• 01.09.2016
  • Praxis
Ökonomie und Ethik

„Die Pflege muss wieder menschlicher werden"

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 9/2016

Arbeitsverdichtung, Verweildauersenkung, Zeitmangel – viele Pflegende empfinden ihre tägliche Arbeit als kaum noch mit dem beruflichen Selbstverständnis vereinbar. Stehen Ethik und Ökonomie als unüberbrückbare Gegensätze grundsätzlich im Widerspruch? Darüber diskutierten wir mit der Pflegedirektorin Vera Lux und der Medizinethikerin Prof. Dr. Christiane Woopen.

Frau Lux, Sie sind Pflegedirektorin der Uniklinik Köln und damit Vorgesetzte von rund 2 800 Pflegenden. Wie ist die Stimmung unter Ihren Beschäftigten?

Lux: Die Stimmung ist gemischt, teilweise jedoch schlecht und ohne Hoffnung auf Besserung. Immer wieder geben mir Mitarbeiter die Rückmeldung, dass die Arbeitsbelastung sehr hoch ist und sie die zunehmenden Anforderungen nicht adäquat oder gar nicht mehr bewältigen können.

Worauf führen Sie dies zurück?

Lux: Gründe sind die zunehmende Komplexität der Patientenversorgung, die sich aus der medizinischen und technischen Entwicklung ergibt, und die Zunahme älterer Patienten mit hohem Versorgungsbedarf. Fallzahlsteigerungen bei Reduzierung der Verweildauer, steigende Hygieneanforderungen und steigende Anforderungen an das pflegerische Qualitäts- und Risikomanagement sowie die Dokumentation sind weitere Ursachen. Mitarbeiter bemängeln die zu knapp bemessenen Personalschlüssel sowie die teilweise fehlende Qualifikation und Erfahrung der Kollegen, um all diese Aufgaben zu bewältigen. Bauliche Defizite, fehlende Hilfsmittel, mangelhafte EDV-Unterstützung und ungeregelte Prozesse kommen häufig erschwerend hinzu. Bei einer durchgehend maximalen Auslastung der Stationen kommen die Pflegenden nahezu täglich an ihre Grenzen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Pflegende hetzen durch den Tag und haben trotzdem häufig das Gefühl, den Patienten und Angehörigen nicht gerecht zu werden.

Deutsche Krankenhäuser sind stark am Umsatz ausgerichtet. Genau dies hat der Deutsche Ethikrat kürzlich in seiner Stellungnahme „Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus" kritisiert. Frau Professorin Woopen, zu welchen Missständen hat die Ökonomisierung der Krankenhausversorgung geführt?

Woopen: Ein zentraler Missstand besteht darin, dass Klinikmitarbeiter Patienten nicht so versorgen können, wie es ihren berufsethischen Vorstellungen entspricht. Es steht zu sehr im Vordergrund, was für die Abrechnung das Beste ist, und es wird zu wenig gefragt, was für den Patienten gut ist. Manchmal ist es beispielsweise so, dass Patienten sehr oder gar zu früh nach Hause entlassen werden, damit das Bett frei ist für den Nächsten, mit dem eine neue DRG abgerechnet werden kann. Oder dass ein Patient nach Hause entlassen und kurze Zeit später erneut aufgenommen wird, anstatt ihn innerhalb der Klinik zu verlegen. Um solche Fehlentwicklungen zu reduzieren, spricht sich der Ethikrat für eine Weiterentwicklung des DRG-Systems aus. Das Patientenwohl muss wieder in den Fokus rücken.

Müsste das Abrechnungssystem dafür nicht ganz abgeschafft werden?

Woopen: Es gibt durchaus Stimmen, die dies fordern. Doch der Ethikrat ist der Überzeugung, dass jedes Vergütungssystem Anreize und auch Fehlanreize setzt. Das Ziel muss daher sein, Fehlanreize gering zu halten und ihnen entgegenzuwirken. Dabei geht es nicht – wie häufig irrtümlicherweise angenommen – darum, Ethik gegen Ökonomie zu stellen. Letztlich gehören wirtschaftliche Belange zur ethischen Verantwortung dazu. Natürlich muss die Patientenversorgung wirtschaftlich erfolgen. Mit den solidarisch aufgebrachten Mitteln muss verantwortlich umgegangen werden – das steht auch im Gesetz. Deswegen ist dem Ethikrat der verantwortungsvolle Umgang mit den notwendigerweise knappen Ressourcen im Gesundheitswesen ein besonderes Anliegen. Im Spannungsfeld zwischen Patientenwohlorientierung und Wirtschaftlichkeit muss es daher eine bewusste Auseinandersetzung geben. Das Ziel muss sein, Strukturen so zu gestalten, dass vor Ort eine ausgewogene Balance erreicht werden kann.

Das klingt sehr abstrakt. Wie kann dies konkret aussehen?

Woopen: Beispielsweise darüber, Kommunikation besser im Entgeltsystem abzubilden. Grundsätzlich spricht sich der Ethikrat dafür aus, Kommunikation im Krankenhaus zu stärken – sowohl mit dem Patienten als auch zwischen den Berufsgruppen. In den DRGs sollte künftig nicht nur die Kommunikationszeit mit dem Patienten vergütet werden, sondern auch die Zeit, die Ärzte für Gespräche unter anderem mit Pflegenden, Therapeuten und Seelsorgern aufbringen. Ebenfalls sollten interdisziplinäre Fallkonferenzen und Übergaben im DRG-System berücksichtigt warden.

Lux: Diese Forderung kann ich nur unterstützen. Denn im Klinikalltag beobachte ich immer wieder, dass Pflegende keine Zeit haben für ein aufmunterndes und ermutigendes Gespräch mit dem Patienten. Häufig können Pflegende nicht einmal mehr die Visite begleiten. Damit bleibt der so wichtige Informationsaustausch zwischen Arzt und Pflege auf der Strecke. In der Folge kommt es zu Informationsverlusten und damit zu Risiken in der Patientenversorgung.

Woopen: Um interprofessionelle Kommunikation zu stärken, ist es auch erforderlich, dass Pflegende Leitungsfunktionen bekleiden und beispielsweise im Klinikvorstand vertreten sind. Sonst können sie nicht mit den anderen Berufsgruppen auf Augenhöhe interagieren. Leider ist dies nicht in allen Krankenhäusern selbstverständlich.

Lux: Das kann ich bestätigen. Seit einigen Jahren ist hier die Entwicklung leider eher rückläufig. Über Privatisierungen, GmbH-Gründungen oder Novellierungen von Gesetzen wurde die Pflege häufig aus der Klinikgeschäftsführung oder dem Klinikvorstand herausgedrängt. Damit ist die Pflege an wichtigen Entscheidungen nicht direkt beteiligt. An den Universitätsklinika in Nordrhein-Westfalen ist dies glücklicherweise nicht der Fall, sodass pflegerische Belange auf der Vorstandsebene von der Pflege unmittelbar eingebracht und vertreten werden können.

Zur Stärkung des Patientenwohls fordert der Ethikrat unter anderem die Einführung von Personalschlüsseln. Was halten Sie davon, Frau Lux?

Lux: Fixe Personalschlüssel helfen uns im Klinikalltag nicht weiter, sondern schränken die dringend notwendige Flexibilität eher ein. Nur mit maximalem Gestaltungsspielraum bei der Personaleinsatzplanung kann schwankenden Anforderungen – zum Beispiel aufgrund der Belegung, des Pflegeaufwands oder bei personellen Veränderungen – zeitnah quantitativ und qualitativ begegnet werden. Insofern ist es viel sinnvoller, Instrumente zur Personalbemessung auf den Weg zu bringen, um damit den Personalbedarf für die Pflege rechnerisch möglichst objektiv zu ermitteln und dabei die spezifischen Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen.

Woopen: Mit dem Personalschlüssel, wie ihn der Ethikrat empfiehlt, ist nichts anderes gemeint.

Lux: Betrachtet man die Forderungen der Gewerkschaft Verdi, kann der Begriff des Personalschlüssels auch durchaus anders verstanden werden.

Woopen: Inwiefern?

Lux: Verdi fordert feste Personalschlüssel in bestimmten Settings. So zum Beispiel in der Nacht: Es sollen immer zwei Pflegende auf der Station sein, egal um welche Abteilung es sich handelt und egal, wie viele Patienten zu versorgen sind. Mit solchen starren Regelungen geht jede Flexibilität in der Steuerung verloren. Gegebenenfalls sind Kliniken gezwungen, Leistungen ohne Not und ohne dass die Patientenversorgung gefährdet ist, herunterzufahren. Im Arbeitsalltag gibt es sehr viele unterschiedliche Faktoren, die Einfluss auf den Personalbedarf haben. Ausschließlich auf fixe Personalschlüssel zu setzen, greift definitiv viel zu kurz.

Woopen: Selbstverständlich plädiert der Ethikrat für eine fachbereichsspezifische und bedarfsorientierte Bemessung von Personalvorgaben.

Frau Professorin Woopen, die Forderung, sich künftig am Patientenwohl zu orientieren, richtet sich primär an Politik und Kostenträger. Was bedeutet sie aber für die einzelne Pflegeperson?

Woopen: Für den Einzelnen bedeutet die Patientenwohlorientierung das Überdenken seiner Grundhaltung, aus der heraus er seinen Beruf ausübt. Eine Pflegeperson und natürlich auch ein Arzt sollten sich immer fragen, ob sie patientenwohlorientiert handeln.

Was bedeutet das konkret?

Woopen: Wir haben den Begriff des Patientenwohls in drei Kriterien ausdifferenziert. Das erste ist die sogenannte selbstbestimmungsermöglichende Sorge. Pflegende sollten beim Patienten nicht einfach Handlungen ausführen, die sie selbst für das beste halten, sondern Angebote unterbreiten, die der Patient annehmen oder ablehnen kann. Auch die Art und Weise, wie Pflegende mit den Patienten interagieren, hat einen Einfluss auf seine Selbstbestimmung. Beispielsweise kann eine Handlung am Patienten über ihn hinweg ausgeführt werden – selbst wenn er eingewilligt hat –, oder aber man bindet ihn gezielt ein. Das fängt schon bei der Kommunikation an. Wie begrüße ich einen Patienten? Wie stelle ich mich ihm vor? Wie viel Zeit gebe ich ihm, um sich selbst zum Ausdruck zu bringen?

Sind dies nicht utopische Forderungen, wenn Pflegende unter ständigem Zeitdruck stehen, wie Frau Lux eingangs beschrieben hat?

Woopen: Zeit ist hier nicht der wesentliche Faktor. Wenn die Kommunikation gut ist, lässt sich in fünf Minuten mehr erreichen als in einer Stunde schlechter Kommunikation. Das erfordert eine besondere Feinfühligkeit und Empathie. Es gilt, die Gefühle und Bedürfnisse des Patienten wahrzunehmen und aufzugreifen. Kommunikation kann auch bedeuten, am Bett zu sitzen und eine Hand zu halten. Oder einen Patienten freundlich anzuschauen und ihm damit Offenheit zu signalisieren, die es ihm ermöglicht, Empfindungen zum Ausdruck zu bringen. Die selbstbestimmungsermöglichende Sorge bedeutet, den Patienten in seiner Situation im Krankenhaus ernst zu nehmen und ihn individuell zu unterstützen. Dabei geht es nicht immer gleich darum, Lösungen anzubieten. Schon allein das Gefühl, wahrgenommen zu werden, ist für den Patienten etwas sehr Wohltuendes.

Was sind die beiden weiteren Kriterien der Patientenwohlorientierung?

Woopen: Das zweite Kriterium ist die Behandlungsqualität. Sowohl die ärztliche als auch die pflegerische Versorgung sollen unter qualitativ hervorragenden Umständen erfolgen. Zur Orientierung am Patientenwohl gehört drittens die Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit. Wenn Kapazitäten beim einen Patienten verschwendet werden, stehen sie für den anderen nicht mehr zur Verfügung. Diese drei Kriterien der Patientenwohlorientierung lassen sich sowohl vom Einzelnen als auch von der Organisation anwenden. Mitarbeiter können damit ihr individuelles Handeln überprüfen, das Management kann damit Strukturen gestalten und evaluieren.

Frau Lux, was muss sich aus Ihrer Sicht im Krankenhaus dringend ändern?

Lux: Die Pflege muss wieder menschlicher werden. Wir behandeln keine Galle, keinen Herzinfarkt und auch keine Fälle – wir versorgen Menschen. Nicht die DRG, sondern der Mensch muss wieder in den Mittelpunkt gerückt und seine Bedürfnisse wahrgenommen werden. Nicht alles, was heute medizinisch machbar ist, ist auch für jeden Patienten gleichermaßen sinnvoll und gewünscht. Selbst im normalen Leben souveräne Persönlichkeiten befinden sich im Krankenhaus in einer Ausnahmesituation, sind verunsichert und haben Angst. Ein Patient muss darauf vertrauen dürfen, dass er eine fachlich einwandfreie Versorgung erhält, dass seine Bedürfnisse und Wünsche beachtet und respektiert werden. 

Wie lässt sich dies erreichen?

Lux: Wir müssen wegkommen von altbewährten Ritualen und uns öffnen für neue Konzepte, die der Individualität, der Selbstbestimmung und der jeweiligen spezifischen Versorgungsbedarfe unserer Patienten besser Rechnung tragen. Deswegen habe ich mich sehr gefreut, dass der Ethikrat sich dieses Themas angenommen und das Patientenwohl als Maxime und ethischen Maßstab für die Patientenversorgung im Krankenhaus gefordert hat. Viele Pflegende vermissen diese Orientierung am Patientenwohl in ihrem beruflichen Alltag schon lange, trauen sich aber nicht dies offen und laut zu äußern. Der Ethikrat hat daher als neutrale Instanz mit dieser Stellungnahme den Nerv vieler Beschäftigten in der Pflege und sicherlich auch bei anderen Berufsgruppen getroffen und klare Empfehlungen abgegeben. Jetzt gilt es, die Empfehlungen mit den Verantwortlichen in der Politik, den Krankenkassen und Verbänden zu diskutieren und mit Leben zu füllen.

Frau Lux, Frau Professorin Woopen, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Vera Lux, 57, ist Pflegedirektorin und Vorstandsmitglied der Uniklinik Köln

Prof.Dr. Christiane Woopen, 53, ist geschäftsführende Direktorin des ceres – Cologne Center for Ethics, Rights, Economics and Social Sciences of Health der Universität zu Köln. Bis April 2016 war sie Vorsitzende des Deutschen Ethikrats

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