Bei alten Menschen mit COVID-19 ist eine Intensivtherapie oft nicht indiziert und auch nicht gewünscht. Doch wie sehen die Alternativen aus? Ein Gespräch mit dem Palliativmediziner und Preisträger des Deutschen Schmerzpreises 2020, Dr. Matthias Thöns, über ein ganzheitliches Therapiekonzept bei COVID-19, die Wichtigkeit von Patientenverfügungen und mögliche Gründe für das häufige Zuviel an Beatmungstherapie.
Herr Dr. Thöns, Sie haben schon sehr früh kritisiert, dass die Behandlung von COVID-19 einseitig auf die Intensivbehandlung ausgerichtet ist. Warum ist das problematisch?
COVID-19 bedroht im Wesentlichen hochbetagte Menschen. In Deutschland betreffen 64 Prozent der Todesfälle die über 80-Jährigen. Etwa die Hälfte der fatalen Fälle ereignet sich im Pflegeheim, ungefähr jeder dritte COVID-19-Erkrankte stirbt trotz Behandlung. Bei circa 80 Prozent der Verstorbenen lagen weitere schwere Begleiterkrankungen vor. Schwer betroffen sind im Wesentlichen Patientinnen und Patienten mit lebensbegrenzenden Erkrankungen – im weiteren Sinne also Palliativpatienten. Hier entsprach es oft nicht guter Medizin, eine Intensivbehandlung anzustreben. Zumeist war sie auch ungewünscht.
Wie sind die Erfolge einer Intensivtherapie bei hochbetagten Menschen mit COVID-19?
Extrem schlecht. Bei den über 80-Jährigen „überleben körperlich“ nur 15 Prozent, wenn eine Beatmung notwendig wird. Den wenigen Überlebenden drohen massive Folgeerkrankungen, eine erhebliche Zunahme der Behinderung und eine lange, oft leidvolle Intensivtherapie. Studien zufolge würden die meisten älteren Menschen dies schlicht verweigern. Sie würden ein palliatives Konzept vor Ort wählen, das durch die gute Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung, kurz SAPV, die wir in Deutschland haben, unmittelbar umsetzbar wäre.
Wie sieht es bei den unter 70-Jährigen aus?
Hier ist die Sterblichkeit deutlich geringer, deshalb macht eine Intensivtherapie – und auch Beatmung – oft Sinn. Und auch wenn die Krankheitsfolgen nicht unerheblich sind, würden die meisten jüngeren Patienten eine Intensivtherapie auch wollen. Aber deutlich weniger als die Hälfte deutscher Intensivpatienten sind unter 70 Jahre alt.
Aber auch bei älteren Menschen: Sollte man im Zweifelsfall nicht alles versuchen, wenn es zumindest eine geringe Aussicht auf Erfolg gibt?
Eine jüngere internationale Metastudie beziffert die Sterblichkeit unter einer Intensivtherapie bei den über 80-Jährigen mit 85 Prozent. Und von den Überlebenden findet nur ein ganz geringer Teil zurück in ihr altes Leben, laut Studien etwa zwölf Prozent. Dieser Anteil dürfte bei den über 80-Jährigen mit COVID-19 noch geringer sein. Denn eine längerfristige Beatmung – bei COVID-19 sind das im Schnitt 18 Tage – ist kein Zuckerschlecken. Es muss also klar kommuniziert sein, dass es nur eine geringe Chance auf Lebenserhaltung gibt, dann aber eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit von Schwerstpflegebedürftigkeit. Von dieser Konstellation weiß man, dass die meisten älteren Menschen dies für sich nicht wünschen.
Wie können ältere Patienten geschützt werden, die keine intensivmedizinische Behandlung wollen, aber keine Patientenverfügung haben? Meistens kommt eine COVID-19-Diagnose ja plötzlich.
Ohne Patientenverfügung gibt es leider oft Maximaltherapie. In solchen Fällen können Angehörige das Gespräch mit den behandelnden Ärzten suchen. Aber gesprochen wird derzeit leider nicht viel. Von daher ist es sinnvoll, innerhalb der Familie frühzeitig das Gespräch zu suchen und die hochbetagten Familienmitglieder zu fragen: Wie viel Therapie möchtest du im Falle einer COVID-19-Erkrankung?
Was ist die Alternative zur Intensivbehandlung bei COVID-19?
Die Alternative ist ein maximal zuwendungsorientiertes ganzheitliches Konzept. Unser Konzept sieht so aus: die Erkrankten ausreichend schlafen lassen, reichlich trinken, viel Obst und Gemüse essen, Streit und Ärger vermeiden. Zweimal täglich den Sauerstoffwert im Blut messen und zum Schutz der Familie im Raum einen Luftfilter einsetzen. Die Betroffenen sollten dreimal täglich ihren Rachen mit Mundwasser spülen, bei Fieber über 38,5 Grad Celsius wird Paracetamol 500 mg gegeben. Hilfreich können auch ASS 100 mg, Zinkaspartat 50 mg und Vitamin D sein, bei Beschwerden eventuell auch Heparin-Spritzen. Kommt es zu Atembeschwerden, kann Dexamethason, also Cortison, gegeben werden, bei Bedarf auch Opioide und Sauerstoff. Zudem sollte man die Erkrankten viel auf dem Bauch schlafen lassen, was sich positiv auf ihre Atmung auswirkt.
Und wenn es zu einem schweren Verlauf kommt?
Nach unseren Erfahrungen haben nur sehr wenige Patienten stärkere Beschwerden, wenn es zu einem schlimmeren Verlauf kommen sollte. Die Fachwelt nennt das „silent hypoxia“. Das bedeutet, dass viele Patienten mit COVID-19 trotz schwerer Hypoxämie keine Luftnot oder Zeichen einer beschleunigten Atmung zeigen. Kommt es zu stärkeren Beschwerden, lassen sich diese mit einfachen palliativmedizinischen Strategien gut lindern.
Bei COVID-19 sind vor allem Angst und Atemnot die führenden Beschwerden. Wie können diese Symptome medikamentös kontrolliert werden?
Das geht relativ gut mit Opioiden. Bei Patienten mit fortschreitendem respiratorischen Versagen und der Therapiebegrenzung „keine Intubation“ ist es empfehlenswert, Opioide zur Symptomkontrolle zu geben. Kein Mensch muss in der Palliativversorgung ersticken – keiner!
Welche nichtmedikamentösen Maßnahmen sind zu empfehlen?
Die Erkrankten sollten eine atemfördernde Lagerung einnehmen, viel auf dem Bauch schlafen, es sollte für Entspannung und Zuversicht gesorgt werden. Die allermeisten – auch älteren Betroffenen – dürfen mit einem leichten Verlauf und Genesung rechnen. Laut der „Handlungsempfehlung zur Therapie von Patient*innen mit COVID-19 aus palliativmedizinischer Perspektive 2.0“ können bei milderen Verläufen mit mäßiger Atemnot auch Körperpositionen wie Kutschersitz, Kissen unter Arme et cetera, Entspannung oder Kühlung des Gesichts durch ein kühles Tuch zur Linderung der Atemnot beitragen. Hier sollten wegen der Aerosolverteilung aber keine Handventilatoren eingesetzt werden! Wenn eine Intensivtherapie und invasive Beatmung nicht indiziert sind, können Sauerstoffgabe und nasale High-Flow-Therapie zu einer Symptomlinderung beitragen.
Was kann getan werden, wenn es zu Panikreaktionen oder zum Delir kommt?
Hier helfen vor allem die Menschen um den Erkrankten herum. Sie sollten Orientierung geben, die Person durch besänftigende Worte beruhigen, da sein. Wenn das nicht zielführend ist, helfen Benzodiazepine. Im schlimmsten Fall kann die palliative Sedierung erfolgen. Diese ist immer dann indiziert, wenn wir Leiden nicht anders lindern können. Wichtig ist hierbei, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Das heißt, nicht zu früh – weil es einfach nicht nötig ist – und vor allem aber auch nicht zu spät – denn jede leidvolle Minute vor dem Tod brennt sich in die Erinnerung der Familie ein.
Gibt es generell Unterschiede in der palliativmedizinischen Behandlung von COVID-19-Patienten gegenüber der anderer Palliativpatienten?
Die Unterschiede betreffen vor allem die Infektionsgefahr von Team und Familie, die Quarantäne und die oft vorhandenen Schuldgefühle – „vielleicht habe ich die Oma angesteckt“. Die palliativmedizinischen Maßnahmen hingegen sind sehr ähnlich.
Ist in jedem Fall eine stationäre Behandlung erforderlich oder können Patienten auch zu Hause betreut werden?
Wenn die Angehörigen das mittragen, können die Patienten natürlich auch zu Hause betreut werden oder im Pflegeheim, wenn sie dort leben. Nur in Ausnahmefällen müssen von uns betreute Patienten in die Klinik.
Versorgen Sie als Palliativmediziner auch Patienten mit COVID-19?
Ich habe in der vergangenen Woche meinen 27. Totenschein bei COVID-19 geschrieben. Meine Gemeinschaftspraxis für Palliativmedizin liegt in Witten in Nordrhein-Westfalen, die Region ist leider schwer von der Pandemie getroffen worden. Wir haben von Anfang an die palliativmedizinische Versorgung normal weiterlaufen lassen, ob die Patienten nun coronanegativ oder corona-positiv waren.
Wie schützen Sie sich und Ihr Team?
Grundsätzlich halten wir möglichst viel Abstand und haben direkte Patientenberührungen leider auf ein Minimum reduziert. Mein Team arbeitet seit März 2020 auf dem Niveau, dass wir mindestens FFP2-Masken sowie einen Augenschutz tragen. Bei positiv getesteten Menschen setzen wir zudem eine Handschuh- und Kittelpflege um. Als es noch nicht genug Masken gab, hat halb Witten für unsere Patienten Masken genäht. Spendengelder erleichtern es uns, den betroffenen Familien auch FFP2-Masken, Pulsoximeter, Desinfektionsmittel und Raumluftreiniger zur Verfügung zu stellen.
Herr Dr. Thöns, Sie sind im März 2021 für Ihr Engagement in der Schmerz- und Palliativmedizin mit dem Deutschen Schmerzpreis 2020 ausgezeichnet worden. Einen herzlichen Glückwunsch dazu. Was motiviert Sie, sich öffentlich immer wieder gegen eine Übertherapie von Patienten einzusetzen? Damit machen Sie sich ja nicht nur Freunde.
Die Leitschnur meines ärztlichen Handelns steht weit oben in der Berufsordnung: „Ärztinnen und Ärzte üben ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus.“ Ich kriege „Blutdruck“, wenn ich sehe, wie manch eine Klinik diese Berufspflicht der Ökonomie opfert. Es gibt leider massive geldliche Anreize für eine Beatmungstherapie. Das gilt auch für die Versorgung von COVID-19-Patienten. So berichtet die AOK, dass die Behandlung der nichtbeatmeten COVID-19-Patienten im Schnitt 5.000 Euro kostet, die der Beatmeten hingegen 38.500 Euro. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass entgegen der COVID-19-Leitlinien bei über 80 Prozent der Betroffenen mit Atemproblemen direkt eine invasive Beatmung erfolgt.
Was empfiehlt die Leitlinie?
Sie empfiehlt, vor einer Beatmung mehrere weniger eingreifende Verfahren auszureizen wie die High-Flow-Sauerstofftherapie und CPAP bis zur nichtinvasiven Beatmung, kurz NIV. Die Häufigkeit der invasiven Beatmung dürfte bei einer Vielzahl der schwer betroffenen Patienten auch der Grund sein, weshalb die Intensivkapazitäten trotz einer sehr hohen Vorhaltung in Deutschland nicht ausreichend sind. Und sie werden auch nicht ausreichen, wenn man sie weiter ausbaut. Geht man damit an die Öffentlichkeit, werden einem teils schlimme Knüppel zwischen die Beine geworfen. Aber es lohnt sich – ich kann abends in den Spiegel schauen. Und die Menschen, denen man hilft, die man berät oder gar aus den Fängen einer abrechnungsoptimierten Medizinfabrik befreit, sind unendlich dankbar. Als mich der Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft, Johannes Horlemann, informiert hat, dass ich den Deutschen Schmerzpreis bekomme, hatte ich Tränen in den Augen. Denn es gibt sie vielfach – die guten Ärztinnen und Ärzte.