Wer seine Gefühle und Bedürfnisse respektvoll in die Beziehung zum Patienten integrieren kann, verringert emotionale Belastungen. Wie das geht, lernen Pflegende in einem Verbundprojekt. Unter Leitung der Universität Duisburg-Essen beteiligen sich die Unikliniken Köln und Bonn und der Pflegedienst DIE MOBILE Köln.
"Jetzt kann ich endlich mit dieser Geschichte abschließen“, sagt Sabine B. erleichtert. Sie hat eine Lösung für eine Situation entwickelt, die sie vor ein paar Wochen erlebt hat und die sie seitdem belastet. Es ging um einen Patienten mit starken chronischen Schmerzen, der von ihr die Gabe eines Morphin-Präparates forderte. Dafür lag aber keine Verordnung vor, und der Patient wollte nicht auf die diensthabende Ärztin warten. Eigentlich hatte sie es gut gemeint und versucht, den Patienten zu beruhigen. Aber als sie sagte, sie könne verstehen, wie stark seine Schmerzen seien, war der Patient nur noch lauter geworden. Die Auseinandersetzung war so eskaliert, dass der Patient am nächsten Tag die Klinik verärgert verlassen hatte.
Emotionale Belastungen reduzieren
Es sind Situationen wie diese, die insgesamt fast 300 Teilnehmende aus den genannten Einrichtungen derzeit im Rahmen eines Projekts bearbeiten und reflektieren. „Pflege für Pflegende – Entwicklung und Verankerung eines empathiebasierten Entlastungskonzepts in der Care-Arbeit (empCARE)“ heißt das Projekt, das für drei Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.
„Im Vordergrund steht die Entlastung der Pflegenden“, betonen Marcus Roth, Professor für Differentielle Psychologie, und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Tobias Altmann von der Universität Duisburg-Essen, die Urheber des Projekts. „Pflegende verfügen grundsätzlich über hohe Empathiefähigkeit. Wird Empathie allerdings dysfunktional eingesetzt, führt sie zu zusätzlichen emotionalen Belastungen.“ Die Projektbeteiligten erwarten von der Maßnahme eine subjektiv spürbare und objektiv messbare Reduktion von Belastungen und Belastungssymptomen bei Pflegenden. Das Projekt leistet damit einen Beitrag dazu, die berufliche Motivation von Pflegenden zu erhalten und eine Abwanderung aus dem Beruf zu verhindern.
In Trainings, die aus zwei Seminartagen und insgesamt vier Stunden Gruppencoaching bestehen, lernen die Teilnehmenden die psychischen Mechanismen empathischen Arbeitens kennen. Sie reflektieren eigene Erfahrungen und entwickeln alternative Verhaltensweisen für emotional belastende Situationen. Die beiden theoretischen Säulen sind das Modell des empathischen Prozesses nach Altmann/Roth und eine Modifikation der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg.
Altmann und Roth beschreiben den empathischen Prozess in vier Schritten (s. Abb. 1). Im ersten nimmt die Pflegeperson einen Patienten, sein Verhalten, seine verbalen und nonverbalen Äußerungen wahr. Im zweiten entwickelt sie spontan und unbewusst ein mentales Modell der Situation, quasi als „inneres Abbild der anderen Person“ (Altmann, Roth 2014, S. 12). Dabei spielen eigene Vorerfahrungen sowie eigene Werte und Normen eine wichtige Rolle. Als Folge des mentalen Modells entwickelt die Pflegeperson eine empathische Emotion, die spontane Einfühlung in die andere Person. Die empathische Emotion steuert schließlich die Antwort auf das Gegenüber.
Der „empathische Kurzschluss“
Mit ihren Antworten versuchen Pflegende häufig, negative Gefühle möglichst schnell abzumildern, auch eigene Gefühle „des Ekels oder des Entsetzens, zum Beispiel angesichts schwerer Verletzungen“ (Nerdinger 2003, S. 185). So werden sie den Rollenerwartungen Freundlichkeit, Zuwendung, Unterstützung gerecht und stellen positive Gefühle dar, die von den erlebten abweichen. Dieses Phänomen wird als „emotionale Dissonanz“ im Rahmen von Emotionsarbeit (ebd.) bezeichnet.
Laut Altmann und Roth überbrücken Pflegende die emotionale Dissonanz oft durch den sogenannten empathischen Kurzschluss (Altmann, Roth 2014). Typisch sind dann Formulierungen, die durchaus verständnisvoll und einfühlsam erscheinen, wie „Es wird schon wieder“, „Machen Sie sich keine Sorgen“ oder „Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus“.
Empathische Kurzschlüsse haben langfristig negative Folgen, auch für die Pflegenden selbst. Sie bleiben zwar kurzfristig handlungsfähig, aber eine dauerhafte emotionale Dissonanz ist ein starker Belastungsfaktor (vgl. Nerdinger 2003). „Man kann das mit der Entstehung von Rückenschäden vergleichen“. meint Tobias Altmann. „Falsches Heben von Patienten tut auch nicht gleich beim ersten Mal weh, der Schaden entsteht erst nach Jahren.“
Das empCARE Training sensibilisiert Pflegende für ihre eigenen empathischen Kurzschlüsse und deren Folgen. Sabine B. beschreibt das für die Interaktion mit dem von starken Schmerzen geplagten Patienten so: „Also richtig eskaliert ist die Situation eigentlich erst als ich gesagt habe. ‚Ich verstehe, dass Sie Schmerzen haben.‘ Da wurde der Patient so richtig sauer. Und mir ist jetzt noch ganz mulmig, wenn ich nur daran denke. Aber was sollte ich machen? Ich musste ja auf die diensthabende Ärztin warten und konnte ihm nicht von mir aus Morphin geben.“
Wieso reagiert ein Patient gerade dann aggressiv, wenn die Pflegerin explizit ihr Verständnis für seine Situation formuliert? Der Patient litt seit Jahren unter chronischen Schmerzen und hatte Wissen und Erfahrung, wie sie am besten behandelt werden. Die Behandlung beurteilte er als nicht ausreichend. Für ihn waren die Schmerzen so stark, dass sie sich niemand anderes vorstellen konnte. Die Formulierung „Ich verstehe, dass Sie Schmerzen haben“ war zwar empathisch intendiert, der Patient erlebte sie aber als Anmaßung. Der empathische Kurzschluss milderte in diesem Fall die negativen Gefühle nicht etwa, sondern heizte sie zusätzlich an.
Negative Reaktionen von Patientinnen und Patienten auf einen empathischen Kurzschluss treten in der Regel nicht so unmittelbar zutage wie in diesem Beispiel. Deshalb werden sie meistens auch nicht damit in Verbindung gebracht. Patientinnen und Patienten agieren eher indirekt mit häufigem Klingeln, Beschwerden über scheinbare Kleinigkeiten oder auch mit verstärkten Symptomen. Hildegard Peplau spricht in diesem Zusammenhang von unerklärlichem Unwohlsein, einem Phänomen, das sie schon sehr früh mit der Qualität der interpersonalen Beziehungen in der Pflege in Verbindung brachte (s. Peplau 1995).
Alternativen finden
Im empCARE Training entwickeln die Teilnehmenden Alternativen zum empathischen Kurzschluss auf Grundlage einer Modifikation der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg. Fundamental ist die Unterscheidung von Verhalten, Gefühlen und Bedürfnissen. Rosenberg geht davon aus, dass unbefriedigte Bedürfnisse negative Gefühle auslösen. Durch ihr Verhalten beziehungsweise eine von ihnen gewählte Strategie versuchen Menschen, die negativen Gefühle wieder abzubauen. Im Grunde geht es dabei aber immer darum, das dahinterstehende Bedürfnis zu befriedigen (s. Abb. 2).
Nach Rosenberg kann nicht über die Bedürfnisse verhandelt werden, wohl aber über die Strategien zu ihrer Befriedigung (vgl. Rosenberg 2002). Kurz gesagt: Man kann eine andere Person nicht auffordern, keinen Hunger zu haben. Man kann aber über verschiedene Wege sprechen, wie der Hunger gestillt werden kann.
Durch die im empCARE Training eingesetzten Übungen, Reflexionen und Rollenspiele lernen die Teilnehmenden, das Verhalten anderer Personen nicht voreilig zu bewerten und ohne empathische Kurzschlüsse zu antworten. Sie erlernen, wie sie beobachtbares Verhalten, Gefühle und Bedürfnisse ihrer Interaktionspartner unterscheiden und mit diesen abklären können, bevor sie antworten. Und schließlich reflektieren die Teilnehmenden ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse in schwierigen Interaktionen und entwickeln Möglichkeiten, diesen Ausdruck zu geben. Diese Selbstklärung verhilft dazu, die emotionale Dissonanz bei der Emotionsarbeit zu verringern. Die Reflexion der Interaktion zwischen Sabine B. und ihrem Patienten ergibt im Training das in Abbildung 3 dargestellte Ergebnis.
Sabine B. wird bei der Analyse klar, dass sie ihre widerstrebenden Bedürfnisse „dem Patienten helfen/wirksam sein“ und die eigene „Sicherheit gewährleisten, loyal sein“ (und deshalb dem Patienten nicht ohne ärztliche Verordnung ein Betäubungsmittel verabreichen) in dieser Situation nicht in einem konsistenten Verhalten zusammenbringen konnte. Die Hilflosigkeit des Patienten hat sich auf Sabine B. übertragen und Ausdruck in dem ambivalenten Satz gefunden: „Ich verstehe, dass Sie Schmerzen haben, aber…“. Es ist diese Antwort und die Hilflosigkeit der Pflegerin, die den Patienten erst richtig in Rage bringen (zur eskalierenden Wirkung von „aber“ vgl. Rosenberg 2002, 126).
Am Ende der Übung hat Sabine B. eine Idee, wie sie die Situation für sich und den Patienten hätte entspannen können. „Vielleicht wäre es für uns beide einfacher gewesen, ich hätte ihm gesagt, dass ich mir seine Schmerzen tatsächlich nicht vorstellen kann. Ich hätte ihm anbieten können, bei ihm zu bleiben und seine Wut und seine Beschwerden weiter anzuhören, bis die diensthabende Ärztin kommt. Oder ich hätte ihn fragen können, ob er selbst Möglichkeiten kennt, um Schmerzattacken zu überbrücken. Dann hätte er sich vielleicht besser respektiert gefühlt.“
Das Erkennen der Bedürfnisse, die bei dem Patienten und bei ihr selbst aktiv waren, ermöglicht es Sabine B. gleich mehrere Verhaltensoptionen für die Situation zu entwickeln und damit dem beiderseitigen Gefühl der Hilflosigkeit zu entkommen. Sie lehnt sich daraufhin zurück, öffnet die vorher verschränkten Arme und das Gesicht entspannt sich. Wie in diesem Fall wird der Entlastungseffekt des empCARE Konzepts zuweilen schon im Training erlebbar.
Beabsichtigt ist allerdings eine dauerhafte Wirksamkeit, die im Rahmen des Verbundprojekts ebenfalls untersucht wird. In mehreren Befragungen vor und nach den Trainings kommen verschiedene standardisierte und halb-standardisierte Instrumente zum Einsatz, mit denen die Veränderungen der empathischen Kompetenz, der Arbeitszufriedenheit, des Belastungserlebens und der psychischen Befindlichkeit der Teilnehmenden gemessen werden. Befragungen der Teams aus denen die Probanden stammen und Befragungen von Patientinnen und Patienten der teilnehmenden Stationen ergänzen den Studienplan.
Auf einer Tagung in der Uniklinik Köln werden am 18. Mai 2017 die theoretischen Grundlagen, erste Erfahrungen mit den Trainings und das Studiendesign des Projekts einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt (s. Kasten). Auch der Einsatz des Konzepts in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Pflege und in der Aus- und Weiterbildung sollen thematisiert werden. Neben den Expertinnen und Experten der vier Verbundstandorte, kommen auch Teilnehmende der Trainings zu Wort. Zu dieser Veranstaltung sind Führungskräfte aus der Pflege, Pflegepädagogen sowie Pflegewissenschaftler eingeladen. Auch Sabine B. will unbedingt daran teilnehmen, um weitere Anregungen für ihre pflegerische Praxis mitzunehmen.
Altmann, T. und Roth, M. (2014): Mit Empathie arbeiten – gewaltfrei kommunizieren. Praxistraining für Pflege, Soziale Arbeit und Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer
Nerdinger, F.W. (2003): Emotionsarbeit und Burnout in der gesundheitsbezogenen Dienstleistung. In: Büssing, A. und Glaser, J. (Hrsg.): Dienstleistungsqualität und Qualität des Arbeitslebens im Krankenhaus (S. 181–197). Göttingen: Hogrefe
Peplau, H. (1995): Interpersonale Beziehungen in der Pflege. Ein konzeptioneller Bezugsrahmen für eine psychodynamische Pflege. Basel, Eberswalde: Recom Verlag
Rosenberg, M. (2002): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens. 2. Auflage. Paderborn: Junfermann Verlag