Die Zahl defizitärer Krankenhäuser erreicht 2024 einen neuen Höchstwert. Die Kliniken müssen ihre Produktivität erhöhen, mahnen die Autoren des Krankenhaus Rating Reports.
"Aufbruch aus dem Tal der Tränen" heißt der neue Rating Report, den Boris Augurzky mit seinen Co-Autoren Sebastian Krolop und Adam Pilny am Donnerstag auf dem Hauptstadtkongress (HSK) in Berlin vorgestellt hat. Der Report flankiert das düstere Cover (Berglandschaft im bedrohlichen Nebel) mit roten Zahlen: 2024 dürften 56 Prozent der Kliniken ein negatives Jahresergebnis ausweisen, schätzt das Autorenteam. Das markiert einen neuen Höchstwert. 2023 schrieben 43 Prozent der Kliniken einen Jahresverlust. 2020 waren es 22 Prozent. Bei der Hälfte der Kliniken reichen die Finanzmittel derzeit nur für die kommenden zwei Wochen oder weniger.
Boris Augurzky vom RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und der Institute for Healthcare Business GmbH (HCB) lässt keinen Zweifel daran, dass Reformen im System nötig sind. "Die Sozialabgaben drohen bis zum Jahr 2035 ohne einschneidende Reformen im Gesundheitswesen auf über 50 Prozent zu steigen, damit könnten wir in Deutschland dicht machen." Die geplanten Maßnahmen der neuen Bundesregierung gingen zwar in die richtige Richtung. "Sie reichen aber nicht aus, um das Gesundheitssystem finanziell nachhaltig zu stabilisieren."
Insolvenzgefahr und Fallzahlen gestiegen
Die mittlerweile 21. Ausgabe des "Krankenhaus Rating Reports" analysiert die Kliniklandschaft auf Basis einer Stichprobe von 442 Jahresabschlüssen aus dem Jahr 2023 sowie einer Sonderauswertung von 124 geprüften Jahresabschlüssen aus dem Jahr 2024. Die Insolvenzgefahr ist 2023 demnach auf 1,8 Prozent gestiegen. 16 Prozent der Krankenhäuser fanden sich im roten Bereich mit erhöhter Insolvenzgefahr wieder, 21 Prozent bewegten sich im gelben und 63 Prozent im grünen Bereich. Die Jahresabschlüsse für 2024 deuten darauf hin, dass sich die Lage weiter verschlechtert haben dürfte.
Gleichzeitig erhöhrte sich die Zahl stationärer Fälle 2023 wieder um 2,4 Prozent an – das ist der stärkste Anstieg seit Einführung der DRG im Jahr 2004. Auch 2024 wuchs die stationäre Fallzahl, allerdings moderater um 0,8 Prozent. Rechnet man die Hybrid-DRG hinzu, von denen erstmals rund 300.000 erbracht wurden, beziffert sich der Zuwachs 2024 allerdings auh um 2,5 Prozent. Insgesamt erreicht die Branche jedoch nicht mehr die hohe Fallzahl des Jahres 2019.
Länder zahlen wieder mehr
Die Länder haben ihre Investitionsmittel laut Rating Report im Jahr 2023 um neun Prozent auf insgesamt 3,9 Milliarden Euro erhöht. Sie reichen jedoch nicht aus, um den Substanzverzehr, insbesondere in Ostdeutschland, aufzuhalten, so die Autoren des Reports.
Kliniken in privater und freigemeinnütziger Trägerschaft schneiden im Rating deutlich besser ab als öffentlich-rechtliche Häuser. Nur in ärmeren Kreisen stehen die öffentlich-rechtlichen Kliniken genauso gut da wie die freigemeinnützigen. Auch Klinikketten sowie mittelgroße Häuser mit 500 bis 900 Betten zeigen im Vergleich bessere wirtschaftliche Kennzahlen – ebenso hoch spezialisierte Einrichtungen.
Fachkräftezuwachs: Mehr Personal für weniger Fälle
Die Zahl der Vollzeitkräfte in Kliniken wächst weiter. 2023 stieg die Zahl um 2,25 Prozent. Damit war sie um 6,3 Prozent höher als 2019, obgleich die Zahl der stationären Fälle 2023 weit unter ihrem Wert des Jahres 2019 lag. Damit sei die Produktivität der Kliniken deutlich gesunken, unterstreichen die Autoren. Bezogen auf die Fallzahl wurden 2023 fast 16 Prozent mehr Vollzeitkräfte eingesetzt als im Jahr 2019.
Außergewöhnlichen Wachstum gab es beim Pflegepersonal. Im Vergleich zu 2019 stieg die Zahl der Pflegekräfte bis 2023 um 13,5 Prozent. Gründe für den Zuwachs sind einerseits eine Wanderung von Altenpflegekräften ins Krankenhaus, andererseits auch Personalzuwachs aus dem Ausland, die Weiterentwicklung von Hilfskräften und die Gewinnung neuer Arbeitskräfte.
Boris Augurzky appellierte an die Politik, das Pflegebudget abzuschaffen und die Pflegepersonalfinanzierung wieder in die Fallpauschalen und die neue Vorhaltepauschale zu integrieren. Das Pflegebudget habe seinen Zweck erfüllt. Es vergütet alle Pflegekräfte, die von Kliniken eingestellt werden – ist also eine Form der Selbstkostendeckung. Die Kosten für die Pflege sind laut Rating Report deshalb von 14,6 Milliarden Euro im Jahr 2020 auf 22 Milliarden Euro 2024 gestiegen. "Wer Kosten bestellt, bekommt Kosten", kommentierte Augurzky.
Der Wissenschaftler betonte außerdem, dass die Babyboomer-Welle zwischen 2035 und 2040 aufs Gesundheitssystem zukomme. Dann würde die Generation der Geburtenjahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre hochbetagt und pflegebedürftig. Deshalb sei es auch so wichtig, jetzt mit der Veränderung in der Krankenhauslandschaft loszulegen. Dazu gehöre auch das Bauen, mahnte Augurzky. Von der Beantragung bis zur Fertigstellung vergehen schnell zehn Jahre. "Wenn wir jetzt nicht mit dem Bauen anfangen, könnte es zu spät für die Babyboomer sein", so Augurzky. Er fordert deshalb ein Beschleunigungsgesetz – ähnlich wie beim Bau der LNG-Terminals. Baugenehmigungen sollten bundesweit gelten, Bauordnungen vereinheitlicht und Anträge digital abgewickelt werden. Wird über einen Antrag nicht innerhalb von sechs Monaten entschieden, soll er automatisch als genehmigt gelten. Zudem sei es sinnvoll, Fördermittel pauschal zu vergeben, um die Antragsbürokratie zu verringern.
Ausblick: Krankenhausreform könnte Fallzahlsteigerung stoppen
Die Autoren erwarten, dass vor der Scharfschaltung der Vorhaltefinanzierung weiterhin mit einem Anstieg der stationären Fallzahlen zu rechnen ist. Danach dürften ambulante Angebote im Krankenhaus attraktiver werden, wodurch die stationäre Fallzahl wieder sinken könnte. Gleichzeitig erwartet Augurzky eine stärkere Nutzung der Hybrid-DRG. Die Zahl der Krankenhäuser mit einem Jahresverlust könnte von 56 Prozent im Jahr 2024 auf unter 30 Prozent bis zum Jahr 2030 sinken und danach weiter zurückgehen.
In einem Szenario "Koalitionsvertrag" berücksichtigt der Rating Report die geplanten Soforthilfen für Krankenhäuser von vier Milliarden Euro für 2025 und 2026. Der Anteil der Kliniken mit Jahresverlusten könnte dann auf 23 Prozent im Jahr 2025 und 25 Prozent im Jahr 2026 zurückgehen Da diese Hilfe jedoch im Jahr 2027 ausläuft und wichtige Strukturreformen abgeschwächt würden, dürfte der Anteil der Kliniken mit Jahresverlusten bis zum Jahr 2030 wieder auf etwa 34 Prozent wachsen. Dennoch hält Ökonom Augurzky die Finanzspritze für "ok".
Angesichts der niedrigeren Fallzahlen bei steigendem Personal stellte Augurzky jedoch auch klar: "Derzeit brauchen wir mehr Menschen für die gleiche Leistung und es stellt sich die Frage, ob wir uns das leisten können." Augurzky verwies auf die schwierige finanzielle Lage im Land. Derzeit beansprucht das deutsche Gesundheitssystem 12,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts. "Angesichts der Entwicklungen um uns herum, wird dieser Anteil wohl sinken", schätzt Augurzky. Kriege, Demographie, Klimawandel, Deglobalisierung – all diese Veränderungen kosten Geld. Gut möglich, dass der BIP-Anteil des Gesundheitswesens mittelfristig auf zehn Prozent sinken müsse, so Augurzky.
Zahl der Arztkontakt muss runter
Weniger Behandlungen sollten das oberste Ziel der Reformen sein, unterstreicht Augurzky. Ein Primärarztsystem müsse durch Leitstellen und die elektronische Patientenakte unterstützt. Insbesondere die Notfallversorgung und der Rettungsdienst bräuchten Reformen, so Augurzky. Doch vor allem Letzteres ist ein politisches Haifischbecken. Augurzky fordert, dass der Rettungsdienst als eigener Bereich ins SGB V aufgenommen und bundesweit nach einem einheitlichen System vergütet werden. Ex-Minister Karl Lauterbach (SPD) hat diese Reform nur angekündigt, sein Vorgänger Jens Spahn (CDU) scheiterte mit einem Versuch an den Länderinnenministern. Es bleibt also spannend im Gesundheitswesen.