Nach dem Angriff dreier Brüder auf das Personal der Notaufnahme der Sana-Klinik in Berlin-Lichtenberg in der Silvesternacht ist das Thema Gewalt in der Pflege wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schrieb vergangenen Donnerstag auf X (vormals Twitter), die "Verrohung" im Umgang mit Rettungs-, Ärzte- und Pflegepersonal müsse ein Ende haben. Er kündigte an:
"Die Erhöhung des Strafmaßes kommt auf die Tagesordnung. Von der Beleidigung bis zur Gewalt: Alles muss saftig bestraft werden. Unser Gesundheitssystem braucht Sicherheit."
Pflegekammer NRW setzt auf eigene Expertengruppe
Auch die Pflegekammer Nordrhein-Westfalen (NRW) hatte zum Jahreswechsel erneut darauf hingewiesen, dass Beleidigungen, Bedrohungen und Übergriffe keine Seltenheit in der Pflege sind. Eine Expertengruppe der Kammer sei aktiv, um aufzuklären, zu sensibilisieren und vor allem Maßnahmen zur Gewaltprävention voranzubringen.
Pflegekammervorstandsmitglied Dominik Stark sagte:
"Gewalt in der Pflege ist immer noch ein Tabuthema. Das müssen wir durchbrechen. Denn wir wissen, dass es täglich zu Gewaltereignissen in den verschiedensten Mustern und Formen kommt."
Präventionsmaßnahmen zum Schutz vor Gewalt sei höchste Priorität einzuräumen. Das gelte sowohl für Gewalt gegenüber professionell Pflegenden als auch gegenüber Pflegebedürftigen.
Mehrheit des Pflegepersonals macht Erfahrungen mit Gewalt
Eine Umfrage des Gewaltpräventionsprojekts "PEKo" unter Pflegefachpersonen in vier Bundesländern lässt das Ausmaß von Gewalt in der Pflege erahnen. Die Pflegekammer NRW ist an PEKo beteiligt und teilte mit: 92 Prozent der Befragten aus den Settings stationäre Langzeitpflege, Krankenhaus und ambulante Pflege haben in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine Form von Gewalt im Pflegealltag erlebt. Psychische Gewalt wurde von 90 Prozent erlebt, körperliche Gewalt von 69 Prozent. Gleichzeitig gaben 70 Prozent an, selbst gegenüber Pflegebedürftigen mindestens eine Form von Gewalt ausgeübt zu haben. Hier sind neben Vernachlässigung mit 55 Prozent auch psychische Gewaltereignisse mit 50 Prozent besonders präsent.
Zu zielgerichteten Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt in der Pflege zählen aus Sicht der Pflegekammer-Expertengruppe insbesondere Fortbildungen und Aufklärungskampagnen sowie die Stärkung fachlicher und personaler Kompetenzen des Pflegepersonals. Neben gezielten Deeskalationstrainings zur Stärkung der Handlungssicherheit seien die unterschiedlichen Facetten von Gewalt möglichst flächendeckend zu thematisieren und Pflegefachpersonen auch für "leise" Gewaltformen zu sensibilisieren. Geschulte Führungspersonen, die einen offenen Umgang mit dem Thema Gewalt am Arbeitsplatz pflegten und eine systematische Aufarbeitung ermöglichten, seien unverzichtbar.
Pflegekammer plant Meldesystem für Berufspflichtverletzungen
Die Pflegekammer NRW ist die zentrale Anlaufstelle im Land, wenn es um Berufspflichtverletzungen im pflegerischen Kontext geht. Rund 98 Prozent der Fälle, die die Kammer erreichten, würden bislang über die Staatsanwaltschaften an die Kammer herangetragen. Die Kammer plant daher mit einem Leuchtturmprojekt ein praxistaugliches Meldesystem für Berufspflichtverletzungen zu implementieren. Vorstandsmitglied Sonja Wolf ist die Ressortverantwortliche für das Projekt und erläuterte:
"Zu den Aufgaben der Pflegekammer zählt die Berufsaufsicht über unsere Profession. Ein sogenanntes ‚Whistleblower-System’ soll es Pflegefachpersonen ermöglichen, auf pflegefachliche Gefahren hinzuweisen. Aspekte von Gewalt spielen hier eine besonders wichtige Rolle. Selbstverständlich können Berufspflichtverletzungen auch anonym gemeldet werden. Das soll helfen, mögliche Hemmschwellen abzubauen. Denn es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer an beobachteten Fällen sehr viel größer ist. Hier müssen wir einen niedrigschwelligen Meldeweg etablieren."