• 26.01.2017
  • Praxis
Kommunikation bei Inkontinenz

Kein Grund zur Scham

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 1/2017

Seite 34

Über eine Inkontinenz reden Betroffene nicht gerne. Auch Pflegende sind oft unsicher: Wie spreche ich einen Patienten oder Bewohner auf eine mögliche Inkontinenz an? Was sage ich, wenn ich merke, dass ihm oder ihr das Thema unangenehm ist? Der folgende Beitrag zeigt Strategien, wie Kommunikation bei Inkontinenz gelingen kann. 

Menschen mit Inkontinenz sind nicht mehr in der Lage, ihre Ausscheidungen hinreichend zu kontrollieren. Auch mit größter Kraftanstrengung ist es den Betroffenen nicht möglich, einen unwillkürlichen Abgang von Harn oder Stuhl zu vermeiden. In dieser Situation werden die Ausscheidungen öffentlich – man kann sie sehen, vielleicht hören oder gar riechen –, und das kann gesellschaftlich befremdlich sein. Blicke und vielleicht sogar Kommentare können folgen, und viele Betroffene beschreiben das Gefühl, „im Erdboden versinken zu wollen“, um der Situation nur schnell zu entkommen. In diesen Momenten erfahren die Betroffenen gleichzeitig einen körperlichen und sozialen Kontrollverlust (Hayder 2013).

Auch wenn nicht alle von Inkontinenz betroffenen Personen solch dramatische Szenen erleben, haben alle Angst davor. Denn was sie im Falle einer Inkontinenz erleben, ist das Gefühl der Scham. Sie erfahren einen tiefen persönlichen Mangel, einen ineinandergreifenden Makel aus „Schwäche, Defekt und Schmutzigkeit“, denn der eingeschränkte, nicht voll funktionsfähige Körper entlässt am falschen Ort Ausscheidungen, die gesellschaftlich als schmutzig gelten (Wurmser 1998). Dafür schämen sie sich, vor sich selbst und anderen Personen. Und mit der Scham geht die Angst einher, bloßgestellt, zurückgewiesen oder gedemütigt zu werden.

Aus diesem Grund entwickeln die Betroffenen eine Reihe von Strategien, um soziale und körperliche Kontrolle zurückzugewinnen. So schränken sie beispielsweise ihre Flüssigkeitsaufnahme ein, tragen prophylaktisch Vorlagen, nutzen Kleidung, die einen möglichen Harn- oder Stuhlverlust kaschieren, und haben, egal wo sie sich befinden, beharrlich die nächste Toilette im Blick. Viele Betroffene suchen zudem nach therapeutischen Optionen wie Beckenbodentraining, Medikamente oder Operationen.

Allen gemeinsam ist, dass sie sehr genau überlegen, wem sie von der Inkontinenz erzählen und in welcher Weise dies geschehen könnte. In der Regel fällt es den Betroffenen sehr schwer, über die Thematik zu sprechen. Der Grund ist die zuvor beschriebene Angst vor negativen Reaktionen der anderen – Familienmitglieder, Freunde oder medizinisches Personal (Hayder 2013). Für die Betroffenen tut sich ein Dilemma auf: Wie sucht man Hilfe, wenn man sich beschämt fühlt und Angst hat, über das Problem zu sprechen?



Initialfragen zur Identifikation von Risikofaktoren und Anzeichen einer Harninkontinenz

  • Verlieren Sie ungewollt Urin?
  • Verlieren Sie Urin, wenn Sie husten, lachen oder sich körperlich betätigen?
  • Verlieren Sie Urin auf dem Weg zur Toilette?
  • Tragen Sie Vorlagen/Einlagen, um Urin aufzufangen?
  • Verspüren Sie häufig starken Harndrang?
  • Müssen Sie pressen, um Wasser zu lassen?

Quelle: DNQP 2014



Gespräche mit professionellen Helfern

Personen, die an Inkontinenz leiden, beschreiben diverse negative Auswirkungen, die sie im privaten, beruflichen oder partnerschaftlichen Leben erfahren. Auch das Selbstwertgefühl wird durch die Inkontinenz in Mitleidenschaft gezogen. Eine Betroffene beschreibt es folgendermaßen: „Ich fühl’ mich wie ein kleines Kind, das noch nicht mal die Blase im Griff hat. Man macht sich so klein dadurch …“. Das verminderte Selbstwertgefühl und die Angst vor schamhaften Ereignissen verletzen wiederum das ICH-Gefühl. Damit fällt es den Betroffenen auch schwer, mit professionellen Gesundheitshelfern über die Inkontinenz zu sprechen (Hägglund und Wadenstein 2007, Hayder 2013).

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich Strategien zu überlegen, die eine Kommunikation befördern. Anhand von sechs Punkten sollen hier mögliche Ansatzpunkte aufgezeigt werden, die helfen können Brücken zu bauen, um ein schier unüberwind- liches Thema zu bewältigen.

Bedenken, was man tut: Pflegerische Tätigkeiten sind mit menschlichen Begegnungen verbunden. Häufig geht es dabei um sensible und intime Themen und Verrichtungen. Nehmen Pflegende die Situation nicht richtig wahr und kommunizieren oder handeln aus Sicht der Patienten unangemessen, werden diese Begegnungen als misslungen, vielleicht sogar als verletzend erlebt. Nicht selten hat dies negative Konsequenzen für nachfolgende Handlungen und Gespräche.

Das Themengebiet der Ausscheidung stellt ein sehr sensibles und intimes Handlungsfeld dar, das immer wieder der kritischen Reflexion bedarf. Daher ist es sinnvoll, sich regelmäßig – eigenständig oder im Team – mit dem Thema selbst, aber auch mit Einstellungen, Haltungen sowie den pflegerischen Handlungen auseinanderzusetzen. Mögliche Fragen dazu sind: Was weiß ich über Inkontinenz? Wie gehe ich im Alltag mit der Thematik um? Wo sehe ich Probleme und Lösungsansätze? Was würde ich mir wünschen, wenn ich betroffen und auf Hilfe angewiesen wäre?

Positive Signale setzen: Indem Pflegende die Intimsphäre der Patienten und Bewohner schützen und einen respektvollen und empathischen Umgang mit ihnen anstreben, bauen sie Vertrauen auf. Dies ist notwendig, damit die von Inkontinenz betroffenen Personen Mut schöpfen, ihre Probleme äußern und Hilfe annehmen können.

Hinweise wahrnehmen: Betroffene, die über die Inkontinenz sprechen, sind dabei in der Regel sehr zurückhaltend. Der simple Satz: „Entschuldigung, ich muss schon wieder auf die Toilette“, kann bereits ein versteckter Hinweis sein. Es ist möglich, dass die Person (zu) oft zur Toilette gehen muss, weil sie immer wieder einen Harndrang verspürt. Oder sie möchte überprüfen, ob das Inkontinenzhilfsmittel noch richtig sitzt und abgehender Urin sicher aufgefangen wird. Es ist ein eher beiläufiger Satz, mit dem die betroffenen Personen die Problematik sehr behutsam, fast nichtssagend ansprechen. Dies geschieht aus zwei Gründen: Betroffene möchten pietätvoll sein – sich also an die gesellschaftlichen Regeln halten, und in der Öffentlichkeit wird nicht über Ausscheidung gesprochen.

Die Betroffenen möchten ihr ICH schützen, denn sie wissen nicht, wie ihr Gegenüber reagiert – mit Unverständnis oder Verständnis. Schaffen es professionelle Helfer, die ersten Signale zu erkennen und positiv zu beantworten, eröffnen sich Möglichkeiten zu einem vertiefenden Gespräch.

Überlegt kommunizieren: Sinnvoll ist es, die Inkontinenz aktiv und überlegt anzusprechen. Wichtig ist dabei eine geschützte Atmosphäre – möglichst ein Vier-Augen-Gespräch, das nicht durch Störungen, wie eine sich abrupt öffnende Tür, beeinträchtigt oder gar beendet wird. Kann an erste Gesprächsmöglichkeiten angeknüpft werden, sind dies besonders gute Bedingungen. Ansonsten kann und sollte die Kontinenz/Inkontinenz im Aufnahmezeitraum, zum Beispiel im Rahmen der pflegerischen Anamnese, thematisiert werden (siehe Kasten S. 35). Das empfiehlt auch der nationale Expertenstandard „Förderung der Harnkontinenz in der Pflege“ (DNQP 2014). Zwar liegt bisher lediglich ein Expertenstandard für das Themenfeld Harn(in)kontinenz vor, doch lassen sich diese Empfehlungen sehr gut auf das Thema Stuhlinkontinenz übertragen.

Da sowohl junge als auch ältere Menschen von Inkontinenz betroffen sein können, sollte jede Person gefragt werden. Dabei bietet es sich im Gespräch an, Themen, die Einfluss auf die Kontinenz haben, als Anknüpfungspunkte zu nutzen. So ist es beispielsweise möglich, folgende Aspekte zu kombinieren: „Ich sehe, Sie nutzen eine Gehhilfe. Schaffen Sie es denn damit immer rechtzeitig zur Toilette?“ Eine eingeschränkte Mobilität kann Ursache für eine Inkontinenz sein. Sie muss daher als Risikofaktor erkannt werden und kann im Gespräch als mögliche Brücke dienen, um eine mögliche Inkontinenz anzusprechen.

Verständnis zeigen: Betroffene, die trotz Schamgefühl und Angst über ihre Inkontinenz sprechen, erleben dies oft als Herausforderung. Die Situation ist für sie befremdlich. Daher benötigen sie ein sensibles und empathisches Gegenüber, das Schwierigkeiten wahrnimmt und Strategien nutzt, die helfen, diese zu überwinden (Hayder und Kramß 2013). Kommt es beispielsweise im pflegerischen Gespräch zu Sprachlosigkeit, abwehrenden Reaktionen oder hilflosen Gesten, zeigt dieses Verhalten, dass die betroffene Person an ihre Grenzen stößt. Eine adäquate Reaktion kann zum Beispiel sein: „Ich kann mir vorstellen, dass die Situation für sie unangenehm ist.“ Damit wird der unangenehme Moment schonend benannt, und die Pflegekraft signalisiert Verständnis.

Das weitere Vorgehen orientiert sich an der Reaktion des Betroffenen: So kann ein Moment der Ruhe helfen. Die pflegende Person kann jedoch auch mit weiterführenden Fragen oder Erörterungen den Gesprächsfaden wieder aufnehmen.

Betroffene aus dem Abseits holen: Immer wieder schildern Betroffene, dass sie das Gefühl haben, mit ihrer Inkontinenz allein zu sein. Daher ist es eine gute Strategie, diesem Eindruck etwas entgegenzusetzen. Pflegende können beispielsweise sagen: „Wir haben viele Patienten mit Diabetes in unserer Klinik. Daher wissen wir, dass es durch die Erkrankung Probleme mit der Blase geben kann. Manche Patienten müssen häufiger zur Toilette, andere können den Urin nicht mehr halten. Wenn Sie mit unserer Fachschwester darüber reden möchten, machen Sie das gern. Ich lasse Ihnen einen Flyer hier, in dem steht etwas mehr dazu. Sie können sich direkt an die Kollegin wenden, oder mir Bescheid geben, dann kümmere ich mich um einen Termin.“

In diesem Beispiel vermittelt die Pflegekraft, dass Inkontinenz bei dem Krankheitsbild Diabetes vorkommen kann, andere Patienten dies auch erleben und die betroffene Person keinesfalls ein Einzelfall ist. Zudem macht sie deutlich, dass es eine versierte Kollegin gibt, die als Ansprechpartner fungiert. Sie informiert und hinterlässt einen Flyer. Die betroffene Person kann nun in Ruhe überlegen, ob und wie sie das Hilfsangebot annehmen möchte.

Wie oben dargestellt, ist es vielen Betroffenen sehr unangenehm, wenn sie die Ausscheidungen ungewollt verlieren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch pflegerische Handlungen als belastend erlebt werden, die im Anschluss daran nötig sind, zum Beispiel das Wechseln der Bettwäsche. In solchen Situationen kann es hilfreich sein, mit Humor zu reagieren. Interviewte Patienten geben an, dass sie es sehr erleichternd finden, wenn professionelle Helfer im Fall einer Inkontinenz gelassen und humorvoll reagieren. Einige Patienten greifen gar selbst zu diesem Mittel, um schwierige Situationen zu überwinden (Hayder-Beichel 2016). Auch wenn der Einsatz von Humor das grundlegende Schamgefühl für die Betroffenen nicht ändert, kann er über schwierige Momente hinweghelfen. Wichtig ist jedoch, dass der Humor nicht plump und respektlos daher kommt.

Respekt und Einfühlung erforderlich

Eine Inkontinenz ist geprägt von Ängsten und Scham. Eine erfolgreiche Kommunikation ist bei diesem sensiblen Themenfeld eine Herausforderung für Pflegende. Sie kann jedoch gelingen. Erforderlich sind – neben einem ausreichenden Wissen über die Thematik – Einfühlungsvermögen, Respekt und der Situation angepasste, kommunikative Strategien.

DNQP (2014): Expertenstandard Förderung der Harnkontinenz in der Pflege. 1. Aktualisierung. Osnabrück
Hayder, D. (2013): Harninkontinenz – Die Sicht der Betroffenen und pflegenden Angehörigen. In: Hayder, D. (Hrsg.): Interdisziplinäre Kontinenzberatung – Patientenorientierte Pflege, Medizin und Therapie. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 19–35
Hayder-Beichel, D. (2016): Inkontinenz. In: Uschok, A. (Hrsg): Körperbild und Körperbildstörungen. Handbuch für Pflegende und Gesundheitsberufe, Hogrefe, Bern, 253–262
Hayder, D.; Kramß, D. (2013): Sexualität und Partnerschaft – Ein tabuisiertes Beratungsfeld der professionellen Pflege. In: Hayder, D. (Hrsg.): Interdisziplinäre Kontinenzberatung – Patientenorientierte Pflege, Medizin und Therapie, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 103–116
Hägglund, D.; Wadenstein, B. (2007): Fear of humiliation inhibits women’s care-seeking behaviour for long-term urinary incontinence, Scand J Caring Sci; 21; 305–312
Schroer, M. (2005): Zur Soziologie des Körpers. In: Soziologie des Körpers. Schroer, M. (Hrsg). Suhrkamp, Frankfurt/Main, 7–47
Wurmser, L. (1998): Die Maske der Scham – Die Psychoanalyse von Schameffekten und Schamkonflikten. Berlin/Heidelberg, Springer, 40–147

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