Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung sieht die Stärkung der Pflege in politischen Gremien wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) vor. Wie realistisch ist diese Absicht? Wie könnte mehr politische Macht der Pflege konkret aussehen? Darüber sprachen wir mit der Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR), Christine Vogler.
Frau Vogler, die neue Bundesregierung ist seit vier Monaten im Amt. Gibt es für die Pflege schon spürbare Verbesserungen?
Faktisch hat sich für die Pflege noch nichts verändert. Wir haben als Profession auf dem politischen Parkett keinen Platz; es wurde und wird zwar über uns geredet, aber nach wie vor nicht mit uns. Momentan finden zwar Gespräche statt, aber die gab es auch schon vorher. Die Initiative ging und geht dabei stets vom DPR aus, nicht vom Ministerium. Tatsache ist, dass bislang keine für uns sichtbaren Vorbereitungen getroffen werden, die Absichtserklärungen aus dem Koalitionsvertrag anzugehen. Im Gegenteil: Einige der dort niedergeschriebenen Maßnahmen werden schon wieder infrage gestellt, beispielsweise die Einführung der PPR 2.0.
Der Koalitionsvertrag der Ampel sieht vor, die Profession Pflege in den wichtigen Gremien des Gesundheitswesens zu stärken. Was bedeutet dies konkret und was wäre nötig, um der Pflege wirklich mehr politische Macht zu geben?
Im Koalitionsvertrag stehen einige Absichtserklärungen, die dazu führen würden, die Profession Pflege stärker in die Organisation des Gesundheitswesens einzubinden. Das reicht von der Einführung eines allgemeinen Heilberufegesetzes über die Durchsetzung von Handlungsautonomie bis hin zur „Stärkung des Deutschen Pflegerats als Stimme der Pflege im Gemeinsamen Bundesausschuss“, wie es so schön heißt. Wichtig ist, diese Zusagen an die Profession nun auch beherzt anzugehen. Dabei geht es nicht, wie von einigen argumentiert wird, um die Übernahme ärztlicher Aufgaben. Wir wollen unsere pflegerischen Kompetenzen umsetzen – und das können wir nicht, weil es ärztliche Vorbehalte in Deutschland gibt. Wir möchten Aufklärungssituationen schaffen, Beratungsgespräche durchführen sowie Heil- und Hilfsmittel selbst verschreiben können. Es geht darum, der Berufsgruppe Pflege die Professionalisierung zuzugestehen, die sie braucht.
Was bedeutet es denn genau, der Pflege im G-BA eine Stimme zu geben? Wäre die Profession Pflege überhaupt in der Lage, intensiver im G-BA mitzuarbeiten? Was wäre dafür nötig?
Um die Aussichten der Profession Pflege auf echte Mitsprache im G-BA richtig einschätzen zu können, bedarf es einer genauen Unterscheidung zwischen Beteiligung im G-BA und Stimmberechtigung. Derzeit hat die Pflege weder das eine noch das andere. Wir erwarten, dass wir als Profession Pflege einen Rahmen und einen Raum in diesem Selbstverwaltungsgremium bekommen – und zwar mit Stimmberechtigung. Wir interpretieren diesen Passus des Koalitionsvertrags dahingehend, dass wir als DPR personelle und finanzielle Ressourcen erhalten, um überhaupt Entscheidungsgrundlagen zu erarbeiten und Stellungnahmen vorbereiten zu können. Denn dafür benötigt die Pflege – ebenso wie die Ärzteschaft und andere Organisationen, die im G-BA vertreten sind – einen Stab an qualifizierten Menschen, die in der Lage sind, Entscheidungen auf- und vorzubereiten. Hierzu müssen möglicherweise auch mal kleinere Forschungsaufträge an Hochschulen vergeben werden. Notwendig ist daher eine DPR-Geschäftsstelle mit Referentinnen und Referenten sowie der einen oder anderen juristischen Fachperson. Es muss also eine Institution geschaffen werden – wie auch immer wir sie am Ende nennen –, die unabhängig von Legislaturperioden Pflege als Berufsstand vertritt und in das Selbstverwaltungssystem eingebunden ist. Dies ist längst überfällig und ich wiederhole es gerne immer wieder: Der Berufsstand Pflege muss im G-BA vertreten und stimmberechtigt sein.
Warum ist der G-BA überhaupt so wichtig im Gesundheitswesen?
Anders als in anderen europäischen Ländern ist das deutsche Gesundheitswesen korporatistisch organisiert und basiert auf der Selbstverwaltung der zentralen Akteure. Während beispielsweise in Großbritannien, Schweden oder Italien ausnahmslos staatliche Behörden die medizinische Versorgung regeln und sowohl Arztpraxen als auch Krankenhäuser aus Steuermitteln finanziert werden, legt hierzulande der Staat nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen fest. Die Träger des Gesundheitswesens organisieren den Rest selbst. Der G-BA spielt als oberstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen dabei die zentrale Rolle. Diverse Interessenvertretungen arbeiten im G-BA zusammen und bestimmen, welche Leistungen gesetzlich Versicherte in Deutschland erhalten. Diese Organisationen haben somit starken Einfluss auf das Gesundheitssystem. Der G-BA erlässt Richtlinien, die für Krankenkassen, Versicherte und Leistungserbringer – sprich Arztpraxen oder Krankenhäuser – verbindlich gelten, also eine untergesetzliche Norm darstellen. So legt der G-BA beispielsweise fest, welche medizinischen Leistungen und Medikamente die gesetzlich Krankenversicherten in Anspruch nehmen und erstattet bekommen. Darüber hinaus legt er weiter fest, welche neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog der gesetzlich Versicherten aufgenommen werden. Er bestimmt zudem die Arzneimittelgruppen, für die Festbeträge festgesetzt werden. Darüber hinaus entscheidet er über die Instrumente der Qualitätssicherung für Krankenhäuser, wie etwa Mindestmengen oder die Fachkraftquote in bestimmten Bereichen.
Der G-BA ist also so etwas wie eine Regulierungsagentur. Wie setzt er sich denn zusammen und wer ist stimmberechtigt?
Derzeit sind im G-BA vier große Selbstverwaltungsorganisationen stimmberechtigt und entsenden Mitglieder ins Plenum: die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen. Darüber hinaus sitzt dem G-BA ein unparteiischer Chef vor – seit 2012 ist dies der CDU-Politiker Professor Josef Hecken. Er wird unterstützt von zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern, der Anästhesistin und klinischen Epidemiologin Dr. Monika Lelgemann und Karin Maag, die einst für die CDU/CSU-Fraktion als gesundheitspolitische Sprecherin im Bundestag saß. Neben den stimmberechtigten Gremien gibt es aber auch Organisationen, die immerhin mitberaten dürfen, wie die Ärzteschaft vertreten durch die Bundesärztekammer, oder Organisationen, die auf Bundesebene maßgeblich die Interessen der Patientinnen und Patienten sowie chronisch kranker und behinderter Menschen vertreten. Sie dürfen sich an den Beratungen beteiligen und auch Anträge stellen, haben jedoch kein eigenes Stimmrecht. Für die Bundesärztekammer gilt dies nur bedingt, denn sie hat zwar keine eigene Stimme im G-BA – die Ärzteschaft verfügt aber dennoch über eine Vertretung in dem Gremium. Denn mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung hat der Berufsstand sehr wohl eine Hand, die er bei Abstimmungen erheben kann. Die Profession Pflege hat diese Stimme nicht. Wir haben somit weder das Recht Stellungnahmen einzureichen noch sind wir stimmberechtigt. Der DPR ist bislang nur in einem einzigen von neun Unterausschüssen vertreten, der Qualitätssicherung. Dort hat sie jedoch weder eine beratende noch eine mitbestimmende Position inne. Es ist für mich erschreckend zu sehen, dass die politisch Verantwortlichen – egal welcher Partei sie angehören – das Gesundheitssystem hierzulande nicht anpacken. Sind sie in der Opposition, setzen sie sich für die Errichtung von Pflegekammern ein. Sind sie in der Regierungsverantwortung, vergessen sie alles, was sie vorher gesagt haben. Dieses fragwürdige Gesundheitssystem in Deutschland fasst keiner an, warum auch immer.
Warum ist die Stimmberechtigung im G-BA so wichtig für die Profession Pflege? Geht es um Macht?
Ja, es geht um Machtstrukturen. Daher ist es mit Sicherheit auch nicht attraktiv für die Regierung, dieses System zu verändern. Da der G-BA die Richtlinienkompetenz innehat, steuert dieses Gremium das gesamte Gesundheitssystem in Deutschland. Jeden Tag. Der G-BA ist mittlerweile zu einer riesigen Behörde geworden, die inzwischen Innovationsfondsgelder vergibt. Da frage ich mich, mit welcher Kompetenz dies geschieht und ob der G-BA mittlerweile über zu viel Macht verfügt. Immerhin hat offensichtlich auch die Politik diese Fehlentwicklung erkannt, denn im Koalitionsvertrag ist die Reform des G-BA vorgesehen. Scheinbar ist der Politik klar geworden, dass es zu einer Unwucht gekommen ist und mit dem G-BA etwas gewachsen ist, das zwar seine Berechtigung im System hat, wo aber nachjustiert werden muss. Ich habe die Hoffnung, dass neben den derzeit vier stimmberechtigten Selbstverwaltungsgruppen im Gesundheitswesen noch weitere Gruppen aufgenommen werden, die mit ihrer Perspektive und Expertise dort vertreten sein müssen und Mitspracherechte bekommen. So eben auch die Pflege.
Neben der Beteiligung und Stimmberechtigung im G-BA ist die berufsständische Selbstverwaltung ein weiterer wichtiger Aspekt für mehr Gestaltungsspielraum im Gesundheitswesen. Wie soll es mit den Kammern aus Ihrer Sicht weitergehen?
Unsere Haltung ist hier ganz klar: Neben der Stimmberechtigung für die Pflege im G-BA muss es auch die Selbstverwaltung auf Landesebene geben – ausdrücklich ohne vorherige Befragung der künftigen Mitglieder. Wir haben 16 Landesregierungen in Deutschland, die ihre Verantwortung in der Gesundheitsversorgung nicht adäquat wahrnehmen, wenn sie nicht endlich begreifen, dass Selbstverwaltungsstrukturen in der Pflege politische Entscheidungen sind. Unsere Berufsgruppe muss dazu verpflichtet werden, sich zu organisieren und Entscheidungen herbeizuführen. Das ist zwingend notwendig. Denn es geht um Gesundheitsversorgung. In zehn Jahren fehlen 500.000 Pflegekräfte. Damit wir annähernd gemeinsam mit den anderen Akteuren entscheiden können, wie wir beispielsweise die unterschiedlichen Berufsfelder weiterentwickeln, muss die Profession Pflege in diese Entscheidungen eingebunden werden. Wer soll das denn entscheiden, wenn nicht die Berufsgruppe selbst? Das heißt für mich, dass die Pflege quasi dazu verdonnert werden muss, in Selbstverwaltungsstrukturen diesen Beruf in Deutschland zu organisieren. Das Argument, dass die Profession Pflege das selbst machen und wollen muss, ist für mich nicht überzeugend. In anderen europäischen Ländern ist Pflege staatlich organisiert, damit man die Profession einbinden kann. Auch in Deutschland ist ein Gesetz nötig, das die Pflege dazu bringt, sich selbst zu organisieren. Die Selbstverwaltung für die Pflege verbindlich einzuführen, ist nicht Kür, sondern Pflicht. Erlauben Sie mir an dieser Stelle noch eine Anmerkung: Mir ist ganz wichtig zu betonen, dass die Berufsgruppe Pflege die von der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Claudia Moll, initiierte Befragung zur Selbstverwaltung ablehnt. Es ist die Aufgabe des Staates, die Gesundheit und pflegerische Versorgung zu sichern. Wenn der Staat weiter Pflege kategorisch aus den Entscheidungen im Gesundheitswesen ausschließt, dann sichert er Gesundheit nicht, sondern gefährdet diese, weil er die Kompetenz einer ganzen Berufsgruppe außer Acht lässt. Es geht schon lange nicht mehr um Befragung, sondern um Umsetzung von Gesetzen.