Der bisher als Arbeitsgemeinschaft agierende Landespflegerat (LPR) Baden-Württemberg hat sich im Januar zu einem eingetragenen Verein formiert. Im Zuge der Umstrukturierung wurde auch ein neuer Vorstand gewählt: Zum Vorsitzenden ist der ehemalige Geschäftsführer des Gründungsausschusses für eine Landespflegekammer Baden-Württemberg, Ronny Brosende, gewählt worden. Wir sprachen mit ihm über seine Ziele, welche Rolle der LPR in Zukunft spielen will und was es bedeutet, dass die Mitgliedschaft im LPR nun auch für Einzelpersonen möglich ist.
Herr Brosende, was hat Sie dazu motiviert, für den Landespflegerat zu kandidieren, zumal Sie als ehemalige Geschäftsführer des Gründungsausschusses für eine Landespflegekammer Baden-Württemberg bereits einen herben Rückschlag hinnehmen mussten?
Die vielseitigen Problemstellungen der Pflegeinfrastruktur betreffen längst nicht mehr nur die Pflege selbst – sie wirken sich zunehmend auf unser gesamtes Gesundheits- und Sozialsystem sowie unsere Wirtschaft aus. Die demografische Entwicklung wird diesen Druck in den kommenden Jahren weiter verstärken. Trotzdem wurden bislang viele politische Entscheidungen ohne die Perspektive der Pflegeprofession getroffen. Das können wir uns nicht länger leisten: Wir haben weder die Zeit noch die Ressourcen, weiterhin Maßnahmen zu ergreifen, die an den Bedürfnissen der Praxis vorbeigehen und wichtige Aspekte übersehen. Wir brauchen auf Bundes- und Landesebene Pflegevertretungen, die mit einer starken Stimme sprechen, die Probleme benennen und gleichzeitig praktikable Lösungen aufzeigen. Nach dem Scheitern der Landespflegekammer in Baden-Württemberg haben wir nun die Aufgabe, dem Landespflegerat Baden-Württemberg e.V. genau diese Stimme zu geben. Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen möchte ich dafür sorgen, dass die Pflegeprofession gehört und als unverzichtbarer Teil der Lösung verstanden wird.
Was sind Ihre Hauptziele als LPR-Vorsitzender?
Unsere erste Legislaturperiode wird vom Aufbau einer tragfähigen und nachhaltigen Struktur geprägt sein. Dazu gehört, die internen Abläufe zu stabilisieren, personell zu wachsen und gezielt neue Mitglieder zu gewinnen, um eine breite Basis zu schaffen. Gleichzeitig müssen wir verlässliche und transparente Kommunikationswege etablieren, die allen Mitgliedern eine aktive Mitgestaltung ermöglichen. Nur wenn wir geschlossen auftreten und unsere Anliegen mit einer klaren Stimme vertreten, können wir sicherstellen, dass die Pflege in den politischen Entscheidungsprozessen künftig eine zentrale Rolle einnimmt. Ich bringe die Erfahrung, das Netzwerk und die Bereitschaft mit, diese Verantwortung zu übernehmen.
Ist der Landespflegerat als e. V. eine echte Alternative als institutionelle Interessenvertretung zur gescheiterten Gründung einer Pflegekammer im Land?
Der Landespflegerat Baden-Württemberg e.V. ist derzeit die einzige Möglichkeit, die Pflegeberufe in Baden-Württemberg strukturiert und wirksam zu vertreten. Pflegekammern haben den Vorteil einer verbindlicheren Institution mit rechtlichen Befugnissen, die unabhängig von politischen Schwankungen und kurzfristigen Veränderungen sind. Sie können eine gesetzlich festgelegte Struktur und übertragene Verantwortung aufweisen, was ihre Durchsetzungsfähigkeit einzigartig macht. In diesem Sinne möchten wir den Landespflegerat Baden-Württemberg e.V. als eine starke, dialogorientierte Interessensvertretung gegenüber der handelnden Politik etablieren. Über die Interessensvertretung hinaus ist unser Ziel, dass der Landespflegerat als Institution Aufgaben vom Land übertragen bekommt, um so für die Gesundheitsversorgung wichtige Arbeit zu leisten. Damit kann der Landespflegerat als unterstützende und beratende Instanz fungieren sowie zur Weiterentwicklung der Pflegeberufe und der Gesundheitsversorgung in Baden-Württemberg beitragen.
Wie durchsetzungsstark sind Sie im Verein gegenüber der Politik?
Der Landespflegerat Baden-Württemberg e.V. profitiert von seiner politischen Unabhängigkeit, die es ihm ermöglicht, ohne politische Bindungen die Anliegen der Pflegeberufe klar und sachlich zu vertreten. Diese Unabhängigkeit macht ihn zu einer starken Interessenvertretung für die Pflege in Baden-Württemberg. Mit einem dialogorientierten Ansatz wird der Landespflegerat den konstruktiven Austausch mit politischen Entscheidungsträgern suchen. So kann er aktiv in politische Prozesse eingreifen, gezielt Einfluss nehmen und Veränderungen anstoßen. Allerdings gibt es zweifelsohne auch Grenzen der Durchsetzungsfähigkeit.
Welche?
Im Unterschied zu einer Pflegekammer, die über rechtliche Befugnisse und eine verbindliche Struktur verfügt, ist der Landespflegerat gesetzlich nicht verankert. Seine Durchsetzungsfähigkeit in politischen Entscheidungen ist dadurch begrenzt und muss sich auf ehrenamtliches Engagement, Überzeugungsarbeit und partnerschaftliche Zusammenarbeit stützen. Dennoch bleibt der Landespflegerat Baden-Württemberg e.V. die bedeutende Stimme der Pflegeprofession, die mit fachlicher Kompetenz und gezielter Vernetzung einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Pflege und der gesamten Gesundheitsversorgung leisten kann.
Wie wollen Sie Akzeptanz für das Gremium schaffen und beruflich Pflegende in Entscheidungsprozesse einbeziehen?
Mit der Beantwortung dieser Frage nehme ich ein Stück weit vorweg, was wir im Landespflegerat Baden-Württemberg e.V. gemeinsam an Maßnahmen zu erarbeiten haben. Grundsätzlich gilt: Um in der Berufsgruppe Akzeptanz für den LPR zu schaffen, wird es entscheidend sein, von Anfang an transparent und offen zu kommunizieren. Mit inklusiven und partizipativen Maßnahmen wollen wir erreichen, dass sich Pflegende nicht nur als Empfänger von Entscheidungen fühlen, sondern sich als Mitgestaltende und Experten verstehen; beispielsweise mit der Schaffung von Fachausschüssen, in denen Mitglieder als Experten ihres Fachs regelmäßig mitarbeiten und so die Arbeit des LPR maßgeblich mitgestalten. Auf diese Weise schaffen wir nicht nur Akzeptanz, sondern stärken auch die Identifikation der Pflegenden mit dem LPR.
Welche Herausforderungen sehen Sie in der Pflegebranche allgemein und speziell in Baden-Württemberg? Wie planen Sie, diese zu bewältigen?
Die Pflege steht bundesweit vor gravierenden Herausforderungen, die vielschichtiger kaum sein könnten. Zu den für die Profession spürbarsten Problemen gehören unter anderem die zunehmende Arbeitsverdichtung, der sich zuspitzende Fachkräftemangel, die schleppende Umsetzung der Digitalisierung und der nahezu stagnierende Ausbau der pflegerischen Infrastruktur, der mit der stetig wachsenden Zahl der Pflegebedürftigen nicht Schritt halten kann. In der Vergangenheit wurden vielfach kurzsichtige Anpassungen vorgenommen, die die Situation eher verschärft als entspannt haben. Ein zentraler Grund für diese Fehlentwicklung ist das mangelnde gesellschaftliche Bewusstsein für die Dringlichkeit des Themas. Alter und Pflegebedürftigkeit sind häufig unangenehm wahrgenommene Realitäten, die gesellschaftlich seit Jahrzehnten konsequent verdrängt werden. Erst wenn Pflegebedürftigkeit zur Realität wird, ist die Tragweite erkennbar – doch dann ist oft keine politische Einflussnahme mehr möglich. Dieses kollektive Wegsehen der Gesellschaft führt dazu, dass Pflege politisch nicht die Priorität erhält, die sie benötigt. Um die Pflege zukunftsfähig zu gestalten, ist ein grundlegendes Umdenken notwendig. Gesellschaft und Politik müssen Pflege in all ihren Facetten als zentrale und gemeinsame Aufgabe anerkennen.
Sind nicht auch Pflegende selbst zu passiv bei diesem Thema?
Ja, auch die Pflegeprofession selbst trägt Verantwortung. Noch immer sehen sich viele in der Branche primär als Empfänger von Vorgaben und Regelungen statt aktiv Verantwortung zu übernehmen und notwendige Veränderungen mitzugestalten. Diese passive Haltung schwächt die Position der Pflege im Gesundheitssystem erheblich. Es braucht mehr Eigeninitiative und Selbstbewusstsein, um die Pflege als gestaltende Kraft zu etablieren. Die Profession muss lernen, ihre Anliegen klar zu artikulieren und als treibende Kraft bei Reformen aufzutreten. Nur so kann die Pflege ihren Platz als gleichberechtigter und wirksamer Partner im Gesundheitssystem einnehmen und langfristig sichern. Eine erfolgreiche Reform der Pflege erfordert eine langfristige und umfassende Gesamtstrategie. Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen: Eine reine finanzielle Aufstockung der Mittel oder neue Regulierungen allein werden die Grundprobleme nicht lösen. Was wir brauchen, ist entschlossenes und koordiniertes Handeln. Gleichzeitig liegen viele Lösungsansätze bereits auf dem Tisch und müssen endlich umgesetzt werden. Dazu gehören etwa die Stärkung der Selbstverwaltung und Entscheidungskompetenz der Pflegeberufe, die konsequente Förderung von Beratung und Prävention und der Ausbau der Quartiersarbeit. Gerade Baden-Württemberg hat ideale Voraussetzungen, um in diesen Bereichen innovative Modellprojekte zu starten, die bundesweit als Vorbild dienen könnten. Das Land verfügt über eine starke Infrastruktur, engagierte Akteure und eine gesellschaftliche Offenheit für neue Lösungen. Die Chance, Vorreiter zu werden und zukunftsweisende Modelle zu entwickeln, sollte konsequenter genutzt werden. Der LPR kann in diesem Reformprozess eine Schlüsselrolle spielen. Als starke Stimme der Pflege müssen wir dafür sorgen, dass die Anliegen der Pflegeberufe auf politischer Ebene Gehör finden und dringend notwendige Reformen eingefordert werden. Zudem kann der LPR als Plattform dienen, um die Eigenverantwortung der Pflegeberufe zu stärken und den Aufbau regionaler Netzwerke gezielt zu fördern. Baden-Württemberg kann so zum Vorreiter einer neuen Pflegepolitik werden. Mit einer klugen Strategie und engagierten Akteuren können wir nicht nur die Situation im Land verbessern, sondern bundesweit Impulse setzen, die weit über die Landesgrenzen hinauswirken.