Die Bundesregierung erwägt im Rahmen der geplanten Pflegereform die Streichung des Pflegegrads 1. Ziel ist, die Pflegeversicherung finanziell zu entlasten – laut Medienberichten könnten dadurch jährlich rund 1,8 Milliarden Euro eingespart werden. Die Überlegungen sind Teil der Beratungen einer Bund-Länder-Kommission zur Pflegereform, die bis Mitte Oktober erste Ergebnisse vorlegen soll. Doch die Pläne stoßen auf breite Ablehnung: Pflegeverbände, Sozialorganisationen, Gewerkschaften und Parteien warnen vor gravierenden Folgen für Betroffene, Angehörige und die professionelle Pflege.
Pflegeverbände schlagen Alarm: Versorgung und Fachkräfte unter Druck
Klar gegen eine Streichung spricht sich der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) aus. Pflegegrad 1 müsse nicht nur erhalten, sondern zielgerichteter ausgestaltet werden, um die Versorgungslage zu verbessern und Pflegefachpersonen zu entlasten. Der Verband sieht in der geplanten Kürzung ein falsches Signal an die Pflegepraxis und warnt vor einer Verschärfung der ohnehin angespannten Situation in der häuslichen und ambulanten Versorgung.
"Die Ziele, mit denen der Pflegegrad 1 im Jahr 2017 eingeführt wurde, sind nach wie vor gut begründet", betont DBfK-Vizepräsident Stefan Werner. "Wir als DBfK stehen für eine Überprüfung und daraus möglicherweise resultierende Neujustierung der Wirkungsabsicht des Pflegegrads 1 bereit, nicht aber für eine Abschaffung. Die Misere der Pflegeversicherung rührt nicht daher, dass Einzelne sie nicht in der intendierten Absicht nutzen. Sie muss vielmehr strukturell beseitigt werden."
Die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz warnt vor einer Schwächung der häuslichen Versorgung und einer zusätzlichen Belastung für beruflich Pflegende. Präsident Dr. Markus Mai betont, dass Pflegegrad 1 ein "wichtiger Einstieg" sei, der frühzeitige Hilfe ermögliche und die professionelle Pflege entlaste. Ohne diesen Zugang würden Unterstützungsbedarfe oft zu spät erkannt, was zu vermeidbaren Notfällen und Krankenhausaufenthalten führe. "Statt Pflegeleistungen zurückzunehmen, muss die Politik konsequent in präventive und beratende Pflegeangebote investieren", so Mai.
Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) und der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) kritisieren die Debatte ebenfalls. Während der bpa auf die Bedeutung des Pflegegrads 1 für die Versorgungssicherheit verweist, bezeichnet der AGVP die Diskussion als "Ablenkung" von strukturellen Problemen der Pflegefinanzierung. "Die Prioritäten werden falsch gesetzt: Pflegeplätze, nicht Pflegegrade, sichern die Versorgung", mahnte AGVP-Präsident Thomas Greiner. Beide Organisationen fordern eine nachhaltige Reform, die die tatsächlichen Herausforderungen adressiert.
Sozialverbände und Gewerkschaften: Kürzung trifft die Schwächsten
Sozialverbände wie der VdK und der Paritätische Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg betonen, eine Abschaffung des Pflegegrads 1 führe zu schnelleren und schwereren Pflegeverläufen und verursache langfristig höhere Kosten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) bezeichnet die Kürzungspläne als "unmenschlich und ungerecht" und warnt vor einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit.
Parteien: Zwischen Sparzwang und sozialer Verantwortung
Uneinigkeit herrscht unter den Parteien. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) äußert sich gegenüber den Fernsehsendern RTL und ntv vorsichtig: "Wir werden den Menschen nicht über Nacht etwas wegnehmen. Aber wir müssen jetzt notwendige Änderungen vornehmen, um das System generationengerecht zu machen."
Klar gegen eine Streichung des Pflegegrads 1 spricht sich dagegen der Koalitionspartner SPD aus. Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Christos Pantazis, sagt in der Abendzeitung München: "Als SPD-Fraktion verwahren wir uns entschieden gegen Leistungskürzungen in der Pflegeversicherung."
Die Grünen sprechen sich ebenfalls gegen eine Streichung aus. Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen betont in der Bildzeitung: "Pflege darf nicht das Sparschwein verkorkster Haushaltspolitik sein."
Die Entscheidung der Bundesregierung zur Zukunft des Pflegegrads 1 wird in den kommenden Wochen erwartet.