Immer mehr junge Menschen brechen ihre Pflegeausbildung ab. Dieses Phänomen ist nicht neu, bekommt aber angesichts des Fachkräftemangels eine neue Dringlichkeit. Bildungseinrichtungen reagieren mit unterschiedlichen Maßnahmen – von Lerncoaching bis Schulsozialarbeit. Doch das allein genügt nicht.
Corona, der Schichtdienst, die Menge an Lernstoff – das sind einige Gründe, die Auszubildende bei ihrer Kündigung nennen. „Nicht bei allen erfährt man den wahren Beweggrund“, sagt Melanie Tulke. Sie leitet die Gesundheits- und Krankenpflegeschule der Regio Kliniken in Elmshorn, mit rund 200 Pflegeauszubildenden eine der größten in Schleswig-Holstein. Seit der Pandemie hat die Abbruchquote unter den Auszubildenden zugenommen – ein Umstand, der zunehmend Sorge bereitet. „Viele junge Menschen kommen heute mit besonderen Belastungen in die Ausbildung und bringen ein wirkliches Päckchen mit“, sagt Tulke. Das reiche von Lern- und emotionalen Belastungen, familiären Problematiken, psychischen Erkrankungen, Kriegserlebnissen bis hin zu Sprachproblemen bei Migrationshintergrund. „Wir haben uns gefragt: Was können wir tun? Unsere Auszubildenden sind schließlich unsere Pflegekräfte von morgen.“
Genaue Zahlen fehlen
Bundesweit geben Kliniken und Bildungseinrichtungen steigende Abbrecherquoten und sinkende Bewerberzahlen an. „Wie viele Menschen die Pflegeausbildung tatsächlich abbrechen, wissen wir nicht genau“, sagt Carsten Drude, Vorsitzender des Bundesverbands Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe (BLGS). „Wenn wir die Bildungseinrichtungen des BLGS anfragen, finden wir Streuungen von 5 bis 30 Prozent.“ Aussagekräftige Zahlen des Statistischen Bundesamts (Destatis) lägen noch nicht vor – zumindest nicht unter generalistischen Bedingungen.
„Frühere Zahlen verweisen auf Abbrecherquoten von etwa 25 Prozent“, sagt Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR) und Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe. Damit sind die Zahlen vergleichbar mit denen anderer Ausbildungsberufe. Auch hier brechen immer mehr junge Menschen ihre Ausbildung ab. Haben im Jahr 2008 noch 21,5 Prozent ihren Ausbildungsvertrag gelöst, waren es 2018 bereits 26,5 Prozent [1].
Dabei hat die Zahl der Auszubildenden in der Pflege zugenommen, wie aktuelle Zahlen von Destatis zeigen. Im Jahr 2019 haben 8 Prozent mehr eine Pflegeausbildung begonnen als im Vorjahr und 39 Prozent mehr als vor 10 Jahren. Auch gab es mehr Menschen, die eine Pflegeausbildung erfolgreich abgeschlossen haben – immerhin 3 Prozent mehr als im Vorjahr und 25 Prozent mehr als vor 10 Jahren [2].
Also alles halb so schlimm? Nein, alle genannten Zahlen liegen bereits mehrere Jahre zurück, sagt DPR-Präsidentin Vogler. „Seitdem hatten wir zwei Pandemiejahre, die die Auszubildenden schwer getroffen haben, die generalistische Ausbildung wurde eingeführt und es fehlen bundesweit Praxisanleitende und Lehrpersonen.“ Außerdem schlage der Personalmangel in der Pflege jetzt erst richtig durch, während die Anzahl an Pflegebedürftigen weiter ansteige. „Wir steuern auf eine Katastrophe zu“, warnt Vogler.
Corona, Überforderung und weitere Gründe
Der BLGS-Vorsitzende Drude sieht die Situation ebenfalls mit Sorge. Gerade der zunehmende Mangel an Praxisanleitenden und Lehrenden in der Pflege schlage sich in der Qualität der Ausbildung nieder und könnte die ohnehin hohe Abbruchquote noch verstärken. Auch die Pandemie sei nicht ohne Auswirkungen geblieben. „Die Not war groß, und in manchen Einrichtungen sind die Auszubildenden in dieser Zeit ins kalte Wasser geworfen worden. Wir als BLGS haben klare Regeln gefordert, damit das nicht passiert“, sagt Drude. Aber auch hier hätte es Ausreißer gegeben.
Eine weitere Auswirkung von Corona: In den laufenden Kursen sind die Prüfungsergebnisse deutlich schlechter ausgefallen als sonst, wie Drude von vielen Pflegeschulen hört. „Ein Distanzunterricht kann die Auszubildenden eben nicht so auffangen wie in Präsenz. Viele Auszubildende mussten ihre Prüfung wiederholen.“
Die Gründe für die Ausbildungsabbrüche seien in vielen Fällen ähnlich wie früher, weiß Drude als Geschäftsführer der Franziskus Gesundheitsakademie Münster: Manche Auszubildende waren vorher noch nie im Krankenhaus oder Pflegeheim und haben sich unter dem Beruf einfach etwas anderes vorgestellt. Manche bekommen kurzfristig einen Studienplatz und brechen ab, andere ziehen – der Liebe wegen oder aus anderen Gründen – in eine andere Stadt. Der Großteil der Auszubildenden gehe im ersten halben Jahr. Oft im gegenseitigen Einvernehmen. Denn auch die Schulen schauten in dieser Zeit: Schaffen die Auszubildenden das?
Aber es sind auch neue Gründe hinzugekommen. „Die Klientel der Bewerbenden hat sich geändert“, sagt Drude. Mehr Menschen mit Migrationshintergrund beginnen die Ausbildung, dadurch haben Sprachprobleme deutlich zugenommen. Und bevor man Ausbildungsplätze leer lasse, nehme man heute in der Not auch kognitiv schwächere Kandidaten, bestätigt DPR-Präsidentin Vogler – „in der Hoffnung, dass sich diese Menschen schon irgendwie reinschulen lassen“. Das sei aber ein großer Irrtum. „Deshalb brechen auch so viele ab. Sie sind zwar am Anfang sehr motiviert, merken aber bald, dass sie heillos überfordert sind.“
Einige Auszubildende brauchen besondere Begleitung
Diese Überforderung kennt auch die Schulleiterin Melanie Tulke aus Elmshorn. „Die Ausbildungsreife hat sich verändert, die Lernbelastung ist gestiegen. Mit der Generalistik ist ein hohes Niveau gefragt“, sagt Tulke. Viele Auszubildende seien privat sehr belastet, das komme dann auf die Anforderungen des Pflegeberufs noch obendrauf. „Wir haben Auszubildende, die mit Bus oder Bahn pro Weg zwei Stunden zu uns fahren oder eigene Kinder und andere Familienmitglieder betreuen müssen“, erzählt Tulke. Diese jungen Menschen haben einen besonderen Begleitungsbedarf. Eine Unterstützung dieser Art könnten die Lehrenden aber nur bedingt leisten: „In solchen Fällen sind der Gesprächsbedarf und Zeitaufwand enorm, und hier kommen wir auch als Pädagogen an unsere Grenzen.“
Die Gesundheits- und Krankenpflegeschule Regio Kliniken in Elmshorn hat deshalb seit Februar 2022 eine Sozialarbeiterin mit voller Stelle eingestellt, um Auszubildende in problematischen Situationen zu begleiten und ihnen eine Vertrauensperson zur Seite zu stellen. „Uns war wichtig, jemanden zu haben, der sich mit Unterstützungsmöglichkeiten auskennt und die Auszubildenden bei Bedarf gezielt begleiten kann“, sagt Tulke. Ein großer Vorteil: Die Sozialarbeiterin gehört mit zum Team, ist aber gleichzeitig außen vor, weil sie die Auszubildenden – anders als die Lehrenden – nicht bewerten oder beurteilen muss.
Die Sozialarbeiterin soll künftig nicht nur einzelne Auszubildende beraten, sondern auch Projekte im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung übernehmen, zum Beispiel Gruppenangebote zu Themen wie Mobbing, Ängste oder Stress. Hinzu kommen Schreib- und Sprachförderung von Auszubildenden, Lerncoaching und Lernberatung sowie Peer-Coaching, bei dem das kollegiale Lernen gefördert wird. Weitere Aufgaben sind die Evaluation von Ausbildungsabbrüchen sowie die Beratung der Lehrpersonen und aller an der Ausbildung Beteiligten, also auch der Praxisanleitenden und externen Kooperationspartner.
Der Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe hat in diesem Jahr bereits die dritte Sozialarbeiterin eingestellt und mit diesem Modell gute Erfahrung gemacht. „Die Aufgaben reichen von Schuldnerberatung über Gewalt- und Aggressionsabbau bis zum Lerncoaching“, sagt Vogler. Die Sozialarbeiterinnen kümmerten sich um die ganze Bandbreite an Belastungen, die Auszubildende heute oft im Gepäck haben, zudem gebe es Sprachlehrer in den Schulen, Arbeitsblätter in einfacher Sprache und vieles mehr. „Das ist eine Begleitung, die absolut Früchte trägt.“
Bewerberakquise: junge Menschen richtig ansprechen
Über die individuelle Begleitung hinaus braucht es eine gezielte Bewerberauswahl, um mehr junge Menschen für den Beruf zu gewinnen. Die Bewerberzahlen gehen zurück, gerade in ländlichen Regionen. „Wir sind auf dem Markt ein Anbieter unter vielen“, sagt Drude. „Was wir bieten können, ist ein krisensicherer Job mit vielen Karrierechancen.“ Das werde aber häufig nicht gesehen und Pflege werde in den Medien sehr negativ dargestellt. Dem müsse man positive Signale entgegensetzen und überlegen, wo und auf welche Weise man junge Menschen heute ansprechen könne.
Die Franziskus Gesundheitsakademie Münster hat unter ihren Auszubildenden kürzlich eine Umfrage gemacht, warum sie sich für eine Ausbildung in ihrer Einrichtung entschieden haben. Grund Nummer 1 lautete: der Ruf des Trägers, Grund Nummer 2: Empfehlungen von Freunden und Verwandten, Grund Nummer 3: eine schnelle Reaktionszeit auf die Bewerbung. „Das klingt banal, aber wie gut das Bewerbungsverfahren läuft, gibt häufig den Ausschlag“, sagt Drude. „Heute müssen sich junge Menschen direkt auf dem Handy bewerben können. Wir müssen – gerade im Wettbewerb mit anderen Ausbildungen – eine zeitgemäße Ansprache sicherstellen, und zwar über die Medien, die junge Menschen nutzen.“
Eine wichtige Strategie bei der Akquise sei es, den Auszubildenden Wohnmöglichkeiten anbieten zu können. Das wurde in den vergangenen Jahren aber vernachlässigt, viele Träger haben Wohnraum abgebaut. „Das war ein strategischer Fehler“, sagt Drude. Er kennt einen Träger im ländlichen Raum, der den Auszubildenden anbietet: Während der Ausbildung könnt ihr hier kostenfrei wohnen. „Seitdem hat er seine Kurse wieder voll.“
Ein wichtiges Ziel der Konzertierten Aktion Pflege der Bundesregierung lautet, mehr Auszubildende für die neue Pflegeausbildung zu gewinnen. „Das ist zu Beginn gelungen, die Zahlen konnten um etwa fünf Prozent gesteigert werden“, sagt Drude. „Wenn wir diese Zahlen in Relation zu den hohen Abbruchszahlen setzen, müssen wir uns aber fragen: Haben wir die Anforderungen zu niedrig gesetzt?“ Bei der Bewerberakquise vorrangig auf Quantität zu setzen, sei schlicht nicht der richtige Weg.
Die Macht der Praxis
Mitunter sei es auch besser, wenn Menschen die Pflegeausbildung frühzeitig abbrechen, sagt Vogler. Eine Berufswahl müsse immer eine Wahl sein, das könne auch bedeuten zu erkennen: Dieser Beruf ist nicht der richtige für mich. „Bitter ist es allerdings, wenn sich Auszubildende nicht gegen den Beruf, sondern gegen die Arbeitsbedingungen entscheiden, weil sie alleingelassen werden, keine Praxisanleitung erleben und auf eine verbitterte Berufsgruppe treffen, die ihnen vom Pflegeberuf eher abrät. Und leider gehen heute immer mehr Auszubildende wegen der Bedingungen.“ Dabei habe man mit dem Pflegeberufegesetz ein Werkzeug bekommen, das die Ausbildung so gut regele wie nie zuvor. „Diese Situation ist durch den Fachkräftemangel aber so prekär, dass die Idee des Pflegeberufegesetzes angegriffen wird“, resümiert Vogler.
Die Schule allein könne das Problem der Ausbildungsabbrüche nicht lösen – trotz aller Lernbegleitung, Sprachförderung und sozialen Unterstützung. Das alles wird nichts helfen, wenn sich nicht die Bedingungen ändern, ist sich Vogler sicher. „Die beste Möglichkeit, Auszubildende zu halten, ist Arbeitsbedingungen zu schaffen, bei denen die Leute denken: Hier macht es Spaß zu arbeiten!“ Dazu gehören auch feste Ansprechpartner vor Ort. „Das, was in der Praxis vorgelebt wird, hat einen ganz entscheidenden Einfluss. Die Auszubildenden identifizieren sich sehr schnell mit dem Träger oder der jeweiligen Ausbildungsstation“, sagt Vogler. „Die Macht der Praxis ist riesig.“
[1] Oschmiansky F. Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt: Daten, Zahlen, Fakten. Bundeszentrale für politische Bildung, 01.09.2020. Im Internet: www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/317172/die-lage-auf-dem-ausbildungs markt-daten-zahlen-fakten/#node-content-title-3; Zugriff: 10.03.2022
[2] Destatis. Löhne in der Pflege: Bruttoverdienste von Fachkräften in Krankenhäusern und Heimen 2020 rund ein Drittel höher als 2010. Pressemitteilung vom 11. Mai 2021. Im Internet: www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/ 2021/05/PD21_N032_622.html; Zugriff: 10.03.2022