Hohe Arbeitsbelastung, Krankheitsausfälle kompensieren, kaum freie Tage. Der Personalmangel verlangt Pflegenden vieles ab und bringt so manch einen an die Grenzen des Leistbaren. Wie man trotz allem seine Ressourcen schützt, verrät Psychologin Maja Storch im Interview.
Frau Storch, Pflegekräfte haben oft Schwierigkeiten, Nein zu sagen. Woher kommt das?
Das kommt davon, weil Pflegekräfte eine sehr große Empathiefähigkeit auszeichnet. Das ist ihre größte Stärke – zugleich aber auch ihre größte Schwäche.
Warum?
Pflegekräfte bekommen eins zu eins mit, was ihr Gegenüber braucht. Das ist grundsätzlich natürlich wunderbar – sie haben sehr viel Mitgefühl. Dieses Gefühl überlagert aber alle anderen Gefühle und Bedürfnisse, vor allem die eigenen. Nein zu sagen bedeutet aber oft, die eigenen Bedürfnisse zu pflegen und damit andere vielleicht einmal zu vertrösten. Das fällt vielen Pflegenden schwer.
Was ist denn die Folge von einer solchen Gefühlsüberlagerung?
Die Gefahr ist einfach, dass der körpereigene Akku irgendwann leer wird! Dieser ist vielleicht aufgrund der hohen Arbeitsbelastungen nur noch zu 20 Prozent geladen und der Körper sendet ein Warnsignal, damit er seinen Akku wieder aufladen kann. Pflegende überhören dieses Warnsignal aber oft und arbeiten eine lange Zeit im Warnmodus.
Und was passiert dann?
Im schlimmsten Fall kann das zu einem Burn-out führen. Dieser entwickelt sich aber über einen langen Zeitraum hinweg, wenn es einem sehr lange nicht gelingt, die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen.
In der Praxis ist es aber oft nicht leicht, die eigenen Bedürfnisse zu leben. Ein Beispiel: Die Pflegedienstleitung ruft mich an und bittet inständig, einen Dienst zu übernehmen. Ein Kollege ist krank geworden und die Besetzung auf Station ist extrem knapp. Wäre es dann nicht unkollegial, Nein zu sagen und auf meinen freien Tag zu bestehen?
Bei dieser Situation haben wir es mit einem klassischen Motivkonflikt zu tun: Auf der einen Seite steht die Kollegialität und das Mitgefühl mit den Arbeitskollegen, auf der anderen Seite die Selbstpflege mit dem Bedürfnis nach Erholung.
Wie soll man sich dann entscheiden?
Es gibt hier kein Patentrezept. Man muss die Situation jedes Mal neu bewerten und dann eine Entscheidung treffen. Befriedigend lösbar ist das natürlich gar nicht. Man hat die Wahl: Pest oder Cholera! Pflegende müssen einfach lernen, damit zu leben, dass es nicht die eine Lösung gibt. Ich empfehle drei unterschiedliche Lösungswege.
Wie sehen diese Varianten aus?
Für den Notfall gibt es eine Lösung, die ist eher unkollegial, aber zu empfehlen, bevor man selbst vor die Hunde geht. Ich habe selbst im Schichtdienst gearbeitet. Wenn ich da gemerkt habe, ich bin bereits am Ende meiner Kräfte und schlichtweg zu erschöpft um einzuspringen, dann habe ich einfach das Telefon nicht abgenommen. Dann ist man eben einmal nicht erreichbar! Dann ist man einfach nicht zu Hause.
Zu Zeiten von WhatsApp ist das aber gar nicht so einfach, „nicht zu Hause“ zu sein.
Ja, die sozialen Medien sind kritisch. Aber da hilft es, Medienkompetenz zu entwickeln! (lacht) Bei Whats-App ist das leicht: Man muss die Nachricht ja nicht öffnen und lesen, wenn man auf dem Display sieht, dass sie von der Pflegedienstleitung kommt. Diese Methode ist wie gesagt nur die Notfalllösung. Aber sie hilft einem, eine Entscheidung zum eigenen Wohle zu fällen, wenn man es anders nicht schafft.
Und was ist die zweite Lösung?
Die zweite Lösung ist es, den Hörer abzunehmen. Das kann man machen, wenn man zum Beispiel nicht das Gefühl hat, restlos erschöpft zu sein. Dann sollte man sich aber vorher schon eine gute Strategie überlegen, damit man am Telefon gut verhandeln kann. Es geht ja prinzipiell auch darum, welcher Dienst übernommen werden soll. Wann, wie lange. Möglich ist vielleicht auch eine Zwischenlösung, dass man zum Beispiel nur für ein paar Stunden kommt.
Und was ist die dritte Variante?
Diese ist für die Tage gedacht, an denen es mir gut geht und mein eigener Akku aufgeladen ist. Dann kann ich den Extradienst auch übernehmen.
Es gibt aber auch Situationen, in denen einem die Hände gebunden sind. Zum Beispiel, wenn ich merke, es geht einem Patienten schlecht und er hat Gesprächsbedarf. Es ist aber schlichtweg keine Zeit da, um ein langes Gespräch zu führen. Was dann?
Da heißt das Stichwort Metakommunikation. Das bedeutet: darüber reden! Wenn Frau Müller eine Darmkrebsdiagnose bekommen hat, ist sie natürlich unter Schock und hat Gesprächsbedarf. Wenn man aber in diesem Moment einfach keine Zeit hat, um mit ihr zu sprechen, kann man sagen: „Frau Müller, ich merke, Sie müssen darüber sprechen, aber ich habe gerade keine Zeit. Ich komme aber später auf jeden Fall noch einmal zu Ihnen.“ Eine zusätzliche Geste, wie zum Beispiel kurz Frau Müllers Hand zu halten, signalisiert auch schon Mitgefühl. Damit hat man den Konflikt zwischen Empathie und der vorherrschenden Zeitnot gelöst.
Zeitmangel spielt also für Motivkonflikte eine große Rolle?
Ja natürlich. Der Grund für viele Konflikte in der Pflege ist der Personalmangel. Wenn doppelt so viel Personal vorhanden wäre, gäbe es das Problem nicht mehr. Derzeit arbeiten Pflegende an der Grenze zu dem, was man leisten kann. Damit haben sie einen fortwährenden Motivkonflikt, der nicht gesund ist.
Sollten Pflegekräfte generell mehr Egoismus entwickeln? Ist das in diesem Beruf überhaupt möglich?
Egoismus halte ich für ein schlechtes Wort, weil es negative Assoziationen hervorruft. Keiner will egoistisch sein. Pflegekräfte schon gar nicht. Und wenn man etwas nicht sein will, dann hilft es auch nicht, es sich vorzunehmen. Man wird es nicht dauerhaft umsetzen. Es braucht etwas, mit dem Bauch und Verstand gleichermaßen einverstanden sind. Das ist bei Egoismus aber in der Regel nicht der Fall.
Welches Wort wäre denn besser geeignet?
Ich finde das Wort Selbstpflege viel besser. Sich selbst pflegen wollen, klingt wesentlich besser, als egoistisch zu sein. Für Pflegende bietet sich auch das Wort Barmherzigkeit an. Diese Barmherzigkeit sollte man nicht nur anderen gegenüber zeigen, sondern auch gegenüber sich selbst. Erbarmen haben mit dem eigenen Herzen. Diese Varianten passen besser in das Wertesystem von Pflegenden und werden deshalb auch leichter umgesetzt. Und ja, Pflegekräfte sollten sich verstärkt um sich selbst kümmern!
Kann man diese Selbstpflege lernen?
Ja! Dazu muss sich zuerst die innere Einstellung ändern. Die neue Haltung muss positive Gefühle hervorrufen, zum Beispiel: „Ich lade jetzt meinen Akku auf“ oder „Ich pflege mich selbst“. Das fühlt sich gut an. So kann man sich eine neue innere Haltung basteln. Eine Hilfe kann hier zum Beispiel das Zürcher Ressourcenmodell sein. Das kann jeder unter www.zrm.ch ganz einfach als Online-Tool selbst ausprobieren.
Was ist denn dieses Ressourcenmodell?
Es ist ein Selbstmanagement-Training, das wir an der Universität Zürich entwickelt haben. Es hilft einem dabei, eine neue innere Haltung zu entwickeln.
In Ihrem Buch „Machen Sie doch, was Sie wollen!“ stellen Sie einen bunten Strudelwurm vor, um damit das Bauchgefühl zu erklären. Warum dieser Wurm?
Der Wurm ist die innere Instanz, die einem sagt: „Nein, egoistisch will ich nicht sein!“ und deshalb bei jedem Anruf der Pflegedienstleitung einspringt. Er gibt ein Bewertungssignal ab, das mit unserem Verstand nicht immer im Einklang ist. Der Verstand sagt: „Ich muss lernen, Nein zu sagen.“ Das ist dem Wurm aber egal. Solange er ein negatives Gefühl dabei hat, will er nicht lernen, Nein zu sagen, weil er dann als egoistisch gilt.
Kann man den Wurm nicht einfach ignorieren?
Wenn man seinen Wurm dauerhaft ignoriert, kann das zu besagtem Burn-out führen. Das ist also eine schlechte Idee. In meinem Buch nenne ich das „Wurmwürgung“. Eine Dauerwürgung macht krank. Pflegende würgen ihren Wurm dauernd, weil sie sich um andere mehr kümmern, als um sich selbst und das Gefühl haben, sich zu versündigen, wenn sie nicht barmherzig mit anderen sind. Dabei lassen sie die Barmherzigkeit mit sich selbst außen vor.
Und eine bessere Lösung?
Die Barmherzigkeit muss auf sie selbst wirken! Die größte Stärke von Pflegenden ist ihre Empathie. Aber diese ist auch ihre Achillesferse. Das kann langfristig nur gut gehen, wenn sie die Dauerwürgung des Wurms beenden. Man schafft das, indem man ein wurmgerechtes Leben führt.
Und das heißt?
Das bedeutet, dass man dem Wurm entgegenkommt. Wenn man einen Dienst nicht übernimmt, kann man sagen: „Ich lade meinen Akku auf“ oder „Ich schütze meine Ruhe-Insel“. Das klingt für einen Wurm wesentlich besser, als wenn man egoistisches Handeln an den Tag legt. Wichtig ist es, eine Balance zwischen Wurm und Verstand herzustellen.
Das klingt in der Theorie ziemlich leicht. Wie sieht es denn mit der praktischen Umsetzung aus?
Ich habe nie behauptet, dass das Ganze einfach ist. Das Prinzip an sich ist einfach. Die Umsetzung kann aber eine Lebensaufgabe sein. Sie lohnt sich aber auf jeden Fall. Ich kann mir dabei auch Unterstützung durch einen Coach oder einen Berater holen. Zum Beispiel, wenn ich merke, dass ich nachts häufig wach liege und aus dem Grübeln nicht herauskomme. Oder wenn ich immer dünnhäutiger werde und meine Fürsorge für die Patienten in chronischen Ärger umschlägt. So etwas sind Alarmzeichen, die jeder ernst nehmen sollte.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Storch.