Überflüssige Operationen, aggressive Chemotherapien, schmerzhafte Prozeduren – alte und schwer kranke Menschen werden heute mit allen Mitteln der Apparatemedizin behandelt. Auch dann, wenn kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist. Der Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns prangert dieses „Geschäft mit dem Lebensende“ an und appelliert an Pflegende, sich für das Patientenwohl stark zu machen.
Herr Dr. Thöns, werden lebensbedrohlich erkrankte Menschen heute übertherapiert?
Ich bin überzeugt, dass ein großer Teil alter und schwer erkrankter Menschen übertherapiert wird. Und das sind nicht nur meine Beobachtungen und die meines Teams. Namhafte Organisationen bestätigen eine „Leistungsausweitung aufgrund wirtschaftlicher Fehlanreize“. Dazu gehören die Bundesärztekammer, die Bertelsmann Stiftung, der Deutsche Ethikrat, die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin und sogar der Sachverständigenrat des Bundestages. Professor Gian Domenico Borasio, Europas bekanntester Palliativarzt, geht davon aus, dass jeder zweite Patient betroffen ist. Eine Untersuchung aus 2016 zeigt sogar, dass drei von vier jungen Krebsbetroffenen noch in ihrem letzten Lebensmonat eine zu aggressive Therapie erhalten.
Was sind die Folgen dieser Übertherapie?
Teilweise wird ein leidvoller Sterbevorgang durch intensivmedizinische Maßnahmen in die Länge gezogen, teilweise ist es aber sogar strittig, ob die hochpreisige Medizin am Lebensende überhaupt zu einer Lebensverlängerung führt. Das ist besonders in der Krebsmedizin umstritten. Dort sind sich internationale Wissenschaftler längst einig, dass ein Zuviel an Medizin am Lebensende das Leben eher verkürzt, bei gleichzeitig vermehrtem Leid durch Therapie-Nebenwirkungen. Man darf heute eindeutig behaupten: Übertherapie quält nicht nur, sie tötet auch eher.
Aber ist es aus Sicht der Betroffenen nicht sinnvoll, alles, was noch Aussicht auf Linderung oder Lebensverlängerung versprechen könnte, zu versuchen?
Wenn etwas das Leben verlängert oder Leiden vermindert, ist es – so der Patient dies auch wünscht – grundsätzlich nicht nur „zu versuchen“, sondern es wäre zutiefst unethisch und rechtlich unzulässig, diese Behandlung vorzuenthalten. Anders ist die Situation aber, wenn ein Patient Lebensverlängerung zulasten von Operationen, Chemotherapie oder Intensivmedizin nicht wünscht. Hier kann es durchaus viele nachvollziehbare Gründe geben. Es muss allen klar sein, dass oberste Richtschnur der Patientenwille ist. Das hat schon ein deutsches Reichsgericht 1894 in einem immer noch gültigen Urteil festgestellt. In einer Untersuchung bestätigten das 70 Prozent des befragten Pflegepersonals, aber nur 36 Prozent der Chefärzte und gar nur 23 Prozent der Verwaltungsdirektoren.
Kann ein Patient denn selbst richtig einschätzen, welche Maßnahmen für ihn Sinn machen und welche nicht?
Nein, dazu bedarf es einer guten ärztlichen Aufklärung. Eine Behandlung, die lediglich auf eine „mögliche Lebensverlängerung“ abzielt, muss offen mit dem Patienten besprochen werden. Wer würde etwa einer Behandlung mit dem Bauchspeicheldrüsen-Krebsmedikament Erlotinib zustimmen, wenn er wüsste, dass dies die Überlebenszeit statistisch von 5,94 auf 6,34 Monate erhöht? Gerade wenn er weiß, dass er dafür sechs Monate lang nebenwirkungsreiche Chemo-Tabletten schlucken muss. Hier habe ich meine Zweifel, dass immer ehrlich aufgeklärt wird – das genannte Medikament ist ein Kassenschlager.
Was sind Gründe für ein solches Zuviel an Behandlungen?
Hier stimme ich erneut Professor Borasio zu, der dafür drei Gründe nennt: 1. Geld, 2. Geld und 3. Geld. Ich werde viel dafür gescholten, dass ich alles auf den Geldanreiz runterbreche, und sicherlich gibt es hier und da auch andere Gründe, wie die Unsicherheit des Arztes oder eingefahrene Routine. Aber man muss doch bemerken, dass es ein „Übertherapieproblem nur bei hochpreisigen Leistungen“ gibt. Ich habe noch nicht einen Bericht gelesen, wo sich jemand über zu viel Physiotherapie, zu viel Ergotherapie, eine „ausufernde Hausarztmedizin“, zu viele Hausbesuche oder explodierende Psychotherapeuten-Gespräche beschwert. Auch das sind alles lebensverlängernde und lindernde Maßnahmen, aber sie sind schlecht vergütet und hier gibt es kein Zuviel.
Sind es nicht oft auch die Angehörigen, die nichts unversucht lassen wollen?
Natürlich möchten viele ihren geliebten Menschen nicht abgeben und nichts unversucht lassen. Aber auch hier hilft einzig und allein die ehrliche Aufklärung und nicht einfach das Diktat des Machbaren. Und letztlich sind wir doch alle gehalten, nicht die Angehörigenwünsche zu bedienen, sondern die Angehörigen als Zeugen des Patientenwillens zu befragen und demgemäß zu handeln.
In Ihrem Spiegel-Bestseller „Patienten ohne Verfügung“ kritisieren Sie das Geschäft mit dem Lebensende mit sehr klaren Worten. Wie haben Ihre ärztlichen Kollegen darauf reagiert?
Einige hochrangige Kollegen haben mich verbal auseinandergenommen, mich angeschrien und mir „Verleumdung“, „Pauschalisierung“ und „Nestbeschmutzung“ vorgeworfen. Auch wurde geäußert, man wolle mich rechtlich und berufsrechtlich angehen. Von diesen „Kollegen“ höre ich nichts mehr. Ich habe noch keinen einzigen Anwaltsbrief oder Ärztekammerbrief erhalten, und man darf wohl sagen: Alles wird heißer gekocht als gegessen. Die übergroße Mehrheit der Kollegen und das komplette Pflegepersonal stehen allerdings hinter mir, wie mir aus Facebook-Postings und Mail-Zuschriften täglich zurückgespiegelt wird. Ich bin stolz darauf, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen nun vermehrt einige Schwarze Schafe prüft, ein auf die Problematik verweisendes Facebook-Posting binnen Tagen mehr als 50 000 „Likes“ bekam, die Presse das Thema bei intensiver Recherche bestätigte und in Kürze weitere Bücher von anderen Autoren kommen werden.
Wie viel Therapie braucht ein sterbender Mensch am Lebensende?
Oft ist weniger mehr, aber diese Frage kann man natürlich nicht pauschal beantworten. Wenn Heilung nicht mehr möglich ist, muss offen über die Erfolgsaussichten der Behandlung wie auch deren Belastungen gesprochen werden. Frühzeitig sollte nun ein Palliativkontakt hergestellt werden und eine Mitbegleitung erfolgen. Das vermindert aggressive Therapie, verbessert die Lebensqualität, mindert Depression und verlängert das Leben. Das ist in vielen Studien heute belegt. Traurige Realität ist aber, dass oftmals Chemotherapie bis zur Ablehnung des Patienten läuft, die Patienten ins „Nichts“ entlassen werden und Palliative Care Teams wie unseres dann für die im Schnitt 18 letzten Lebenstage zuständig sind. Das ist schlechte, geradezu perverse Medizin oder um es deutlich zu sagen: Das ist wirtschaftliches Ausschlachten Sterbenskranker. Keine Gesellschaft kann sich so einen Umgang mit den Schwächsten leisten.
Ein wichtiger Ansatz der Palliativmedizin ist die ausreichende Behandlung der Schmerzen. Wie viel Schmerzmedikation ist erforderlich?
Wir behandeln unsere Patienten, bis für sie Schmerz nicht mehr im Vordergrund steht. Oft führt das sogar zur Schmerzfreiheit. Dabei braucht der eine Patient 30 mg Morphium am Tag, ein anderer 900 – das ist sehr unterschiedlich. Viele Dinge, auch Angst, Einsamkeit und Depression, spielen dabei eine große Rolle.
Wie erkenne ich als Pflegeperson, ob der Patient ausreichend mit Schmerzmitteln abgedeckt oder vielleicht auch überversorgt ist?
Wenn der Patient zufrieden ist und Schmerz „keine Rolle mehr spielt“, ist es gut. Geben wir zu viel, klagen die Patienten über Müdigkeit und weitere Nebenwirkungen der Therapie.
Was sind typische Begleiterscheinungen der Schmerztherapie und wie können diese behandelt werden?
Bei gut eingestellter Schmerztherapie ist das einzige Dauerproblem die Verstopfung. Die geht nicht weg, man muss sie stets bedenken und zumeist behandeln. Das geht mit einem einfachen Stufenkonzept: Movicol – Na-Piccosulaft – Abführzäpfchen – Klistier.
Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, was sterbende Menschen am Lebensende brauchen?
Symptomarmut ist sicherlich ganz weit oben, das betrifft am Lebensende oft Schmerz und Atemnot. Wenn wir das erreichen, folgen „Zuhause sein und die Lieben um sich haben“, „Probleme geklärt zu haben“ und „Frieden mit Gott und der Welt gefunden zu haben“. Das gelingt uns ziemlich oft. Gerade heute hatte ich bereits vier Hausbesuche – und zweimal habe ich mir im Anschluss gesagt: Du hast den schönsten Beruf der Welt, dass dich Menschen in dieser Phase so nah dranlassen und ihre glücklichen Momente mit dir teilen.
Was kann ich als Pflegeperson machen, wenn ich das Gefühl habe, dass bei einem Patienten überflüssige Behandlungen laufen?
Ich wünsche mir mehr mutiges Pflegepersonal. Niemand ist so nah dran an den Patienten, niemand weiß so gut, was sie wollen und brauchen. Pflegende sind traditionell Anwälte des Patientenwohls. Ich würde mir so sehr eine Rückbesinnung auf diese Werte wünschen: weg von Qualitätsmanagement und Dokumentation, hin zum Patientenwohl und Patientenanwalt. Wir haben die beste Verfassung der Welt, niemand darf gegen sein Gewissen gezwungen werden, Maßnahmen durchzuführen, kein Assistenzarzt, keine Krankenschwester und kein Pfleger.
Was kann jeder Einzelne tun, um sich vor einer Übertherapie am Lebensende zu schützen?
Patienten sollten sich um Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung kümmern und mit ihrer Familie die eigenen Wünsche besprechen. Denn oft hat man Angst vor dem Tod und spricht deshalb nicht mit seiner Familie darüber. So kommt es zu der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dann glauben viele Ärzte, da wir es ja nicht besser wissen, müssten sie alles tun. Und so verliert man manchen Kampf um die Niere mit Dialyse, um die Atmung mit Beatmung und zuletzt setzt das Herz aus und man bekommt schmerzhafte Stromstöße, und Pfleger brechen einem die Rippen. Im natürlichen Sterben ist das Nierenversagen und der Sauerstoffmangel dagegen mit Glücksgefühlen verbunden. Dafür gibt es ein eigenes Hormonsystem.
Sollte man im Zweifel einen weiteren Arzt hinzuziehen?
Vor großen Eingriffen sollte man sich auf jeden Fall eine Zweitmeinung einholen. Dies vermeidet viel unsinnige Medizin, auch das ist hinlänglich bekannt. So haben wir Ärzte, wenn wir erkranken, sozusagen eine „eingebaute Zweitmeinung“. Deshalb sterben wir seltener in der Klinik, werden weniger oft am Lebensende operiert und meiden in den letzten sechs Lebensmonaten die Intensivstation.
Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Dr. Thöns.