Viele kleine Bauernhöfe gehen am Preisdruck zugrunde. Landwirt Guido Pusch hat ein Gegenmittel gefunden: Auf seinem „Pflegebauernhof“ im Westerwald kombiniert er Landwirtschaft mit der Pflege älterer Menschen. Das funktioniert nicht nur wirtschaftlich sehr gut. Auch die Pflegenden und Senioren profitieren von dieser besonderen Arbeits- und Lebensform.
Sie war auf dem Hof geboren und aufgewachsen, hatte ihre Kinder dort großgezogen, ihren Enkeln beim Aufwachsen zugesehen. Nachdem sie ihr ganzes Leben dort verbracht hatte, wollte sie ihn am Ende nicht verlassen. Wollte auf dem Bauernhof, seit 1771 im Besitz der Familie, auch sterben.
Doch die kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb warf nicht genug ab, um Haus und Hof instand zu halten. Um den Wunsch seiner Oma dennoch erfüllen zu können, machte Landwirt Guido Pusch ihr einen Vorschlag: Sie könne ihre Wohnung im Erdgeschoss behalten, wenn das obere Stockwerk zu einer Senioren-WG umgebaut werden würde. Sie war einverstanden. Das war die Geburtsstunde des Pflegebauernhofs in Marienrachdorf im Westerwald, der bislang in Deutschland einzigartig ist. Familie Pusch renovierte den ersten Stock. Im Januar 2011 zogen die ersten Mitbewohnerinnen und Mitbewohner ein. Ein mobiler Pflegedienst kümmerte sich um die Seniorinnen und Senioren. Die Oma verbrachte bald mehr Zeit in der WG als in ihren eigenen vier Wänden. „Was soll ich allein in meiner Wohnung hocken, wenn über mir das Leben stattfindet“, sagte sie. Zwei Jahre konnte sie noch in Gesellschaft verbringen – dann starb sie, wie sie es sich gewünscht hatte, in ihrer vertrauten Umgebung.
Preisgekröntes „Pusch-Konzept“
Der Pflegebauernhof von Guido Pusch wuchs weiter. Mittlerweile werden 22 Menschen, verteilt auf drei Wohngemeinschaften, auf dem Hof betreut. Eine fünfköpfige Selbstversorger-WG bewohnt ein angrenzendes Gebäude, im Familienhaus und der ehemaligen Scheune leben 17 Personen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf. 2019 hat Bauer Pusch einen eigenen Pflegedienst gegründet; 18 Pflegende in Teil- und Vollzeit kümmern sich seither in drei Schichten um die Senioren. Der Eigenanteil für einen Pflegeplatz liegt bei circa 2.200 Euro.
Auch die Landwirtschaft lebt fort. Zwar funktioniert sie völlig unabhängig vom Pflegebetrieb, verhilft ihm aber zu seinem Alleinstellungsmerkmal: Die Bewohnerinnen und Bewohner können überall da, wo sie Lust haben, mit anpacken. „Das hat sich so ergeben“, erzählt Guido Pusch. Die Senioren seien zu ihm gekommen und hätten gefragt, ob sie mit in den Stall und aufs Feld kommen können. Insbesondere bei den Männern beliebt: Trecker fahren. Die Senioren helfen bei der Ernte, füttern die Schweine, misten aus oder reparieren Landmaschinen. Auch in der Küche fassen sie mit an: backen Apfelkuchen aus dem Obst, das sie gepflückt, oder Waffeln aus den Eiern, die sie morgens aufgelesen haben. „Die Menschen brauchen bei uns keine künstliche Bespaßung wie Bingo spielen. Sie erfüllen wichtige Aufgaben, fühlen sich gebraucht. Das macht sie glücklich“, sagt Guido Pusch. Sein „Pusch-Konzept“ wurde 2022 mit dem Deutschen Demografie-Preis ausgezeichnet, außerdem schaffte er es damit unter die Finalisten des Deutschen Nachhaltigkeitspreises.
Sein Bauernhof sei kein Streichelzoo, betont der Landwirt. Auf 30 Hektar bewirtschaftet er überwiegend Grün- und einige Ackerflächen. Daneben hält er Hühner und – jedes Jahr bis zum Martinstag – 20 Gänse. Eine Handvoll Schweine und vier Rinder. Drei Hasen, acht Wachteln, 109 Bienenvölker, Karpfen und Saiblinge in einem Angelteich – das klingt nach Urlaub auf dem Bauernhof, ist jedoch solide Nutztierhaltung. Honig und Fleisch werden verkauft oder direkt auf dem Hof verwertet. Einzig die sieben Alpakas dienen wie die zwei Katzen und der Hofhund möglicherweise eher therapeutischen denn wirtschaftlichen Zwecken. Allmorgendlich, wenn das Wetter mitspielt, macht sich eine kleine Karawane aus alten Menschen und wuscheligen Minikamelen auf den Weg durchs Dorf bis zur Weide, abends geht’s zurück in den Stall. Den Bewohnern, die zu krank oder zu schwach sind, um aufzustehen, bringt Guido Pusch auch mal ein Alpaka oder ein Huhn zum Streicheln ans Bett. „Es ist diese Ursprünglichkeit, die den Menschen gefällt“, mutmaßt der pflegende Bauer, „insbesondere der Umgang mit den Tieren, in denen viele Bewohner Freunde finden.“
Die Liste von Menschen, die auf diese Weise ihren Lebensabend verbringen wollen, ist lang. Zwischen zwei und drei Jahren müssen sie auf einen Platz warten. Manche kommen schon, bevor sie Pflege benötigen – das jüngste WG-Mitglied ist zurzeit 50 Jahre und lebt bei den Selbstversorgern. In den anderen Wohnungen sind alle Pflegegrade vertreten. Niemand muss ausziehen, wenn die Kräfte nachlassen. Ist die Zeit gekommen, für immer Abschied zu nehmen, versammelt sich die Gemeinschaft und begleitet ihren Mitbewohner oder ihre Mitbewohnerin auf dem letzten Weg. Ein Seelsorger aus dem Ort ist dabei und nach Bedarf auch ein ambulanter Palliativdienst.
Die Senioren auf dem Pflegebauernhof kommen aus allen sozialen Schichten; ein ehemaliger Landrat ist ebenso unter ihnen wie eine Psychologin oder ein Hilfsarbeiter, der als Knecht auf verschiedenen Höfen gearbeitet hat. Sie kommen längst nicht mehr nur aus dem Westerwald, sondern aus der gesamten Bundesrepublik. Und darüber hinaus: Kürzlich hat sich ein Ehepaar angemeldet, das vor Jahrzehnten nach Namibia ausgewandert ist, im Alter aber nach Deutschland zurückkehren möchte. Auf den Hof von Guido Pusch.
„Wir verändern das Bild von Altenpflege“
„Es erfüllt mich sehr, was wir hier machen“, sagt Philipp Diehl. Der 32-jährige Mann ist Pflegedienstleiter bei Guido Pusch. Vorher war er in einem Pflegeheim tätig, „aber da war Pflege nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte.“ Der Pflegebauernhof war ihm, da er aus der Region stammt, schon lange ein Begriff. Als er 2019 hörte, dass Guido Pusch einen eigenen Pflegedienst aufbaut, bewarb er sich sofort – „und ich hab den Jackpot geknackt“, sagt er und lacht. Die Zulassungsstelle meinte zwar: „Ihr werdet kein Personal finden, das so arbeiten möchte.“ Doch damit lag sie gründlich daneben. Der Pflegebauernhof veröffentlichte einen Facebook-Post – und das Pflegeteam war komplett. Immer wieder flattern Initiativbewerbungen ins Haus. „Wir verändern das Bild von der Altenpflege, das davon dominiert wird, dass nie genug Zeit für die Menschen da ist“, sagt der Pflegefachmann. 80 Prozent der Arbeit bestehen auch auf dem Bauernhof aus pflegerischen Leistungen. Doch die restliche Zeit können die Pflegekräfte individuell gestalten. Gehen mit den ihnen anvertrauten Senioren in den Stall, zum Angeln oder auf Alpaka-Wanderung, kochen und backen oder unterstützen diejenigen, die gärtnern möchten. Wie für die Bewohner gilt auch für sie: Alles kann, nichts muss. „Niemand muss in den Stall, der das nicht möchte“, betont Philipp Diehl.
Der Pflegeforscher Johannes Gräske bescheinigt dieser Form der individualisierten Pflege in einem überschaubaren Rahmen, dass sie einerseits den Pflegenden eine höhere Arbeitszufriedenheit und weniger Belastungssymptome beschert. Andererseits verhilft sie den Gepflegten zu einer besseren Lebensqualität. Gräske, Professor für Pflegewissenschaft an der Alice Salomon Hochschule in Berlin, ist einer der wenigen Experten in Deutschland, die sich wissenschaftlich mit dem Leben und Arbeiten auf einem Pflegebauernhof auseinandersetzen. Die Studienlage dazu sei bislang recht dünn, „doch Publikationen zum Green Care Farming aus Skandinavien und den Niederlanden zeigen, dass bei Bewohnern von Pflegebauernhöfen Apathie und Appetitlosigkeit deutlich seltener vorkommen als in anderen Betreuungseinrichtungen.“ Sie trinken mehr und benötigen oft auch weniger Medikamente, etwa gegen Unruhezustände. „Das mag daran liegen, dass sie sich nicht als reine Pflegeempfänger empfinden, sondern etwas zur Gemeinschaft beitragen“, vermutet der Forscher.
Philipp Diehl kann dies aus seinen eigenen Beobachtungen bestätigen. Einer der Bewohner des Pflegebauernhofs, der schwer an Parkinson erkrankt ist, konnte bei seinem Einzug nur am Rollator laufen. Mittlerweile lässt er die Gehhilfe stehen und läuft allein – so gut tut ihm die regelmäßige Bewegung mit den Alpakas. Eine an Demenz erkrankte Frau findet Ruhe bei einem Schwein namens Miss Piggy oder beim Eiersuchen und braucht dann weniger Tabletten. „Der Medizinische Dienst staunt immer, wie wenig Bedarfsmedikamente wir benötigen“, erzählt Diehl.
Hinter Bullerbü steckt harte Arbeit
So zu pflegen, erfordert besonderes Engagement, sagt Johannes Gräske, das sei nicht jedermanns Sache. Bestes Beispiel ist die Familie Pusch selbst. Alle machen mit: Die Mutter von Guido Pusch kocht mit den Senioren, seine Ehefrau Alexandra arbeitet nicht mehr als Versicherungskauffrau, sondern als Betreuerin auf dem Hof, die gemeinsame Tochter Samira absolviert im Pflegedienst eine Ausbildung zur Pflegefachfrau.
Fakt ist: Eine kleine Landwirtschaft wie die von Guido Pusch hat es heutzutage schwer. Sie mit einem Pflegeangebot zu verbinden, könnte ihre Rettung sein – ganz ohne Massentierhaltung. Das Interesse am Pusch-Konzept ist entsprechend groß. 2019 besichtigte sogar eine Delegation aus Japan den Hof, im Anschluss stellte Pusch seine Erfolgsgeschichte per Videocall bei einem Kongress im Land der aufgehenden Sonne vor. Nach Hunderten von Gesprächen mit anderen Landwirten bieten Guido Pusch und Philipp Diehl seit 2021 fachkundige Beratung rund um den „Zukunft Pflegebauernhof“ an. Sie begleiten andere Bauern, die ihren landwirtschaftlichen Betrieb zu einem Pflegebauernhof umrüsten möchten. Geben Tipps, worauf es beim Umbau ankommt, was die Behörden verlangen oder wo es Fördergelder gibt. Sechs Agrarbetriebe sind derzeit in der Transformation zum Pflegebauernhof, 15 weitere feilen gerade an einem Konzept. Ob sich diese Pflegeform flächendeckend durchsetzen wird, ist fraglich. Johannes Gräske glaubt nicht daran. „Aber sie kann eine Alternative und Ergänzung zu anderen Einrichtungen sein“, sagt der Pflegewissenschaftler. Unbestreitbar ist, dass die Plätze gebraucht werden.
Guido Pusch will seine Idee deshalb noch größer machen. 2024 beginnt der Bau eines neuen, größeren Pflegebauernhofs in Marienrachdorf. Die Entwurfszeichnung zeigt mehrere Wohnhäuser, Stallungen, ein Hotel. Was einst als WG für seine Großmutter begann, soll ein Vorzeigeprojekt für eine mögliche Zukunft der Pflege werden. Seine Vision ist bestechend einfach: „Ich wünsche mir Pflegeeinrichtungen, in denen ich mich selbst gern pflegen lassen würde, wenn ich alt bin.“