Intensivtagebücher sollen für Patienten und deren Angehörige eine Hilfestellung nach dem Erleben eines schweren Krankheitsverlaufs sein. Eine Forschungsarbeit hat die Effekte verschiedener Studien zusammengefasst. Das Ergebnis sind überwiegend positive Auswirkungen für Patienten und Angehörige.
Viele Patienten berichten, dass sie keine oder wahnhafte Erinnerungen vom Aufenthalt auf der Intensivstation haben (2, 3). Wahnhafte Erinnerungen können sich oft als Halluzinationen, Träume und Albträume äußern. So berichten ehemalige Intensivpatienten, dass sie gedacht haben, in einem Gefängnis zu sein oder den Eindruck gehabt hätten, erwürgt oder ertränkt zu werden (4). Andere Patienten berichten, dass sie in einem anderen Land oder in einer anderen Welt gefangen waren. In dieser intensiven Zeit werden solche Erlebnisse als absolut real, beängstigend und erschreckend empfunden (4). Nach dem Intensivaufenthalt können Träume, Albträume und Halluzinationen den betroffenen Patienten negativ in seiner Lebensqualität einschränken (5). Dies kann zu sozialer Isolation, Eheproblemen, Arbeitslosigkeit und langfristigen gesundheitlichen Problemen wie Kopfschmerzen, Geschwüren und Herz-Kreislauf-Problemen führen (6).
Zunächst stellt sich die Frage, was ein Intensivtagebuch ist. Ein Intensivtagebuch soll für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine potenzielle Hilfestellung sein, um Erlebnisse, Erinnerungslücken, Wahnvorstellungen und posttraumatische Stressreaktionen zu rekonstruieren und die Zeit während der Bewusstlosigkeit zu verstehen. Es wird von Pflegenden geführt und soll Angehörigen die Möglichkeit geben, selbst Einträge zu hinterlassen. Meistens besteht es aus einem Ringbuch, das handschriftlich geführt wird und am Platz des Patienten bleibt (7).
Das Intensivtagebuch ist in Skandinavien und England schon seit mehr als 20 Jahren weit verbreitet. Seit 2008 beginnen auch einige deutsche Intensivstationen damit, das Tagebuch einzuführen (8). Das Intensivtagebuch wird in der Zeit der Sedierung und Beatmung, mit einer Beatmungsdauer von mehr als drei Tagen, bei voraussichtlicher Überlebenschance des Patienten geschrieben (8,9). Außerdem ist die Anwendung bei Patienten sinnvoll, die ohne Sedierung über längere Zeiträume unter Bewusstseinsstörungen leiden, zum Beispiel aufgrund eines hypoaktiven Delirs (9).
Positive Effekte für Patienten
Intensivtagebücher haben hauptsächlich positive Effekte für die Betroffenen. Ewens, Chapman, Tulloch & Hendricks (10) untersuchten die Auswirkungen des Intensivtagebuchs auf ehemalige Patienten. Viele lasen ihr Tagebuch mehrmals nach dem Aufenthalt. Zwei Befragte lasen es nicht, weil für sie das Tagebuchlesen störend war und sie sich gesund fühlten. Wenige Teilnehmer schrieben in ihr Tagebuch, weil sie das Gefühl hatten, auf die Einträge antworten zu müssen. Für alle Teilnehmer, die das Tagebuch gelesen haben, war es eine emotionale Erfahrung, die sowohl mit positiven als auch mit negativen Emotionen geschildert wurde. Die Emotionen enthielten sowohl Demut wegen der Pflege, die sie in Anspruch genommen hatten. Sie waren aber auch erleichtert, dass sie diese schwere Zeit überlebten. Einige erfuhren Schock und Angst beim Lesen. Alle Teilnehmer waren dankbar, das Tagebuch zu haben. Ihnen hat es geholfen, die Lücken zu füllen und ein besseres Verständnis über ihre Krankheit und die verlorene Zeit auf der Intensivstation zu gewinnen.
Auch in der Studie von Engström et al. (11) wird sichtbar, dass das Tagebuch weitgehend positive Effekte auf die Betroffenen hat. Die Teilnehmer beschrieben, dass sie Angst hatten, das Tagebuch zu lesen und sie beim Lesen starke Gefühle und Reaktionen bemerkten. Teile des Inhalts wurden als unwirklich erlebt, als ob sie über eine andere Person lesen würden. Die Einträge von den Angehörigen wurden als wichtigster Teil beschrieben, da das Pflegepersonal, laut Teilnehmer, seine Einträge eher auf Behandlung und medizinische Eingriffe bezogen hatte, während die Angehörigen über den Alltag und den Umgang mit der Situation geschrieben hätten. Das Tagebuch war den Teilnehmern eine große Hilfe, zu verstehen, was geschehen war. Es gab ihnen ein Bild von der Zeit, in der sie über ihre Erinnerungen keine Kontrolle hatten.
Eine größere Studie mit 352 Intensivpatienten in sechs europäischen Ländern untersuchte, ob das Intensivtagebuch posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) reduzieren kann (6). Die Interventionsgruppe erhielt ihr Tagebuch nach Wunsch der Patienten so früh wie möglich. Der Kontrollgruppe wurde das Tagebuch erst drei Monate nach Entlassung von der Intensivstation zugesandt. Die Auswertung der Studie zeigte eine signifikante Reduktion der PTBS bei der Interventionsgruppe mit fünf Prozent der Betroffenen im Vergleich zur Kontrollgruppe mit 13 Prozent.
Gute Informationsquelle für Angehörige
Auch Angehörige sind in der Zeit, in der der Patient auf der Intensivstation liegt, großen emotionalen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Eine Studie (13) erforschte, welche Effekte das Tagebuch auf Familienmitglieder hat. Sie befragten mittels Fragebögen 32 Familienmitglieder, wie diese den Umgang mit dem Tagebuch wahrgenommen hätten. Viele Familienmitglieder fanden, dass das Tagebuch eine gute Informationsquelle sei. Andere lasen ungern die Einträge der Pflegenden und empfanden die Patienten-Mitarbeiter-Beziehung als störend. Für die Familienmitglieder war das Schreiben in einem Tagebuch auch eine emotionale Erfahrung. Sie konnten dort ihre Anwesenheit dokumentieren, sowie ihre Neigung oder Liebe zum Patienten ausdrücken und vertrauten dem Tagebuch intime Gefühle, Hoffnungen und Ängste an.
Das Intensivtagebuch veränderte auch die Sicht auf das Personal. Angehörige sahen die Pflegekräfte nicht mehr nur als medizinische Fachkräfte, sondern auch als Menschen wie sie, die ihre Emotionen zum Ausdruck bringen. Allgemein kann das Intensivtagebuch eine wichtige Rolle bei der Verbesserung des Wohlbefindens eines Familienmitglieds spielen. Auch Angehörige von verstorbenen Patienten waren froh, eine Erinnerung zu haben und konnten damit das Erlebte besser verstehen und verarbeiten (7,14).
Begleitung notwendig
Die Ergebnisse der vorgestellten Studien zeigen, wie hilfreich das Intensivtagebuch für Patienten und deren Angehörige sein kann. Zu beachten ist jedoch die Angst des Patienten, zu erfahren, was auf der Intensivstation mit ihnen passiert ist (10). Das Lesen des Tagebuchs zu Hause könnte zu Depressionen und Alpträumen führen. Ein Ansatz, dies zu verhindern, wäre das gemeinsame Lesen des Tagebuchs mit dem Patienten, bevor dieser entlassen wird. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dem Patienten das Tagebuch nicht sofort auszuhändigen, son-dern erst nach seiner Genesung.
Das Tagebuch unterstützt die Reflexion des Aufenthaltes. Schon während der Zeit der lebensbedrohlichen Krise wird an die Zukunft des Patienten wie auch die seiner Angehörigen gedacht und diese geplant. Es wird eine Perspektive entwickelt und damit auch Hoffnung geschaffen. Angehörige sind Mitschreibende wie auch Mitbetroffene. Positive Effekte können auch für Hinterbliebene von verstorbenen Patienten nachgewiesen werden (7,14). Das Tagebuch hilft ihnen, das „ganze Geschehen“ zu verstehen und unterstützt sie in ihrer Bewältigung.
Ein Intensivtagebuch reduziert die Entstehung von posttraumatischen Belastungsstörungen, Angst und Depression nach dem Erlebten auf der Intensivstation (13,15,16). Es ist also ein Instrument, um die Lebensqualität von Patienten und deren Angehörigen zu verbessern.
Welche unerwünschten Nebenwirkungen das Tagebuch hat, ist weitgehend unklar. Es besteht aber die Überlegung, dass das Lesen eine Konfrontation mit dem Erlebten bedeutet und sogenannte Flashbacks zur Folge haben kann.
Letztendlich ist das Intensivtagebuch ein interdisziplinäres Konzept, bei dem alle, an der Gesundung des Patienten Beteiligten, involviert sind.
(1) Aitken, L., Rattary, J., Hull, A., Kenardy, J., Le Brocque, R. & Ullman, A. (2013). The use of diaries in psychological recovery from intensive care. Critical Care, 17(6), 253.
(2) Ringdal, M., Johansson, L., Lundberg, D. & Bergbom, I. (2006). Delusional memories from the inten-sive care unit – Experienced by Patients with physical Trauma. Intensive and Critical Care Nursing, 22(6), 346-354.
(3) Zetterlund, P., Plos, K., Bergbom, I. & Ringdal, M. (2012). Memories from intensive care unit persist from several years – A longitudinal prospective multi – centre study. Intensiv and Critical Care Nur-sing, 28(3), 159-167.
(4) Guttormson, J. L. (2014). “Releasing a Lot of Poisons from My Mind”: Patientsʼ delusional memories of intensive Care. Heart Lung, 43(5), 427-431.
(5) Ringdal, M., Pols, K. & Bergbom, I. (2008), Memories of being injured and patientsʼ care tranjectory after physical trauma. BMC Nursing, 7(8), 1-12.
(6) Jones, C., Bäckman, C., Capuzzo, M., Egerod, I., Flaatten, H., Granja, C. & Griffiths, R. (2010). Intensiv care diaries reduce new onset post traumatic stress disorder following critical illness: a ran-domised, controlled trial. Critical Care,14(5), R168.
(7) Nydahl, P. & Knück, D. (2010). Träume und Traumata – eine systematische Übersichtsarbeit zu Wir-kung des Tagebuches auf Intensivpatienten. Deutscher Ärzte Verlag, 1(1), 31-37.
(8) Nydahl, P. (2013). Intensivtagebuch. [Zugriff 23.03.2016 auf http://www.nydahl.de/Nydahl/Intensivtagebuch.html].
(9) Trettner, F. & Hammermüller, S. (2015). Besser verarbeiten. Intensiv, 23(5), 258-261.
(10) Ewens, B., Chapman, R., Tulloch, A. & Hendricks, J. M. (2014). ICU survivorsʼ utilisation of diaries post discharge: A qualitative descriptive study. Australian Critical Care, 27(1), 28-35.
(11) Engström, A., Grip, K. & Hamrén, M. (2008). Experiences of intensive care unit diaries: “Touching a tender wound”. Nursing in Critical Care, 14(2), 61-67.
(12) Knück, D. & Nydahl, P. (2008). Das Intensivtagebuch in Deutschland. Intensiv, 16(5), 249-255.
(13) Garroust-Orgeas, M., Périer, A., Mouricou, P., Grégoire, C., Bruel, C., Brochon, S., Philippart, F., Max, A. & Misset, B. (2014). Writing in and reading ICU diaries: qualitative study of familiesʼ experience in the ICU. PLoS One, 9(10), 1-10.
(14) Bagger, C., Knück, D. & Nydahl, P. (2009). Brücke zur Erinnerung. Die Schwester Der Pfleger, 48(01), 40-44.
(15) Knowles, R.E. & Tarrier, N. (2009). Evaluation of the effect of prospective patient diaries on emotional well-being in intensive care unit survivors: A randomized controlled trial. Crit Care Med, 37(1), 184-191.
(16) Nydahl, P. & Knück, D. (2009). Intensivtagebuch «Jetzt weiss ich, was geschehen ist». PflegenIntensiv, 3, 1-6.
(17) Nydahl, P., Knück, D., Bischoff, K. & Fritzsch, A. (2011). Das Intensivtagebuch war eine grosse Hilfe für mich. PflegenIntensiv 8(1), 29-34.