Singen kann den Zugang zu Personen erleichtern, die Pflege zurückweisen. Gleichzeitig profitieren sowohl pflegebedürftige Personen als auch Pflegende selbst von dieser Art der Intervention. Der Beitrag fasst zusammen, wie sich das Singen von Pflegekräften auf das abwehrende Verhalten der Pflegebedürftigen auswirkt.
Herr Müller reagiert bei der Körperpflege aggressiv. Sein Gesicht will er sich nicht waschen lassen, er schlägt nach der Pflegekraft und schreit.
Viele Pflegende haben solche oder ähnliche Situationen bereits erlebt. So stellen Zeller et al. (2013) fest, dass 96 Prozent der befragten Pflegekräfte aus 21 schweizerischen Pflegeheimen in ihrem Arbeitsleben von Aggressionsereignissen betroffen sind. Aus der Studie geht hervor, dass dies überwiegend bei Tätigkeiten mit engem Körperkontakt zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigem auftritt, wie bei der Mobilisation oder der Körperpflege. Dabei drücken Pflegebedürftige ihre Abwehr durch Schlagen, Beißen oder Spucken aus.
Als Ursache für das abwehrende Verhalten der Pflegebedürftigen sehen Pflegende vor allem ein situatives Unverständnis, Überforderung, Verwirrtheit, Sprach- und Kommunikationsprobleme, Angst oder Schmerzen. Auch Zeitmangel des Pflegepersonals kann auslösend sein (Zeller et al. 2013).
Solche Situationen sind für Pflegende belastend. Sie verlassen körperlich und emotional erschöpft die Station; sogar Burnout kann auftreten (Scott et al. 2011). Ohne geeignete Interventionen entsteht eine Mauer zwischen Pflegefachperson und Pflegebedürftigem.
Um die Situation zu bewältigen, setzen Pflegende einerseits beruhigende Gespräche ein, andererseits aber fordern sie die aggressive Person auch dazu auf, ihr Verhalten zu ändern, oder distanzieren sich sogar von ihr (Zeller et al. 2013). Erfahrungsgemäß führen diese Strategien nicht immer zum Ziel.
Eine aktuell in diesen Fällen noch selten angewendete Maßnahme ist das Singen. Aber Singen macht fröhlich. Das kann jeder nachvollziehen, der unter der Dusche singt oder beim Autofahren die Radiomusik mitträllert. Singt man, verbessert sich die eigene Stimmung, man entspannt sich und Stress wird reduziert (Kreutz 2015). Im Lexikon der Musiktherapie (Rittner 2009) werden hierzu auf Grundlage verschiedener Forschungsprojekte weitere positive Auswirkungen ergänzt, wie die verbesserte Körperwahrnehmung, ein schmerzstillender Effekt und die gesteigerte körperliche Leistungsfähigkeit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Singen bereits im stationären Bereich angekommen ist. Beispielsweise bietet die Initiative „Singendes Krankenhaus e. V.“ Krankenhäusern und Altenheimen die Möglichkeit der Zertifizierung. Das setzt ein Angebot an regelmäßig stattfindenden Singgruppen für Pflegebedürftige voraus. Singen wird hier als heilsam und gesundheitsfördernd für den Singenden dargestellt (Heim 2016).
Doch welche Auswirkungen hat das Singen auf den Zuhörer? Insbesondere ist interessant, ob das Singen von Pflegenden bei der Körperpflege das abwehrende Verhalten der Pflegebedürftigen beeinflussen kann.
Singen entspannt und reduziert Stress
Verschiedene Studien untersuchten das Verhalten von pflegebedürftigen Personen, wenn Pflegende Volkslieder, populäre Songs, Kinderlieder oder Trinklieder während der Körperpflege sangen oder summten.
Die an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen waren überwiegend wacher, offener und aufmerksamer. Das zeigte sich unter anderem in einer aufrechten Körperhaltung und mehr Augenkontakt. Daraus resultierte eine verbesserte Wahrnehmung der eigenen Person sowie der Umgebung (Götell et al. 2003). Weiterhin veränderte sich der Gemütszustand der Pflegebedürftigen. Sie wirkten positiv gestimmt, lachten, sangen mit oder vollendeten ihnen bekannte Liedtexte (Götell et al. 2009). Außerdem erlangten sie bereits verlernte Fähigkeiten wieder, wie Haare kämmen oder Zähne putzen.
Bei Pflegenden führte dieses veränderte Verhalten der Pflegebedürftigen ebenfalls zu positiven Gefühlen. Hammar et al. (2011a) erwähnen deren Überraschung, Freude und Entspannung.
Dennoch ist es kein Allheilmittel, wenn Pflegende singen. Die Studien belegen, dass nicht alle Pflegebedürftigen aktiv an Pflegetätigkeiten teilnahmen. Diese Personengruppe wies zumindest eine verringerte Abwehrhaltung gegenüber Pflegehandlungen auf (Hammar et al. 2011a). Es waren weniger verbale Instruktionen notwendig. Weiterhin sind Pflegebedürftige erwähnt, die sich von dem Gesang während ihrer Körperpflege unbeeindruckt zeigten. Ihre abwehrenden Verhaltensmuster veränderten sich nicht (Hammar et al. 2011a). Aus einer Interventionsstudie von Hammar et al. (2011b) geht hervor, dass Singen abwehrende Verhaltensmuster zwar nicht gänzlich beseitigt, deren Dauer jedoch zu reduzieren vermag.
Insgesamt beschreibt keine der Forschergruppen negative Auswirkungen des Singens und es verursacht keine zusätzlichen Kosten. Singen kann deshalb als individuelle Maßnahme empfohlen werden, um Abwehrreaktionen zu reduzieren, und sollte daher Einzug in die pflegerische Praxis halten.
Dabei ist es wichtig, eine Pflegesituation für den Pflegebedürftigen so angenehm wie möglich zu gestalten. Zu beachten ist, dass Pflegebedürftige aufgrund individueller Bedürfnisse und Präferenzen unterschiedlich auf die ihnen angebotene Pflege reagieren. Das gilt auch für das Singen. Pflegende müssen sich deshalb über den gesamten Pflegeprozess hinweg immer wieder neu Gedanken machen um die Menschen, die sie umsorgen.
Dabei sammeln sie Informationen, leiten daraus den Pflegebedarf ab, planen Pflegehandlungen, führen sie aus und prüfen den Erfolg ihrer Maßnahmen. Zweifellos vollzieht sich vom Singen allein keine Pflegehandlung. Singen kann allerdings als begleitende Intervention im Pflegeprozess angewendet werden.
Singen als Brücke zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigem
Singen kann den Zugang zu Menschen erleichtern, die Pflege zurückweisen. Auf diesem Weg entsteht eine Brücke zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigem. Trotzdem ist Singen eine bislang fast gänzlich übersehene Tätigkeit von Pflegenden. Eventuell, weil es ein Vorgang ist, der Mut benötigt.
Vielleicht sollten wir uns als Pflegekräfte folgendes bewusst machen: Singen ist im Praxisalltag einfacher zu verabreichen als Medikamente, welche zudem häufig Nebenwirkungen hervorrufen und für die es einer ärztlichen Anordnung bedarf. Gleiches gilt für freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie die Fixierung, für die eine richterliche Zustimmung notwendig ist. Also warum sich nicht überwinden und das Singen einfach bei der nächsten Körperpflege ausprobieren?
Götell, E.; Brown, S.; Ekman S.-L. (2003): Influence of Caregiver Singing and Background Music on Posture, Movement, and Sensory Awareness in Dementia Care. International Psychogeriatrics 15 (4), 411–430
Götell, E.; Brown, S.; Ekman, S.-L. (2009): The influence of caregiver singing and background music on vocally expressed emotions and moods in dementia care: A qualitative analysis. International Journal of Nursing Studies 46 (4), 422–430
Hammar, L. M. et al. (2011a): Communicating through caregiver singing during morning care situations in dementia care. Scandinavian Journal of Caring Sciences 25, 160–168
Hammar, L. M. et al. (2011b): The impact of caregivers‘ singing on expressions of emotion and resistance during morning care situations in persons with dementia: an intervention in dementia care. Journal of Clinical Nursing 20, 969–978
Heim, S. (2016): Unser Anliegen: Menschen singend verbinden.
www.singende-krankenhaeuser.de/index.php/unser-anliegen.html (letzter Abruf vom August 2016)
Kreutz, G. (2015): Gesundheitliche Aspekte des Laiensingens. In: Bernatzky & Kreutz (Hrsg.). Musik und Medizin. Wien: Springer-Verlag
Rittner, S. (2009): Stimmforschung. In: Decker-Voigt, Weymann (Hrsg.). Lexikon Musiktherapie. 2. Auflage. Göttingen: Hogrefe Verlag GmbH & Co.GK
Scott, A. et al. (2011): Perceptions and implications of violence from care home residents with dementia: a review and commentary. International Journal of Older People Nursing 6, 110–122
Zeller, A. et al. (2013): Erfahrungen und Umgang der Pflegenden mit aggressivem Verhalten von Bewohner(innen): eine deskriptive Querschnittstudie in Schweizer Pflegeheimen. Pflege 26 (5), 321–335
Das Autorinnenteam:
Nicole Schulze, Peggy Simmank, Prof. Dr. Juliane Eichhorn