalb der gerontologischen, gerontopsychiatrischen, präventiven, gesundheitsförderlichen, rehabilitativen, akuten, palliativen pflegefachlichen Versorgung und außerhalb der Basisversorgung des SGB XI.
Fachwissenschaften im Expertengremium nicht vertreten
Die Zusammensetzung der Expertinnen und Experten zeigt sogleich, wie konservativ über das SGB XI gedacht werden soll. Es sind überwiegend Gesundheitsökonominnen und -ökonomen oder Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit einem Schwerpunkt in Finanzierung vertreten. Der Anteil der Männer überwiegt und es sind natürlich keine Fachwissenschaftlerinnen und -fachwissenschaftler vertreten – sich kritisch äußernde Personen schon mal gar nicht. Schließlich gilt es, ein SGB am Leben zu erhalten.
Des Weiteren wird der Eindruck erweckt, als wenn es sich um eine solidarische Versicherung wie das SGB V handele. Das ist falsch. Das SGB XI ist eine Versicherungsart, die im Wesentlichen auf dem Subsidiaritätsprinzip, also auf Eigenleistungen der Versicherten, beruht und nur zu einem kleinen Teil limitierte und festgelegte Leistungen des SGB XI in Anspruch genommen werden können. Darauf weisen die Expertinnen und Experten auch hin, aber trotzdem wird diese Illusion immer wieder genährt.
Massiver Fehler, das SGB XI mit Pflegefachberufen zu verwechseln
Nicht erklärbar ist der Abschnitt zur sogenannten "Fachkräftesicherung" im SGB XI. Es geht an keiner Stelle um die Finanzierung der differenzierten pflegefachlichen Versorgung, in allen Bundesländern machen sich die Mächtigen im SGB XI, also die Pflegekassen und deren Vertragspartner (Arbeitgeberverbände und Wohlfahrtsverbände) auf den Weg, mit Vereinbarungen dafür zu sorgen, dass minderqualifizierte Helferinnen und Helfer alle Aufgaben und Verantwortlichkeiten übernehmen sollen. Mir stellt sich die nicht mal provokativ gemeinte Frage, für welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten im SGB XI sie eingesetzt werden sollen, wenn deren Leistungen nicht finanziert und verhandelt werden, sondern seit Bestehen des SGB XI die Erwartungshaltung von den Verantwortlichen im System ist, dass diese umsonst erbracht werden sollen? Die Autorinnen und Autoren des Berichts begehen damit denselben massiven Fehler wie die Politikerinnen und Politiker sowie Entscheidungstragenden im System, nämlich das SGB XI mit Pflegefachberufen zu verwechseln. Nur weil irgendwo Pflege drinsteht, ist nicht Pflege drin.
Interessanterweise fehlt in diesem gesamten Bericht genau diese kritische Analyse: Nämlich, dass seit Bestehen des SGB XI die Einrichtungen und Dienste in der Unterfinanzierung der pflegefachlichen Leistungen sind und Pflegebedarfe in der Finanzierung der Leistungen durch das SGB XI keine Rolle spielen. Aber gleichzeitig werden mit jeder Reform des SGB XI die Anforderungen höher, da immer wieder Reformen hineinreformiert werden, die irgendwie – ohne diese Finanzierung zu sichern – die Versorgung verbessern sollen.
Kritische Analyse fehlt
Auch zu diesem Punkt wäre es sehr angebracht gewesen, wenn die Expertinnen und Experten getrennt hätten zwischen dem SGB XI und den Pflegefachberufen sowie deren Ausbildung und Qualifikation. Das eine hat mit dem andere nichts zu tun und solange das SGB XI keine pflegefachlichen Leistungen zahlt, wird das SGB XI diese auch nicht erbringen können und ist das SGB XI auf Dauer immer weiter uninteressant für Absolventinnen und Absolventen von Pflegeausbildung und Pflegestudium. Es wäre sehr fein gewesen, wenn das Expertenteam festgestellt hätte, dass seit 1995 pflegefachliche Leistungen nicht ansatzweise verhandelt werden und damit die Finanzierungslücke sehr viel größer ist als das Team immer wieder gern ausrechnet.
Und weil die Expertinnen und Experten, die für diesen Bericht zuständig waren, vom absolut unzureichenden Status quo der Leistungen des SGB XI ausgehen, sind auch die Modellrechnungen konservativ-erhaltend. Selbst zur Berechnung der sogenannten Pflegevollversicherung wird nicht ansatzweise kritisch reflektiert, dass kaum pflegefachliche Leistungen im Sinne der Pflegefachlichkeit ausgehandelt und finanziert werden. Es wird kritiklos davon ausgegangen, dass die jetzigen Kosten sämtlich „Pflegekosten“ seien. Aber was sind denn „Pflegekosten“? Ich hätte gern eine Definition dazu. Sind das Kosten, die in den Einrichtungen und Diensten prinzipiell anfallen? Sind es die Eigenleistungen, die Angehörige einbringen? Eine Pflegevollversicherung, die wirklich den Namen verdient, müsste ganz anders aufgestellt sein und dürfte niemals eine kritiklose Fortführung des SGB XI darstellen.
Dieser Bericht wurde offensichtlich ohne Integration bereits vorhandener Daten erstellt, die grundlegend gewesen wären, um die Finanzierung des SGB XI beurteilen zu können. So fehlen jetzt beispielsweise die Berechnungen der Eigenleistungen der pflegenden Angehörigen. Wie hoch ist bereits der Anteil der Eigenleistungen in Euro? Es wird nicht berechnet, wie hoch der volkswirtschaftliche Schaden ist, wenn pflegende Angehörige wegen des dominanten Subsidiaritätsprinzips ihre Arbeitszeit reduzieren oder aufgeben müssen. Es wird unterschlagen, dass jeder fünfte pflegende Angehörige von Armut bedroht ist.
Bericht mit einer sehr eingeengten Perspektive erstellt
Die seit 1995 bekannten hohen physischen und psychischen Überlastungen der pflegenden Angehörigen, die sich bei jeder Erhebung wieder so zeigen, werden auch in den Kosten, etwa für das Gesundheitssystem, nicht mitkalkuliert. Ich frage mich, warum nicht? Diese Leistungen gehören elementar zum SGB XI, ohne diese Eigenleistungen würde das SGB XI bereits lange nicht mehr am Leben sein. Stattdessen wird sich schlicht an der Leistungsinanspruchnahme orientiert. Dabei werden auch hier die aktuellen Daten einbezogen. So zeigt sich zum Beispiel in aktuellen Zahlen, dass weniger Menschen die stationäre Langzeitpflege in Anspruch nehmen oder mehr Menschen allein von Angehörigen zu Hause versorgt werden: Worin liegen die Gründe für geringere Inanspruchnahmen? Gibt es eine Unterversorgung bereits nur in den limitierten Grundversorgungsmöglichkeiten des SGB XI? Können gewünschte Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, weil etwa ambulante Dienste nicht vor Ort sind? Diese Fragen sind nur beispielhaft, um darzustellen, dass dieser Bericht mit einer sehr eingeengten Perspektive erstellt wurde und die zahlreichen Herausforderungen nicht ansatzweise adressiert wurden.
Stattdessen geht die Autorenschaft nur auf die Eigenanteile ein, die bei Inanspruchnahme stationärer Langzeitpflege gezahlt werden müssen. Die Expertinnen und Experten vergessen den hohen relevanten Anteil der Eigenleistungen, den Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegepersonen einbringen (müssen), damit die Versorgung im häuslichen Bereich möglich ist. Kein Wort darüber, dass mehr als 50 Prozent der nach SGB XI anerkannt Pflegebedürftigen allein von Angehörigen zu Hause versorgt werden und das über Jahre. Warum sind die Eigenleistungen nicht als Szenarien-prägende Merkmale mit in die Kalkulation eingeflossen? Denn diese Ressourcen werden wegen der demografischen Alterung geringer und werden die Inanspruchnahme der limitierten Leistungen des SGB XI beeinflussen.
Den einzelnen Szenarien liegt immer wieder der Ansatz zugrunde, dass die Menschen zusätzlich als "Eigenleistung" noch etwas ansparen, damit die Langzeitversorgung finanziert werden kann. Ich frage mich, wie soll das angesichts der schwieriger werdenden Situation möglich sein? Was soll dann noch das SGB XI? Sind sich die Expertinnen und Experten bewusst, dass die Beiträge für SGB XI und SGB V gerade wieder steigen? Warum sollte man gleichzeitig für ein unzureichendes SGB XI zahlen, das allenfalls Grundversorgung als Ersatzleistung für Angehörigenpflege ermöglicht und zusätzlich sich etwas ansparen für die Langzeitversorgung?
Mir wäre es lieber, das SGB XI würde abgeschafft
Mir persönlich wäre es mittlerweile lieber, das SGB XI würde abgeschafft und ich müsste nicht mehr zwangsweise in eine sogenannte Versicherung zahlen, die – wenn ich pflegebedürftig werde – nicht mehr in der Lage ist, die angestrebte Grundversorgung zu leisten. Von der Zwangsabgabe befreit, könnte man das Geld in anderen Sparmöglichkeiten anlegen, um sich dann eine Langzeitversorgung zu finanzieren. Das SGB XI ist nämlich nicht solidarisch, sondern hauptsächlich Eigenleistung und Subsidiarität. Die Vorstellung der Expertinnen und Experten, man könne neben der Zwangsabgabe für das SGB XI auch noch freiwillig für die Langzeitversorgung finanziell vorsorgen, entbehrt jeglicher Realität der finanziellen Möglichkeiten der Menschen in Deutschland. Mir persönlich ist mit diesem Bericht nicht mehr klar, was das SGB XI überhaupt noch leisten soll.
Dann wird noch nicht einmal kritisch reflektiert, dass nicht wenige Leistungen einen hohen Eigenanteil benötigen, wie beispielsweise die Kurzzeitpflege. Wie viel Menschen nehmen deswegen nicht diese Leistungsform in Anspruch? Insgesamt wird nicht kritisch reflektiert, ob diverse Leistungen des SGB XI, obwohl diese gern genutzt werden möchten oder auch erforderlich wären, nicht beansprucht werden können, weil vor Ort diese Leistungen gar nicht vorhanden sind.
SGB XI ad absurdum geführt
Und wenn immer mehr Menschen, die nach SGB XI als pflegebedürftig anerkannt sind, sozialhilfebedürftig werden, so muss gefragt werden, ob das SGB XI noch seine Ziele erfüllt oder eben aus diesem Grund ad absurdum geführt ist. Das Autorenteam selbst führt zu Anfang des Berichts aus, dass die Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit eines der wesentlichen Ziele des SGB XI ist. Dieses Ziel wird dann wohl nicht mehr erreicht.
Auf S. 83 wird dann festgehalten, dass man durch Prävention doch verhindern könnte, dass sich der Gesundheitszustand von Menschen in Pflegebedürftigkeit verschlechtert und der nächst höhere Pflegegerad vermieden werden könnte. Ja, das wissen wir! Aber weder das SGB XI noch das SGB V zahlen präventive und gesundheitsförderliche oder aktivierende Pflege. Es gibt in Deutschland noch nicht einmal ein Verständnis davon. Ich frage mich: Soll diese jetzt von Geisterhand angeboten werden? In einem ökonomisierten Gesundheitssystem findet nur das statt, was finanziert wird. Allgemeinplätze wie diese sind einfach nur noch ermüdend. Abgesehen davon, benötigen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen oft den nächst höheren Pflegegrad, damit sie sich die limitierten Leistungen des SGB XI auch einkaufen können.
Pflegefachberufe und Pflegewissenschaft haben im SGB XI nichts zu sagen
Auf S. 230 wird erkennbar, dass die Autorinnen und Autoren des Berichts nicht verstanden haben, dass die Pflegegrade nichts mit Pflegebedarfen und vor allen Dingen nichts mit der Finanzierung pflegefachlicher Versorgung zu tun haben. Es wird noch nicht einmal verstanden, dass das Instrument zur Messung von Pflegebedürftigkeit nur den Auftrag hat, festzustellen, wer in den Genuss der limitierten Leistungen des SGB XI kommt. Die Vertragspartner (Pflegekassen, Arbeitgeber, Träger) verhandeln alles Mögliche, aber ganz sicher keine pflegefachliche Versorgung und deswegen kann es keine Pflegekonzeptionen geben, die umgesetzt werden. Abgesehen davon, haben nur Pflegekassen, deren Vertragspartner, Bundesländer und zu einem geringen Anteil die Kommunen etwas zu sagen.
Pflegefachberufe und Pflegewissenschaft haben im SGB XI nichts zu sagen, was man dem Bericht und dem Expertengremium ja auch ansieht. Und irgendwie ist es ganz süß, wenn die Expertinnen und Experten auf S. 232 f. darstellen, dass pflegerische Prävention nicht gezahlt wird, was international möglich ist, und darstellen, was erforderlich wäre, damit dies auch in Deutschland möglich ist. Sie stellen dann selbst fest, dass das alles nicht möglich ist aufgrund der Rahmenbedingungen. Ja, wissen wir! Aber trotzdem schreibt ihr, dass das SGB XI so in seinen Limitationen bestehen bleiben muss. Und wieder lasst ihr uns allein, weil ihr nicht ansatzweise aufzeigt, wie jetzt pflegefachliche Versorgung in der Langzeitversorgung finanziert und ermöglicht werden kann.
Auf S. 397 wird dann deutlich, dass sich die meisten Bundesländer wohl einen schlanken Fuß machen und § 9 SGB XI so auslegen, dass sie im Grunde keinen Auftrag für die investive Förderung von Einrichtungen und Diensten des SGB XI haben und überlassen diese Kosten dann wieder den Eigenanteilen der pflegebedürftigen Menschen. Ganz ehrlich: Es wird doch deutlich, dass sich niemand für eine qualitativ hochwertige Langzeitversorgung verantwortlich fühlt; möglichst viel in den Bereich der Eigenleistungen übertragen will. Deswegen sind die betroffenen Äußerungen zu den steigenden Eigenanteilen ganz sicher nicht ernst gemeint. Diese Diskussionen sind und bleiben unehrlich.
Prekäre Situation wird vertuscht
Fazit: Bereits der Auftrag an diese Expertengruppe war eng nur auf die Finanzierung des SGB XI gesetzt. Die Probleme der Versorgung, eine mögliche Unter-, Fehl- und Minderversorgung im Kontext SGB XI werden nicht diskutiert. Es wird nur am Ende formuliert, dass das SGB XI das Risiko der Pflegebedürftigkeit weiter absichern soll. Dabei werden nur Szenarien berechnet, wie man das SGB XI weiter finanzieren kann. Es wird nicht einmal untersucht oder mit vorhandenen Daten kritisch reflektiert, ob das SGB XI überhaupt das individuelle Risiko der Pflegebedürftigkeit abdeckt oder in Zukunft noch abdecken kann. Es wird nicht ansatzweise in Rechnung gestellt, dass die Versorgung schlechter werden wird, die Eigenleistungen wie auch die Belastungen der Familien schon jetzt extrem hoch sind und selbst die Grundversorgung, die das SGB XI nur limitiert leisten soll, immer weniger möglich wird.
Erstaunlich finde ich den Satz in der Abschlussbemerkung, dass ein breiter fachlicher Austausch in dem Gremium geführt wurde. Die Zusammensetzung dieser Expertengruppe zeigt diese breite Fachlichkeit nicht. Erstaunlich finde ich auch den Satz: "Sie soll auch künftig ein langfristiges Niveau der bedarfs- und bedürfnisgerechten Unterstützung von Menschen mit Pflegebedarf sicherstellen." Ganz ohne Evidenz und kritische Analyse vorhandener Daten gehen die Expertinnen und Experten davon aus, dass es ein hohes Niveau der langzeitpflegerischen Versorgung gibt. Dieser Satz wird ohne jegliche Evidenz formuliert. Es werden noch nicht einmal die publizierten Daten von einigen der im Gremium vertretenen Expertinnen und Experten kritisch einbezogen. Wir haben so viele Hinweise auf Unter-, Fehl- und Minderversorgung im SGB XI, auf eine schlechtere qualitative Versorgung aufgrund des Personalmangels und des hohen Einsatzes minderqualifizierten Personals. Wie soll da ein hohes Niveau der Langzeitversorgung bereits jetzt möglich sein oder gar in Zukunft weitergeführt werden? Dieser Satz ist nur ein politischer Satz, der Ruhe vermitteln soll, wo keine Ruhe geboten ist, sondern extrem schnelles Handeln und umfassende strukturelle Reformen notwendig sind. In Niedersachsen wird unter hohem Einsatz von Steuergeldern ein privates Familienunternehmen gerettet. Die Politik ist hier vereint. Aber niemals sehen sie diese Notwendigkeit für die sehr prekäre Langzeitversorgung. Sätze und Berichte wie diese helfen nicht, uns in die Lage zu versetzen, den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden zu können. Sätze wie diese vertuschen, in welch prekärer Situation wir sind und wiegen Politik sowie Gesellschaft in falscher Sicherheit.
Ich denke, aus meinem Kommentar ist die Erschöpfung und Ermüdung zu lesen. Dieser Bericht verfolgt den einzigen Ansatz, das SGB XI mit irgendeinem Finanzierungsmodell am Leben zu halten. Aber es hat kein Potenzial und keinen einzigen Ansatz, die grundlegenden strukturellen Probleme des SGB XI anzugehen und die Langzeitversorgung zu verbessern. Wir lesen immer wieder dasselbe.
Ich könnte jetzt stundenlang weiterschreiben. Die Kritik an diesem Bericht würde nicht aufhören. Sie bietet keine Zukunftsperspektive, lässt viele Probleme außen vor, stellt nicht mal infrage, ob und wie das SGB XI überhaupt noch die ursprünglichen Ziele erfüllen kann. Dieser Bericht ist eine sehr große Enttäuschung.