Ob in der Lehre, bei der Therapie oder im OP – Virtual Reality erobert die Kliniken. Die Einsatzgebiete der Tech-Brillen sind vielschichtig, immersiv und eröffnen völlig neue Welten sowohl für das Personal als auch die Patienten.
Plötzlich mitten im Wald spazieren gehen. Sonnenstrahlen fallen durch das Blätterdach. Vorbeilaufende Rehe lassen sich füttern. Bunte Blumen blühen ringsherum, dabei leises Vogelgezwitscher im Ohr – ein fantastischer Ausflug, den Tech-Brillen mit Virtual Reality (VR) spontan möglich machen. Als sich Jürgen Will, Leiter des Verwaltungsmanagements vom St. Marien- und St. Annastiftskrankenhaus in Ludwigshafen, und Hans- Peter Graber, stellvertretender Leiter der zugehörigen Pflegeschule, vor knapp zweieinhalb Jahren zusammensetzen, um über die Anschaffung der Technologie zu beraten, ist Will nach dem virtuellen Kurztrip in den Wald via Smartbrille überzeugt. „Das kaufen wir“, habe er entschlossen gesagt, erinnert sich Graber.
Seit 2023 arbeitet die Ludwigshafener Pflegeschule mit den VR-Brillen, um den klassischen Unterricht aufzupeppen. Inzwischen lernen die rund 160 Auszubildenden mit den ergänzenden 50 computergenerierten Lernszenarien in virtuellen Patientenzimmern mit Patienten, Betttisch, Tisch und Stühlen sowie Schränken. Instrumente für Vitaldaten sowie Anschlüsse für Infusion und Ähnliches finden sich in den Simulationen. Vorteil: Ein Demoraum wird nahezu überflüssig (Interview ab Seite 30).
Virtuelle Szenarien so oft wiederholen wie nötig
Auch am Universitätsklinikum Bonn (UKB) sollen Auszubildende der Pflege künftig mit den VR-Brillen in virtuellen Patientenzimmern üben und die pflegerischen Handlungsabläufe trainieren. Vier Simulationen werden derzeit entwickelt: von der Wundversorgung über die Überwachung der Vitalfunktionen bis zur Schmerzerfassung.
Die VR-Simulationen werden in Ergänzung zu den physischen Trainingseinheiten in den Skills Labs umgesetzt. „Insbesondere haptische Handlungen wie Berührungen oder das korrekte Anziehen von Hygienehandschuhen können in VR bisher nur schematisch angedeutet werden“, sagt Christoph Sebastian Nies, Leiter des Ausbildungszentrums für Pflegeberufe und Sprecher des Centrums für Aus- und Weiterbildung (CAW) am UKB. Mit dem Controller in der Hand können die Auszubildenden den Herzschlag der virtuellen Patienten fühlen oder den korrekten Ablauf eines Verbandswechsels üben. Die Patienten-Avatare können wiederum auf Basis von künstlicher Intelligenz (KI) auf die Behandlung reagieren und sprechen. Die Lehrenden können die Trainings auf einem Tablet live verfolgen und die Auszubildenden direkt anleiten oder ihnen Feedback geben. Dazu müssen sie nicht einmal im selben Raum anwesend sein, noch nicht einmal im selben Land.
Die VR-Simulationen bilden pflegerische Versorgungsprozesse ab und erlauben eine Vielfalt an Szenarien, die die Auszubildenden für sich durchspielen und wiederholen können. Und das so oft wie nötig. „Auszubildende erhalten praktische, aber dennoch skalierfähige Trainingseinheiten und können in den virtuellen Welten nichts ‚falsch‘ machen“, erklärt Nies. „So starten sie mit mehr Sicherheit und Erfahrung in ihren Beruf.“
Eine großartige Entwicklung in der Lehre, denn das Üben mit den Patienten-Avataren gibt den Auszubildenden Routine und die Möglichkeit, sich im virtuellen Raum zu bewegen und über die immersiven audiovisuellen Eindrücke in das Szenario einzutauchen. Diese realitätsnahen Erfahrungen können im Anschluss ausführlich reflektiert werden und ermöglichen, zukünftig angepasste Verhaltensweisen zu entwickeln, erklärt Nies. Neben VR könnten die Brillen auch Mixed Reality (MR), sagt Anna Schüttler, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin für Pflegerobotik am Ausbildungszentrum für Pflegeberufe. „Wir sehen viele Weiterentwicklungsmöglichkeiten.“
Vor dem VR-Einsatz hat das Team rund um Schüttler die komplexen pflegerischen Prozesse engmaschig definiert, um die VR- basierten Lerneinheiten im Curriculum mit den entsprechenden Lernzielen in den Modulen zu verankern. Die VR-Einheiten werden zudem mit der Lernplattform des CAW verknüpft und zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Ausbildungsverlauf eingebunden.
Die technische Entwicklung der ersten Simulation ist bereits abgeschlossen. „Dabei setzen wir auf eine sehr realistische Darstellung“, sagt Nies. „Jeder Schritt muss konzeptioniert und designed werden, inklusive eines Drehbuchs.“ Die Szenarien entwickelt das Uniklinikum selbst. Dabei ist auch viel Kreativität gefragt. Trickreich sei vor allem der Prozess, die komplexen Patienten-Avatare aufzulegen: Mimik und Gestik sollen für die angehenden Pflegefachpersonen so realitätsnah wie möglich sein. Noch laufen die Testungen der VR-Simulationen, danach soll es ab Sommer in die „heiße Phase“ gehen, so Schüttler: die feste Implementierung in die Unterrichtseinheiten. Sowohl Auszubildende als auch Lehrkräfte erproben aktuell die Brillen, testen die Inhalte und geben Feedback. Als Teil des „Innovative Secure Medical Campus (ISMC)“-Projekts, einem Digitalisierungsprojekt am UKB, wird die Entwicklung durch das Land Nordrhein-Westfalen finanziert. Insgesamt vier Brillen hat das CAW bisher angeschafft, perspektivisch sollen es mehr werden. Die Kosten der Geräte liegen bei circa 500 bis 1.000 Euro je Brille.
Die Awareness schärfen
Patienten- und Bewohnersicherheit hat höchste Priorität im Krankenhaus. Um die Awareness der Mitarbeitenden zu schärfen, setzt auch Agaplesion auf VR. „Virtual Reality bietet die Möglichkeit, Situationen oder Prozesse durchzuspielen oder auch Prozesse zu erlernen und Fehler besser zu erkennen und zu verhindern“, sagt Innovationsmanagerin Claudia Möller. Neben Pflegeauszubildenden lernen in dem Klinikverbund auch erfahrene Pflegekräfte im „Agaplesion Safety Parcours“, müssen Fehler aufdecken oder Rätsel lösen. „Die Pilotierung des Trainingsprojekts ist abgeschlossen.
Der Parcours tourt seit 2023 als eine Art Container zu den einzelnen Agaplesion-Standorten, bepackt mit Schulungsmaterialien und VR-Brillen. Vier verschiedene Teilbereiche können die Mitarbeitenden an zwei Tagen in dem innovativen Konzept durchlaufen, einen davon mit VR. Mit der digitalen Brille auf der Nase tauchen sie dann in den Übungen in Patientenzimmer, die Notaufnahme, Intensivstation oder den OP ein. Altbekanntes darf hier spielerisch aufgefrischt, der Umgang mit schwierigen Situationen auf die Probe gestellt werden. Bisher gab es dafür einen „Room of Error“ mit klassischer Demopuppe und physisch inszeniertem Krankenzimmer, jetzt suchen die Mitarbeitenden Fehler im virtuellen Raum wie eine zu weit vom Patienten entfernte Klingel oder den nicht festgestellten Rollator. „Wir wollen das Bewusstsein wecken, nicht die Situation am Patienten als gegeben zu nehmen, sondern jederzeit zu hinterfragen und immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen“, so Möller.
Auch VR-Simulationen zur Brandschutzlehre für Mitarbeitende oder zur Entspannung von Patienten kurz vor einer Narkose erwägt Agaplesion in den kommenden Jahren zu etablieren. Letztgenanntes sei zwar noch nicht flächendeckend, aber schon jetzt in einigen Einrichtungen wie in Gießen und Rotenburg zur Anästhesievorbereitung oder Patientenentspannung verfügbar, so Möller. Das kann der Strandspaziergang in der Südsee oder ein Kurztrip in die Alpen sein. Szenarien wie diese sollen die Patienten beruhigen. Ins Thoraxzentrum Münnerstadt in Unterfranken kommen vor allem Patienten mit einer Krebserkrankung, begleitet von vielen Sorgen und Ängsten. „Die Diagnose Krebs reißt die Menschen völlig aus dem Leben. Ihre Gedanken kreisen nur noch um die Erkrankung“, weiß Rainer Haußmann, Chefarzt der Anästhesie. Entsprechend kommen sie mit erhöhtem Blutdruck und Atemfrequenz zur Narkoseeinleitung. Mit den VR-Brillen lassen sie sich kurz vor dem operativen Eingriff entspannen, können noch einmal an ihren Wunschort reisen, an dem sie dann auch in die Narkose fallen. Nur eine virtuelle Brille habe die Fachklinik bisher angeschafft, weitere Anwendungen seien in Planung, so Haußmann. Circa vier Patienten nutzen sie pro Tag zur Beruhigung. Die Kosten liegen bei knapp ein bis zwei Euro je Patient. Bei einer Brille sind das im Jahr rund 1.000 bis 2.000 Euro.
Virtual, Augmented und Mixed Reality im Vergleich
Virtual Reality (VR): Die Nutzer tauchen in eine immersive und dreidimensionale Umgebung ein. Mit der VR-Brille auf dem Kopf und Controllern in den Händen können sie sich in der computergenerierten Welt bewegen und mit den virtuellen Objekten interagieren. Alles findet in der Simulation statt.
Augmented Reality (AR): AR-Anwendungen übertragen virtuelle Inhalte mithilfe von Kamera und Sensoren in Echtzeit auf die reale Welt. Die Nutzer sehen beispielsweise durch eine AR-Brille die Simulation, die nahtlos in die physische Welt integriert ist. Jedoch können sie mit der Darstellung nicht interagieren.
Mixed Reality (MR): MR kombiniert die reale und virtuelle Simulation, sodass physische und digitale Objekte in Echtzeit koexistieren und miteinander interagieren können. Die Hologramme befinden sich im natürlichen Raum, der MR-Brillen-Nutzer kann mit der dreidimensionalen Darstellung interagieren.
Meister der Störung
Die Möglichkeiten der immersiven Erlebnisse scheinen beinahe grenzenlos, können sogar in eine völlig andere Richtung driften – und nützlich sein: Die Johannesbad Fachklinik Hochsauerland hat bereits 2019 begonnen, die VR-Technik für die Psychotherapie einzusetzen, und ganz eigene Szenarien entwickelt. Angstpatienten können sich so in einen rappelvollen Bus quetschen, durchs Himalaya-Gebirge über eine schwankende Hochseilbrücke balancieren oder in einem Meer von Spinnen sitzen. Das sind zwar für einige Menschen Horrorszenarien, doch in der Angsttherapie haben sie eine heilende Wirkung. Zwölf VR-Brillen stehen dafür in der Fachklinik zur Verfügung. Gemeinsam tragen die Patienten diese unter Anleitung von zwei Therapeuten in den Sitzungen. Auch außerhalb der Termine können die Patienten jederzeit in die Konfrontation gehen, die Brillen ausleihen und ihre Phobien selbstbestimmt in den Simulationen bekämpfen – werden so „Meister ihrer Störung“, betont Jens Schneider, Chefarzt der Johannesbad Fachklinik Hochsauerland, Fachklinik für psychosomatische Erkrankungen. Aber: „Die VR-Brillen sind ein wichtiges Tool in der Angsttherapie, aber eben auch nur ein Baustein“, so Schneider. Zumal nicht alle Patienten die Tech-Brillen tragen könnten, beispielsweise Epileptiker nicht. Einige Träger litten auch unter Schwindel, der sogenannten Motion Sickness. Daher sei die Tragedauer auf maximal eine Stunde pro Tag limitiert.
Die VR-Therapie mit Expositionsbehandlung hat auch die Vitos Klinik Eichberg im Rheingau angeschafft. „Für einige Patienten ist die Hemmschwelle, sich ihrer Angst in der virtuellen Umgebung zu stellen, anfangs geringer, als wenn sie sich der Angst in der Realität aussetzen müssten“, sagt Dieter F. Braus, Ärztlicher Direktor. „Auch wenn die Exposition sich nicht zu 100 Prozent real anfühlt, ist doch das Angstgefühl echt und entsprechend auch der Behandlungsfortschritt.“
Im Gegensatz zu Mixed Reality (MR) oder Augmented Reality (AR) ist der Grad der Immersion bei VR am höchsten – die Patienten nehmen während der Behandlung visuell nichts außer der virtuellen Umgebung wahr. „Die Simulation kann individuell an den Patienten angepasst und die angstauslösenden Reize langsam gesteigert werden. Wenn wir einen Patienten mit Arachnophobie behandeln, können wir nach und nach die Größe oder die Position der Spinne in der Simulation modulieren“, erklärt Braus. Noch sind die Brillen bei Vitos Rheingau nur in der Angsttherapie im Einsatz, bald schon auch bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit. Andere potenzielle Felder sind die Geriatrie oder die Rehabilitation. Doch das hat seinen Preis. Der Nutzen sei zwar riesig, da sind sich alle einig, aber eben auch teuer. Refinanzierungsmöglichkeiten gibt es kaum. Insgesamt können die Kosten der Anschaffung zwischen Herstellern und Software völlig variieren. Sie liegen teils unter 5.000 Euro oder bis zu 50.000 Euro Einmalanschaffung. Entwicklungs- und Personalkosten kommen dazu. Die Johannesbad Fachklinik Hochsauerland investiert jährlich rund 12.000 Euro in die VR-Brillen, hauptsächlich seien das Leasing- und Lizenzgebühren. Die Wartungskosten seien aber verhältnismäßig gering, die VR-Therapien über Krankenkassen abrechenbar, so Braus.