• 01.08.2016
  • Forschung
Stationäre Altenpflege

"Die Bedingungen sind sehr hart"

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 8/2016

Mehr als die Hälfte der Heime zeigt deutliche Mängel – so lautete das Analyseergebnis des Recherchezentrums Correctiv, das Anfang Juni für Furore gesorgt hatte. Jetzt ist das Buch zur Recherche erschienen. Es soll zeigen, wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht. Ein Gespräch mit dem Autor der Reportage, Daniel Drepper.


Herr Drepper, Ihr Buch trägt den Titel „Jeder pflegt allein". Weshalb?

Hinter dem Titel stehen mehrere Aspekte, insbesondere aber die Erfahrung, dass viele Altenpfleger das Gefühl haben, in ihrer täglichen Arbeit alleingelassen zu werden. Sie kämpfen darum, ausreichend Zeit und Ressourcen für eine gute Pflege einzubringen und die Bewohner so zu versorgen, wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt haben. Leider stößt ihr persönliches Engagement oft an die Grenzen des Systems.

Worin unterscheidet sich Ihr Buch von anderen zur Pflege?

Ich wollte kein weiteres Buch schreiben, das sämtliche Probleme der Pflege aufzählt und nur Missstände anprangert. Der Ansatz war vielmehr, anhand der Geschichten konkreter Personen auf lebendige Art einerseits die Missstände aufzuzeigen, andererseits aber auch Auswege.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Ich habe zunächst mit vielen Menschen telefoniert, die in Heimen arbeiten oder Heime betreiben. Außerdem konnte ich mit zahlreichen Angehörigen, Pflegebedürftigen sowie Mitarbeitern von Heimaufsichten, Behörden, Pflegekassen und Medizinischen Diensten sprechen. In einigen Pflegeheimen habe ich mir dann bestimmte Facetten genauer angeschaut. Dabei konnte ich auf die Hilfe von Kollegen hier bei Correctiv bauen. In zwei Häusern haben wir mit versteckter Kamera gefilmt, wir haben uns als Heimbewohner eingeschleust. Dazu hatten wir eine Kollegin von der „Rheinischen Post", die verdeckt als Pflegerin gearbeitet hat.

Wie lautet Ihr Fazit nach dieser Recherche?

Wirklich gute Pflege ist oft nur möglich, wenn die Pflegenden außergewöhnlich großen persönlichen Einsatz an den Tag legen und sich den sehr widrigen Bedingungen widersetzen, also mehr leisten, als normalerweise zu erwarten wäre. Das gilt sowohl für die einzelne Pflegekraft, die beispielsweise Überstunden macht, aber nicht aufschreibt, als auch für Pflegedienstleistungen oder Heimtreiber, die gute Pflege anbieten wollen und deshalb wirtschaftliche Einbußen in Kauf nehmen. Ich denke da besonders an den Hauptprotagonisten in dem Buch, der seit zehn Jahren versucht, gute Pflege anzubieten.

Der Protagonist in Ihrem Buch heißt Marcus Jogerst. Wie haben Sie ihn gefunden?

Am Anfang der Recherche standen viele Gespräche mit Pflegenden. Ich wollte dann aber nicht nur die Probleme darstellen, sondern auch die Ursachen aufzeigen. Auf jeder Ebene sollte jemand zu Wort kommen: Pflegeperson, Pflegedienstleitung, Heimleiter und Heimbetreiber – und über unsere Undercover-Recherche stellvertretend auch die Bewohner. Dazu habe ich viele Personen etwa über die sozialen Online-Netzwerke Xing und Facebook angeschrieben und versucht, mich in der Pflege zu vernetzen. So bin ich auf die Protestgruppe „Pflege am Boden" gestoßen, bei der auch Marcus Jogerst seit drei Jahren aktiv ist.

Würden Sie sagen, dass Jogerst letztlich erfolgreich ist?

Ja, das lässt sich so sagen, denke ich. Im Juli feierte er mit dem von ihm gegründeten Heim zehnjähriges Jubiläum. Er hat das Haus erweitert um eine Einrichtung für Demenzkranke und betreibt mittlerweile auch einen ambulanten Dienst sowie eine Tagespflege. Vor Ort im Ortenaukreis konnte er einige Verbesserungen anstoßen und sich mit anderen Heimbetreibern vernetzen. Die Frage ist, wie lange er auf diesem Weg durchhält. Er selbst ist sich nicht sicher, ob er die hohe Belastung bis zur Rente aushält.

Ihm gelingt es also, gute Pflege zu organisieren?

Soweit ich das beurteilen kann, ja. Er beschäftigt 140 Mitarbeiter und hat sich selbst mit 5.000 Euro brutto lange Zeit ein relativ bescheidenes Gehalt ausgezahlt. Dabei trägt er das volle betriebswirtschaftliche Risiko und muss einen mehrere Millionen Euro schweren Schuldenberg abtragen. Es ist also möglich, gute Pflege anzubieten, aber nur unter gewaltigen Anstrengungen. Die Bedingungen sind sehr hart; es ist schwer, mit guter Pflege eine vernünftige Rendite zu erwirtschaften.

Rendite ist vielleicht auch nicht erwünscht. Ist es zumindest möglich, gute Pflege kostendeckend zu normalen Arbeitsbedingungen und adäquater Bezahlung anzubieten?

Das ist extrem schwer. Herr Jogerst gibt sich extrem viel Mühe und schafft allenfalls eine schwarze Null. Wer wirklich Gewinne erwirtschaften will – und das ist aus meiner Sicht durchaus in Ordnung –, kann es kaum schaffen, Pflege auf qualitativ hohem Niveau anzubieten. Wer Renditen bis zu acht Prozent verspricht, kann das meiner Ansicht nach nur auf Kosten der Pflegebedürftigen tun.

Am Ende Ihres Buchs findet sich ein ausführlicher Ratgeber. Was zeichnet ein gutes Pflegeheim aus?

Um ein gutes Heim beurteilen zu können, empfehle ich selbstverständlich zunächst, das Buch zu kaufen und den Ratgeber zu lesen (lacht). Verkürzt lässt sich Folgendes sagen: Entscheidend ist, dass für die Bewohner gepflegt wird und nicht für die Angehörigen. Nicht die Einrichtung ist gut, in der die Bewohner perfekt angezogen in Reih und Glied an den Tischen sitzen, sondern jenes, in dem vielleicht mal ein Hemd schief zugeknöpft ist oder ein Patient zwei verschiedene Socken trägt. Das zeigt dann, dass sich das Heim bemüht, die Pflege-bedürftigen einzubinden und Eigenständigkeit zu erhalten, selbst wenn dadurch das Bild nach außen nicht ganz perfekt wirkt.

Wie lässt sich nach Ihren Erfahrungen das System insgesamt verbessern?

Es gibt ja bereits viele Ansätze, ich denke etwa an die Initiative zum Abbau von Bürokratie. Das halte ich für die richtige Richtung. Sinnvoll sind größere Entscheidungsfreiheiten für die Pflegefachpersonen. Diese erwerben in ihrer Ausbildung viele Kompetenzen, können diese aber später nur auf Anweisung eines Arztes einbringen. Ich kann außerdem noch immer nicht nachvollziehen, weshalb es in der Pflege keinen bundesweit einheitlichen Personalschlüssel gibt. Warum betreuen in Schleswig-Holstein ein Drittel weniger Fachkräfte dieselbe Anzahl von Patienten als in Hamburg? 

Die Pflegeschlüssel sind Ländersache. Warum wächst aus der Profession nicht mehr Druck auf die Landesregierungen?

Ich bin sehr erstaunt, dass trotz der hohen Zahl von Pflegenden, die sich mittlerweile bei Facebook und auf anderen Plattformen äußern, nur wenig davon am Ende in der Politik ankommt. Wenn die Apotheker irgendetwas berührt, steht zumindest gefühlt die gesamte Berufsgruppe bei ihren lokalen Bundes- und Landtagsabgeordneten im Wahlkreisbüro. Bei den Ärzten ist das genauso. Hier funktioniert die Lobbyarbeit also nahezu perfekt. In der Pflege ist das leider nicht so, trotz des wachsenden Engagements und der zunehmenden Politisierung der Profession. Dabei ist die Pflege die mit Abstand größte Berufsgruppe des Gesundheitswesens. Das zeigt, dass das politische Engagement noch nicht ausreicht. Vielleicht müsste sich auch eine größere Zahl gewerkschaftlich organisieren.

Das Buch ist geschrieben. Was sind Ihre nächsten Projekte?

Wir werden uns bei Correctiv auf jeden Fall weiter mit dem Gesundheitssystem beschäftigen, insbesondere auch mit der Pflege. Wir haben bereits jetzt viel Resonanz erhalten, insbesondere nach den Reportagen im Fernsehen, bei denen unsere Aufnahmen mit den versteckten Kameras zum Einsatz kamen. Ich persönlich interessiere mich sehr für Probleme von Arbeitnehmern: seien es Pflegende, seien es andere Menschen, die von ihren Arbeitgebern und dem Arbeitsmarkt ganz grundsätzlich im Stich gelassen werden – und im Zweifel keine Lobby haben. Da kommen wir als Journalisten ins Spiel.

Herr Drepper, vielen Dank für dieses Gespräch.

Daniel Drepper, 30, ist Mitgründer von und Senior Reporter beim gemeinnützigen Recherchezentrum Correctiv in Essen. Mail: daniel.drepper@correctiv.org

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