• 27.09.2017
  • Story
Palliative Care

Letzte Hilfe

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 3/2017

Auf einer Palliativstation werden Menschen mit krankheitsbedingt verkürzter Lebenszeit betreut. Speziell ausgebildete Pflegekräfte sind Teil eines großen Teams, das belastende Beschwerden lindert und Patienten dabei unterstützt, mit ihrer persönlichen Krankheits- und Lebenssituation umzugehen. Ein Besuch im Krankenhaus St. Vincentius Heidelberg.

D ie Aufzugtüren gleiten leise zur Seite. Die Rettungssanitäter manövrieren eine bis zum Kinn zugedeckte Patientin auf einer Fahrtrage behutsam aus dem Fahrstuhl. „Wohin sollen wir Frau Heinel* bringen?“, fragt einer die wartende Pflegefachkraft. Frau Heinel wirkt ausgezehrt. Das Unterhautfettgewebe ihres Gesichts scheint weggeschmolzen, die Haut faltig, gelber Teint. „In die 131“, sagt Elisabeth Lorenz, die Frau Heinel die Hand reicht und sich als betreuende Pflegekraft vorstellt. Frau Heinel erwidert das freundliche Willkommen, ihr Gesicht bleibt jedoch ausdruckslos. Im Laufen öffnet Elisabeth Lorenz den braunen Briefumschlag und wirft rasch einen Blick auf den ärztlichen Entlassbrief:

Heinel, Dagmar
geb. am 23.07.1963
Seröses Ovarialkarzinom FIGO IIIC
Initiales Tumorstadium: pT3 pN1 (9/104)
Aktuelle Metastasierung: PER, PLEU, LYM

Frau Heinel ist eine von zwölf Patienten der Palliativstation am Krankenhaus St. Vincentius mitten in der Heidelberger Altstadt. Vier Einzelzimmer bieten einen Ausblick auf den Neckar, die anderen auf ein belebtes Gässchen der Altstadt. Das über hundert Jahre alte Gebäude ist generalsaniert; das behutsam modernisierte Haus strahlt Ruhe aus. Im weihnachtlich geschmückten Wintergarten sitzen zwei Kinder im Vorschulalter auf dem lackierten Parkettboden und malen Tannenbäume für den „kranken Opa“.

Viele kommen zu spät

„Palliativstationen nehmen Patienten auf, deren medizinischer Zustand (körperlich, psychologisch, sozial und spirituell) eine stationäre spezialisierte multiprofessionelle Palliativversorgung erfordert“, so beschreibt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) die Aufgaben dieser speziellen Abteilung. Ziel ist es, komplexe krankheits- und therapiebedingte Symptome zu kontrollieren, nicht eine Krankheit an sich zu kurieren. Das Palliativteam soll den Zustand der Patienten stabilisieren und auch Angehörige „psychologisch, sozial und spirituell so unterstützen, dass die Entlassung nach Hause oder die Verlegung in eine andere Versorgungsstruktur möglich wird“, so die DGP weiter.

Obwohl das Thema Palliativ- und Hospizversorgung mittlerweile große mediale Aufmerksamkeit genießt, glauben immer noch viele Patienten, dass sie auf eine Palliativstation zum Sterben ‚abgeschoben’ werden. „Statistisch betrachtet, stirbt tatsächlich jeder zweite Patient auf unserer Station“, weiß Stationsarzt Marcus Geist, ausgebildeter Anästhesist mit Zusatzbezeichnung Palliativmediziner. „Das liegt aber daran, dass wir zu spät eingeschaltet werden beziehungsweise Patienten oft erst in einem sehr fortgeschrittenen Krankheitsstadium bei uns eintreffen.“ Palliativmediziner haben bundesweit die Hoffnung, dass sich an diesem Zustand bald etwas ändern wird. Immer mehr Studien zeigen, dass Patienten von einer frühzeitigen Betreuung durch ein Palliativteam an Lebensqualität gewinnen.

Gerade onkologische Patienten haben häufig bis zuletzt die Hoffnung, doch noch von einer Therapie profitieren zu können, auch wenn schon alle Optionen ausgereizt sind. „Über 90 Prozent unserer Patienten kommen mit einer Krebserkrankung“, erklärt Marcus Geist. „Heidelberg ist mittlerweile ein Zentrum für onkologische Spitzenmedizin, insofern hat sich parallel zu dieser Entwicklung auch der Bedarf an palliativen Versorgungsstrukturen erhöht.“ Doch auch Patienten im finalen Stadium einer Herzinsuffizienz oder mit infausten neurologischen Erkrankungen werden aufgenommen. „Aktuell behandeln wir einen jungen Mann mit Amyotropher Lateralsklerose“, so Geist weiter.

Kleine Schritte gehen

„Unsere Patienten sind oft so geschwächt, dass sie die einfachsten Dinge des Alltags nicht mehr bewältigten können“, sagt Elisabeth Lorenz. Schmerzen rangieren ganz oben auf der Liste der einschränkenden Symptome. Auch leiden viele Patienten unter Dyspnoe. Ein Behandlungsziel kann dann lauten, dass ein Patient es wieder schafft, den kurzen Weg ins Bad ohne Atemnot zurückzulegen.

Frau Heinels AZ ist sehr reduziert, Ruhedyspnoe bei punktionswürdigem Pleuraerguss links, Anasarka/Aszites (Gewichtszunahme 12 kg binnen 14 Tagen), generalisiertes Ödem. Letzte Aszitesdrainage erfolgte am 14.12.2016 (8 Liter, fleischwasserfarben). Progrediente Leberwerte mit nachweisbarer Pfortaderstenose und Cholestase (CT-Thorax/-Abdomen v. 12.12.2016).

Die Patientin wird kurzatmig. Schon der kurze Transfer von der Tragebahre zum Bett erschöpft sie. Die Augen aufgerissen, atmet sie nun unter Zuhilfenahme aller Hilfsmuskulatur. Große Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn, die Lippen zyanotisch, die periphere Sauerstoffsättigung bei 83 Prozent. Pleuraergüsse, Aszites und eine Stauung im Lungenparenchym verringern die Gasaustauschfläche beträchtlich. Elisabeth Lorenz dreht den Sauerstoff auf und zieht Frau Heinel behutsam das Halteband der Sauerstoffmaske über den Hinterkopf. Da die Patientin ihre Beine aufgrund der massiven Ödeme nicht mehr anheben kann, stemmt die Pflegende ein Bein nach dem anderen ins Bett.

Mittlerweile ist auch Stationsarzt Marcus Geist im Zimmer. Geist ist ein großer Mann, er redet einfühlsam auf die Patientin ein, hilft der Gesundheits- und Krankenpflegerin bei der Oberkörperhochlagerung und injiziert Frau Heinel Morphin und Furosemid über den Port. „Niedrig dosiertes Morphin wirkt positiv auf das Atemzentrum. Es erhöht die CO2-Toleranz und macht die Atmung ökonomischer; das heißt, die Patienten atmen tiefer und nicht so schnell “, erklärt der Stationsarzt leise. So empfiehlt es auch die S3-Leitlinie ‚Palliativmedizin für Patienten mit nicht heilbaren Krebserkrankungen’ aus dem Jahr 2015.

Die Gesundheits- und Krankenpflegerin bleibt bei der schwerkranken Frau. Mit ihrer Erlaubnis umfasst sie deren Bauch mit beiden Händen und fordert die Patientin auf, tief und ruhig in den Bauch zu atmen. Nach zwei Minuten ist die Krise vorüber, Frau Heinel nickt leicht mit dem Kopf. „Alles wieder okay“, gibt sie damit zu verstehen und schläft ein. Später wird Elisabeth Lorenz der Patientin noch einen Blasenkatheter legen, damit sie sich nicht bei jedem Toilettengang erschöpft.

Fachlich und kommunikativ anspruchsvoll

Sabine Meisel sitzt am Schreibtisch und sortiert Kopien. Der Laserdrucker spuckt weitere Blätter aus. Meisel ist die pflegerische Leitung der Station. „Ich bereite unsere wöchentliche multiprofessionelle Fallbesprechung vor“, sagt sie gut gelaunt mit kurpfälzischem Akzent. „Einmal pro Woche sprechen wir ausführlich über jeden Patienten, evaluieren den Gesundheitszustand, passen Behandlungsziele und Maßnahmen an.“ In der multiprofessionellen Fallbesprechung kommen alle Mitarbeiter zusammen: Mediziner, Pflegende, Physiotherapeuten, die Seelsorgerin, die Sozialarbeiterin und sogar eine Musiktherapeutin. „Das ist das Schöne an Palliative Care, die Berufsgruppen tauschen sich aus, bringen ihre Perspektive ein“, erklärt Frau Meisel.

So will es auch der Gesetzgeber. Die multiprofessionelle Fallbesprechung ist nur ein Kriterium von vielen, das erfüllt sein muss, um Zusatzentgelte für eine spezialisierte Palliativversorgung bei den Krankenkassen abrechnen zu können. Ein weiteres Kriterium bezieht sich auf die Qualifikation des Personals. Nicht nur Ärzte benötigen eine Zusatzausbildung. „Mehr als die Hälfte des Stammpersonals hat mittlerweile die Zusatzqualifikation Palliative Care. Jedes Jahr darf und soll ein weiterer Kollege den Kurs besuchen.“ Sabine Meisel verfügt darüber hinaus über die Zusatzqualifikation zur Pain Nurse: „Auch hier fördert unsere Klinikleitung, dass sich mehr Mitarbeiter weiterqualifizieren. Das macht auch Sinn, weil wir hier täglich mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Analgetika hantieren.“

Sabine Meisels Telefon klingelt. Die Pflegedirektorin ist in der Leitung: Eine potentielle neue Mitarbeiterin wolle einen Tag hospitieren. „Manche Kolleginnen und Kollegen haben falsche Vorstellungen“, sagt Sabine. „Wer hier arbeiten will, muss ein breites medizinisches und pflegerisches Wissen mitbringen.“ In der Tat ist Palliativpflege eine körperlich, aber auch kommunikativ sehr anspruchsvolle Arbeit. Nicht nur Mediziner, auch Pflegekräfte werden täglich mit Fragen konfrontiert. „Pflegerische Patientenedukation, das ist so ein Begriff, der bei mir in der Vergangenheit bestenfalls Stirnrunzeln provoziert hat“, sagt die Stationsleiterin. „Wieder so ein Theorie-Schlagwort, das mit der Realität nichts zu tun hat, dachte ich. Aber seitdem ich auf der Palliativstation arbeite, sehe ich das anders. Ich muss jeden Tag erklären.“ Als Beispiel fällt Sabine Meisel das Thema Essen und Trinken bei sterbenden Menschen ein. „Für Angehörige ist es schier unerträglich, wenn ein Sterbender nichts mehr essen und trinken will. Bei Sätzen wie ‚Sie können meine Mutter doch nicht verdursten lassen’ oder ‚Wenn die Mama wieder isst, wird es wieder’ da muss ich viel Erklär- und Überzeugungsarbeit leisten. In Summe kommen so pro Patient viele Stunden Gesprächszeit zusammen, weil man sich oft im Kreis dreht.“

Andere Themen, die ebenfalls viel Beratungsbedarf mit sich bringen, sind Veränderungen der Atmung oder Immobilität. „Angehörige überschätzen häufig die Kraft von Patienten. Die Körperpflege am Waschbecken kann eine ganze Tagesration an Kraft aufzehren. Ich muss jeden Tag mit dem Patienten überlegen, für was er seine Energie heute verwenden möchte“, sagt die Stationsleiterin. Für Pflegende bedeutet dies, dass sie viel Geduld aufbringen und sich jeden Tag auf eine Begegnung und Beziehung mit Patienten und Zugehörigen einlassen müssen.

Der Patient gibt den Takt vor

Im Flur sieht man eine Anwesenheitslampe brennen, die tägliche Visite ist unterwegs. Einige Zimmertüren stehen offen. In einem der hellen Einzelzimmer steht Physiotherapeut Giovanni Gavini am Fußende des Bettes. Einem Patienten mit ödematösen Beinen streicht er sanft und doch kraftvoll die Unterschenkel aus. Der Patient wirkt entspannt, die Arme hat er hinter den Kopf verschränkt; er freut sich, dass seine Füße wieder in die schwarzen Hausschuhe passen. Der Physiotherapeut hat viel zu tun: Er trainiert geschwächte Lungen, stärkt atrophierte Muskeln, löst hartnäckige Verspannungen mit Wärmeanwendungen und aktiviert Patienten, die unter chronischer Müdigkeit, dem sogenannten Fatigue-Syndrom, leiden. „Ich biete an, aber der Patient gibt den Takt vor. Viele wollen gerade zu Beginn erst einmal nur Ruhe und Schlaf, das respektieren hier alle“, sagt der Therapeut.

Bei ausgeprägten Ödembildungen intensivierten wir die diuretische Medikation. Frau Heinel nahm tägliche Anwendungen mit Manueller Lymphdrainage in Anspruch, unter denen sich die Einlagerungen – vor allem in den unteren Extremitäten – regredient zeigten. Auch der anfangs punktionswürdige, linksseitige Pleuraerguss zeigte sich in der Röntgen-Kontrolle rückläufig (Patientin wünschte vorerst keine Pleurapunktion).

Frau Heinel sitzt im Jogginganzug am Tisch. Der Blasenkatheter ist raus, aufmerksam tippt sie auf ihrem Notebook. „Ein, zwei Geschenke bestelle ich noch schnell im Internet, bevor meine Tochter kommt“, sagt sie verschwörerisch. Fast eine Woche ist seit ihrer Aufnahme vergangen. „Ich hätte nie gedacht, dass es mir noch einmal so gut geht“, sagt sie. „Das Wasser ist raus, das Atmen geht besser.“ Auch die Unterleibschmerzen hat sie mittlerweile im Griff. „Nur der Appetit muss noch besser werden“, ergänzt sie. Am Tag zuvor stimmte sie einer Aszitesdrainage zu, bei der sechs Liter Sekret entleert werden konnten. „Ich werde hier ernst genommen. Wenn ich Ruhe brauche, wird das respektiert, wenn ich Atemnot habe, bin ich nie allein und bekomme sofort Hilfe, auch bei Schmerzattacken. Ich fühle mich sicher.“

Trotzdem möchte Frau Heinel Weihnachten zu Hause verbringen. Damit das klappt, hat sich die Sozialarbeiterin Ulrike Bock mächtig ins Zeug gelegt. Als Fallmanagerin klärt sie frühzeitig, aber ohne die Familien unter Druck zu setzen, welche Ressourcen für eine weitere Versorgung im sozialen Umfeld eines Patienten vorhanden sind. „Viele Patienten müssen sich erst einmal darüber klarwerden, wie es überhaupt weitergeht. Da ist plötzlich eine ganze Familie in der Krise“, schildert sie. Je nach Situation beantragt ein Fallmanager eine Pflegestufe, organisiert ambulante Pflege, besorgt Hilfsmittel und klärt Fragen rund um Rente und Arbeitslosengeld.

Ambulante Versorgung sichern

Anders als in anderen Regionen ist die Versorgungsstruktur für Schwerstkranke und Sterbende im Rhein-Neckar-Raum gut ausgebaut. „Wir haben mehrere Hospize im Radius von 50 Kilometern, mit denen wir eng zusammenarbeiten“, erläutert Bock. „Für Frau Heinel haben wir im Team besprochen, dass – zusätzlich zum Hausarzt und zum ‚normalen’ Pflegedienst – eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung Sinn macht.“ SAPV-Dienste sind feste Partner der Palliativstationen. Sie erleichtern häufig eine Verlegung nach Hause, weil sie das schwierige Symptommanagement ambulant fortführen und Schwerstkranken ein Leben mit krankheitsbedingten Einschränkungen bis zum Tod in den eigenen vier Wänden ermöglichen. „Ohne SAPV-Dienste kommen Patienten immer wieder in Krisensituationen, rufen dann den Notarzt, liegen stundenlang in zugigen Notaufnahmen und so weiter“, weiß Ulrike Bock. „Da sind Stress und Überforderung auf beiden Seiten vorprogrammiert. Die 24-Stunden-Rufbereitschaft und die regelmäßigen Besuche des ambulanten Palliativteams nehmen die Angst und geben Sicherheit“, ergänzt die Sozialarbeiterin. „Trotzdem kann Frau Heinel auch jederzeit wieder zu uns kommen, wenn es zu Hause nicht mehr geht.“

Wir entlassen die Patientin in deutlich gebessertem Allgemeinzustand nach Hause. Neben der Verordnung von Hilfsmitteln organisierten wir die Anbindung an die Ökumenische Sozialstation und an das SAPV-Team. Bei Verschlechterung des Gesundheitszustandes sind wir jederzeit zu einer Wiederaufnahme bereit. Wir wünschen Frau Heinel jedoch eine möglichst lange krankenhausfreie Zeit im häuslichen Umfeld.

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