Fast jede und jeder kennt es: Ein plötzliches Gefühl – oft logisch nicht begründbar – leitet unser Handeln. Intuition ist ein wesentlicher Bestandteil der Pflegekompetenz. Um die wirksame Kraft der Intuition zu nutzen, gilt es, ihr mehr Bedeutung beizumessen und sie gezielt zu fördern.
Intuition – als Ahnung oder Wissen, das aus dem Inneren kommt – dient der Menschheit seit Jahrmillionen zum Leben und Überleben. Dieses innere, implizite Wissen basiert auf Erfahrungen und ist vielen Menschen im Alltag bekannt. Forschungen zur Intuition unterstreichen ihre hohe Bedeutung. Intuition ist eine geistige Kraft, die mit dem Verstand zusammenarbeitet und erst dadurch vollständiges und sinnvolles Handeln ermöglicht. Alle vermeintlich rational getroffenen Entscheidungen werden unbewusst durch Intuition vorbereitet [1, 2].
Intuitives Handeln ist ein wesentlicher Bestandteil der Pflegekompetenz. Diese umfasst die Potenziale der Person in ihrer Gesamtheit auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene. Intuition kann verstanden werden als Wahrnehmung und Entscheidung aus „dem Bauch heraus“ oder als Handeln, das nicht rational begründbar ist. Dennoch zeigt sie eine hohe Wirksamkeit und wird von der Wissenschaft zunehmend anerkannt.
Intuition als Wegweiser im praktischen Pflegehandeln
Pflegepersonen spüren bewusst oder unbewusst ihre Intuition. Danach befragt, können sie diese als plötzliches Erkennen, sicheres Gefühl oder automatisches Handeln benennen. Dadurch wird die Intuition in ihrer nicht klar zu definierenden Natur eindeutig erkannt. Im Pflegealltag leitet die Intuition das Handeln, schafft Handlungssicherheit und hilft, die Komplexität in der Pflegepraxis zu bewältigen. Diese Erkenntnisse wurden in der Forschungsarbeit „Intuition in der ambulanten Pflege“ von Jahncke-Latteck [3] aufgezeigt.
In klinischen Einrichtungen erscheint die Intuition etwas anders. Hier tritt sie sehr eindrücklich, meist spontan in besonderen Situationen auf und kann das praktische Handeln leiten – von der Einschätzung der erforderlichen Maßnahmen für Patientinnen und Patienten bis hin zu lebensrettenden Handlungen. Die Grundlagen für diese Erkenntnisse beruhen auf Situationsbeschreibungen, in denen Pflegepersonen ihre Pflegepraxis darstellen. Bei der wissenschaftlichen Auswertung konnte ein hoher Anteil von Situationen erkannt werden, die auf explizit formulierte Intuition hinweisen [4]:
- Plötzliches Erkennen, welche Hilfe nötig sein könnte.
- Wahrnehmen, was der Patient jetzt braucht.
- Erkennen der Bedeutung der Handlung.
- Entscheiden ohne Begründung.
- Handeln, das von Gefühlen geleitet wird.
Entscheidungen zu treffen, ohne diese begründen zu können, ist ein wesentliches Merkmal von Intuition. Gerade in der Pflege ist oft ein sehr schnelles, spontanes Handeln notwendig. Dem liegen Wissen und Erfahrung zugrunde. Jedoch können dies auch junge Menschen, wie einige Schülerinnen berichteten. Hier zeigten sich eine hohe Aufmerksamkeit, Sensibilität und Einfühlungsvermögen, die in der individuellen Persönlichkeit zu sehen sind.
In dem Fallbeispiel (Textkasten unten) kommt die Intuition klar zum Ausdruck. Sie ist ein Gefühl, das nicht zu begründen ist. Es folgt eine Entscheidung, die ebenfalls nicht begründbar ist. Trotzdem sind Gefühl und Entscheidung im Nachhinein genau richtig. Bemerkenswert ist, dass die Intuition in einem kurzen Zeitfenster erkennbar wird. Es ist ein kurzer Moment. Ist dieser Moment verstrichen, so wäre die Entscheidung nicht mehr möglich oder sinnvoll. Die Zeit kann sehr kurz sein.
Intuitives Pflegehandeln ist im Alltag von Pflegenden sehr präsent. Oft ist es den Handelnden nicht bewusst. Vielleicht ist es so selbstverständlich, dass man darüber nicht nachdenkt oder nicht spricht. Oder die Aufmerksamkeit wurde in der Theorie oder Praxis nicht darauf gelenkt.
Entscheiden ohne Begründung – ein Fallbeispiel
Eine Pflegefachperson betreute einen 60-jährigen Mann auf der Station. Er war schwer erkrankt, konnte sich aber noch selbst versorgen und sein Zustand war stabil. Sie beschrieb die Situation folgendermaßen: „Ich hatte Nachtdienst, zwei Nächte waren schon vergangen, Herr O. war nach wie vor unverändert. Schon nach meinem ersten Rundgang jedoch hatte ich ein komisches Gefühl. Ich war mir nicht sicher warum, aber ich dachte, es wäre wohl besser, die Angehörigen zu informieren, da ich wusste, dass die Ehefrau sehr gerne im Moment des Todes bei ihrem Mann wäre. Ich war mir aber sehr unsicher, da sich der Patient objektiv überhaupt nicht verändert hatte. Ich überlegte hin und her. Was sollte ich den Angehörigen denn sagen? Ich hätte ein komisches Gefühl? Nein, das konnte ich nicht machen. Nachdem mich aber das Gefühl nicht losgelassen hat – im Gegenteil, es wurde stärker –, habe ich dann doch noch angerufen und die Situation genauso geschildert, wie ich sie erlebte.
Eine halbe Stunde später kam die Ehefrau. Der Patient war nach wie vor unverändert und ich machte mir schon leise Vorwürfe, dass ich sie mitten in der Nacht hierhergeholt hatte. Kurze Zeit später jedoch verschlechterte sich plötzlich der Zustand von Herrn O. und etwa eine Stunde später verstarb er. Die Ehefrau blieb noch lange bei ihm und sagte mir, dass es ihr und auch sein größter Wunsch war, sie in diesem Moment bei sich zu haben. Sie bedankte sich ganz herzlich bei mir und sagte, dass es schlimm für sie gewesen wäre, wenn ich sie nicht angerufen hätte.
Ich war dann letztlich auch sehr froh, dass ich trotz allem auf mein Gefühl gehört habe. All das, die lange Zeit der intensiven Betreuung von Patient und Angehörigen, die vielen sehr persönlichen Gespräche und dann letztlich der Verlauf der letzten Stunden von Herrn O. haben mich berührt und beschäftigt. Es war für mich eine intensive Erfahrung sowohl innerhalb als auch außerhalb meines Berufes.“
Was braucht Intuition?
Anhand des Fallbeispiels werden mehrere Faktoren deutlich, die im Zusammenhang mit intuitivem Handeln zu erkennen sind.
Beziehung. Auffallend ist die Beziehung. Die Pflegende schreibt: „Ich war jeden Tag in diesem Zimmer, dadurch hatte ich insbesondere zur Ehefrau und dem Patienten eine relativ enge Beziehung. Wir haben sehr lange und offene Gespräche geführt und ich konnte spüren, wie betroffen und traurig, aber dennoch gefasst diese Familie mit dem Sterben des Patienten umging.“
Empathie. Wenn Menschen in Beziehungen sehr sensibel sind, können sie sich in andere einfühlen und nehmen eher wahr, was diesen Menschen wichtig ist. So ist anzunehmen, dass sie dadurch intuitiv wissen, was für den anderen Menschen Bedeutung hat und was dieser braucht. Zugrunde liegen das Einfühlungsvermögen und die Empathie. Aus dieser Quelle fließt intuitives Verstehen.
Selbstreflexion. Weiter reflektiert die Pflegefachperson sehr gründlich. Sie überlegt vor ihrer Entscheidung, was es mit diesem „komischen“ Gefühl auf sich hat. Sie bedenkt die Konsequenzen. Danach stimmt sie ihrem eigenen Handeln zu und erkennt es als richtig an. Sie weist damit ein hohes Maß an Selbstreflexion auf.
Mut. Das Umsetzen eines intuitiven Impulses erfordert Mut. Dem Mut zugrunde liegt die Angst. In Pflegesituationen ist es eher die Angst im sozialen Kontext, zum Beispiel: Die Kolleginnen und Kollegen könnten das abwerten, die Ärztinnen und Ärzte könnten das kritisieren. Mutige Entscheidungen entsprechen somit nicht der Routine oder den Normen einer Station. So kann intuitives Handeln als außergewöhnliches, mutiges Handeln bezeichnet werden.
Trotzdem erklärt es nicht, wie es zu diesem „komischen“ Gefühl kommt. Sicher bleibt es ein Geheimnis, sonst würden wir es nicht als Intuition benennen. Eben ein Gefühl, das weder rational noch sonst auf andere Weise zu begründen und gerade deshalb von hohem ethischen Wert ist.
Intuition als Kompetenz entwickeln
Intuition kann nicht direkt gelernt, sie kann jedoch entwickelt werden. Möchte man den Blick auf intuitive Kompetenz richten, so ist die erste Voraussetzung, dass die Bedeutung von Intuition erkannt wird. Erkennen und Bewusstwerden ist eine Grundlage der Entwicklung. Dazu gibt es verschiedene Wege, die im Individuellen, im Team oder als Herausforderung des Berufes an sich gesehen werden können. Das bedeutet zum Beispiel: Im persönlichen und beruflichen Alltag achtsam für Signale sein und diese mit vertrauten Personen besprechen. Dazu offen sein für Unbekanntes, auf die innere Stimme hören, vor allem wenn Entscheidungen anstehen. Im beruflichen Alltag könnte eine gemeinsame Aufgabe des Teams darin bestehen, zu ihrer Teamentwicklung auch die Intuition hinzuzunehmen.
Die Lehrenden in Aus-, Weiter- und Hochschulbildung könnten diesem Thema mehr Beachtung schenken, auf Literatur verweisen oder das Thema integrieren – in Ethik, Pflege- und Berufsverständnis sowie in Reflexionsrunden. Im Lernort Praxis könnte die Intuition thematisiert werden. Gerade in direkten Pflegesituationen wird intuitives Handeln sichtbar, vorausgesetzt, man richtet die Aufmerksamkeit darauf. Sonst bleibt vieles unbewusst. Kompetenzorientiertes Lernen heißt, das Potenzial des beruflichen Bewusstseins der Pflegenden zu entwickeln, auch hin zur Intuition [5].
Intuition in Lehre und Lernen integrieren
Intuitives Handeln gehört zum Alltag einer Pflegeperson. Sind sich die Pflegenden dessen bewusst, wächst auch ihr Bewusstsein für ganzheitliche Phänomene. In diesem Rahmen hat die Intuition als wirksame Kraft ihren Platz. Es gilt, ihr zukünftig mehr Bedeutung beizumessen, indem sie in Lehren und Lernen integriert wird. Das ist aktuell, denn im neuen Pflegeberufegesetz wird Kompetenzorientierung gefordert. Diese umfasst die Ausbildung aller Potenziale der Pflegeperson – geistige Potenziale wie die Intuition sind dabei eingeschlossen. Berufliche und persönliche Entwicklung führt zur Kompetenz als Ausdruck der Person in ihrer Gesamtheit. Sie dient damit der Professionalisierung in unserer immer komplexer werdenden Gesellschaft.
[1] Gigerenzer G. Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München: Pantheon; 2021
[2] Gonschior T. Auf den Spuren der Intuition. München: Herbig; 2013
[3] Janecke-Latteck ÄD. Intuition als Bestandteil pflegerischen Handelns in der ambulanten Pflege. Dissertation (unveröffentlicht); 2009
[4] Olbrich. C. Pflegekompetenz. 4. Aufl. Bern: Hogrefe; 2023
[5] Olbrich. C. Kompetenzbasiertes Lehren und Lernen. München: Elsevier; 2023