• 29.10.2020
  • Praxis
Digitalisierung in der Pflege

Auf dem Weg in die Zukunft

Intelligente Pflegebetten oder digitale Dienstplangestaltung: Zahlreiche Projekte erkunden derzeit den Einsatz neuer Technologien in der Pflege.

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 11/2020

Seite 4

Virtuelle Pausenräume, intelligente Pflegebetten, digitale Dienstplangestaltung oder Desinfektionsroboter: Zahlreiche Projekte erkunden derzeit den Einsatz neuer Technologien in der Pflege. Die Autorinnen haben 30 dieser Projekte zur Digitalisierung pflegerischer Arbeitsprozesse und deren Anwendungsgebiete analysiert. 

Der Einsatz technischer Arbeitsmittel wurde bereits im frühen 20. Jahrhundert mit der Entwicklung zahlreicher medizintechnischer Geräte – wie etwa des Elektrokardiogramms oder der „Eisernen Lunge“ – Gegenstand lebhafter Diskussionen. Mit der im Zuge der Digitalisierung der Arbeitswelt vorangetriebenen Entwicklung moderner Pflegetechnologien gewinnt das Spannungsfeld zwischen Pflege und Technologie nun neuerlich an Kontur.

Mit Hoffnungen wachsen auch Erwartungen

Pflegende und Pflegeeinrichtungen haben die Hoffnung, dass die neuen Technologien zu einer Entlastung führen: Im anforderungsreichen Arbeitsalltag sollen sie nicht allein Effizienz­reserven heben, sondern etwa durch eine intelligente Pflegedokumentation oder den digitalen Datenaustausch mit Kolleginnen und Kollegen Arbeitserleichterungen mit sich bringen. Pflegende wünschen sich mehr Zeit für zwischenmenschliche Zuwendung in der Pflegearbeit und Leitungskräfte versprechen sich vom Einsatz moderner Technologien, ihre Einrichtungen auch für den pflegerischen Nachwuchs attraktiver zu machen. Nicht zuletzt wird damit zudem die Hoffnung verbunden, die demografischen Herausforderungen in der Pflege ein Stück weit besser bewältigen zu können [1].

Mit den Hoffnungen wachsen auch die Erwartungen – z. B. dass sich Auswahl, Entwicklung und Implementierung moderner Pflegetechnologien an den Anforderungen des Pflegealltags und den Bedürfnissen der Pflegenden und Pflegebedürftigen orientieren. Pflegende fordern – in der Sprache der In­novationsforschung – eine Entwicklung im Sinne eines Demand Pull, bei dem der Bedarf der Anwenderinnen und Anwender im Vordergrund steht, anstelle eines Technology Push, einer häufig von ökonomischen Interessen geleiteten Orientierung am Machbaren [2].

Die Frage, ob diese und weitere Erwartungen erfüllt werden können und ob die am Horizont erscheinenden neuen Technologien für Pflegende und Pflegebedürftige als Fluch, Segen oder etwas zwischen beidem zu betrachten sind, lässt sich pauschal und ohne Kenntnis der in der Technologieerprobung gemachten Erfahrungen nicht beantworten. Ein erster Schritt in Richtung einer Antwort auf diese Frage ist zweifelsfrei, Transparenz in die Landschaft der derzeit in Entwicklung stehenden modernen Pflegetechnologien zu bringen. Allein in den vergangenen fünf Jahren wurden zahlreiche, nicht selten mit Millionen Euro dotierte Forschungsförderungen im Themenfeld „Pflege und Digitalisierung“ vergeben und vielfältige Befragungen, Szenario-Workshops oder Expertinnen- und Expertenrunden initiiert.

Förderung digitaler Lösungen

Um das Potenzial für Verbesserungen auszuschöpfen, sind Technologien, die die Pflegearbeit unterstützen sollen, in der Praxis zu erproben, zu evaluieren und u. U. anzupassen. Mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) ermutigt die Bundesregierung ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen zu einem solchen Erproben. Noch bis Dezember 2021 können sie einen einmaligen Zuschuss für digitale Anwendungen beantragen (bis zu 40 % der verausgabten Mittel, max. 12.000 Euro). Förderfähig sind Anwendungen in den Bereichen:

  • Pflegedokumentation,
  • Dienst- und Tourenplanung,
  • internes Qualitätsmanagement und Erhebung von Qualitätsindikatoren,
  • Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie stationären Pflegeeinrichtungen,
  • elektronische Abrechnung pflegerischer Leistungen nach § 105 SGB XI und
  • Aus-, Fort-, Weiterbildungen oder Schulungen zu digitaler oder technischer Ausrüstung.

Eine Voraussetzung für die Förderung ist, dass die Entlastung der Pflegenden Hauptzweck der Anschaffung ist [3]. Aus arbeitswissenschaftlicher Perspektive sollten Anforderungen so ausgeprägt sein, dass die Aufgaben gut, d. h. ohne Überforderung, erledigt werden können. Die neuen Anwendungen bieten in diesem Zusammenhang die Chance, einen Beitrag zu Verbesserungen in den Bereichen Arbeitstempo, Tätigkeitsspielraum und Zusammenarbeit zu leisten sowie die mit der pflegerischen Tätigkeit einhergehenden körperlichen und emotionalen Anstrengungen zu verringern. Auf diese Weise können die neuen Technologien auch den Erhalt oder die Verbesserung der Gesundheit Pflegender unterstützen. Beide Aspekte – Arbeitsbedingungen und Gesundheit – stehen in engem Zusammenhang und sind wünschenswerte Ziele für die Digitalisierung in der Pflege. Die neuen Technologien wären dann gleichsam eine Triebfeder guter Arbeit in der Pflege. Die Förderprojekte werden daher danach betrachtet,

  • für welche Zielgruppen welche Technologien erprobt werden,
  • welche Ziele mit dem Technologieeinsatz verfolgt werden,
  • inwiefern Pflegende in die Projektarbeit einbezogen sind,
  • inwieweit die Technikauswahl einem nachgewiesenen Bedarf folgt und
  • ob die Verbesserung der arbeitsbezogenen Gesundheit der Pflegenden in den Zielbeschreibungen der Projekte eine Rolle spielt.

Projekte im Bereich Pflege und Digitalisierung

Die diesem Beitrag zugrunde liegende Recherche zu 30 Projekten im Bereich Pflege und Digitalisierung ist Teil eines Forschungsvor­habens der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) [4]. Nach einem Screening nationaler Institutionen, die Projekte im Bereich Digitalisierung fördern, haben wir all jene Vorhaben (Textkasten: Förderprojekte zur Digitalisierung in der Pflege) aufgenommen, die

  • im Zeitraum Januar 2016 bis März 2020 begonnen haben,
  • professionell Pflegende als Zielgruppe benennen und
  • auf die Entwicklung oder Erprobung neuer Technologien für die Pflege fokussieren.

Für die Analyse haben wir ausschließlich Projekte untersucht, in denen professionell Pflegende als Zielgruppe benannt werden (Abb. 1). Die drei pflegerischen Versorgungsbereiche – stationäre Altenpflege, stationäre Krankenpflege und ambulante Pflege – sind in den Förderprojekten annähernd gleich häufig vertreten.

Von virtuellen Pausenräumen und digitalen Tourenbegleitern. Mit dem Begriff „digitalisierte Pflege“ werden oftmals humanoide Roboter assoziiert, die die Pflegebedürftigen versorgen und das Pflegepersonal gänzlich ersetzen könnten. Unsere Analyse zeichnet jedoch ein an­deres Bild: Lediglich 20 % der untersuchten Projekte forschen zu Robotik und kein einziges entwickelt humanoide Modelle. Vielmehr erprob(t)en 30 bzw. 40 % der Projekte physische bzw. kognitive Assistenzsysteme und 37 % Informations- und Kommunikationstechno­logien. Diese Technologien sollen Pflegende unterstützen, ohne sie zu ersetzen.

So zielen Exoskelette darauf, die physische Belastung der Pflegenden bei Bewegungen immobiler oder mobilitätseingeschränkter Patientinnen und Patienten zu mindern; kognitive Assistenzsysteme sollen dabei helfen, kom­plexe Informationen im Pflegeprozess zu kanalisieren oder Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund durch mehrsprachige Kommunikations-Apps eine bessere Versorgung zu ermöglichen. Andere Projekte er­proben das Potenzial von „Virtual Reality“, indem sie z. B. virtuelle Pausenorte schaffen oder auch digitale Tourenbegleiter, die Pflegende an passender Stelle darauf hinweisen, eine Pause einzulegen. In jenen Projekten, in denen Informations- und Kommunikationstechnologien zum Einsatz kommen, wird u. a. eine kollaborative Diensteplattform entwickelt, mit deren Hilfe Pflegende ihren Dienstplan gemeinsam gestalten können.

Belastungsoptimierung und andere Ziele. Weil Krankenhäuser, stationäre Altenpflegeeinrichtungen und ambulante Dienste einem starken finanziellen Druck ausgesetzt sind, wäre zu erwarten, dass in vielen Projekten Effizienzsteigerungen ein Hauptmotivator für den Technologieeinsatz darstellen. Entgegen dieser Annahme gab es jedoch kein einziges Projekt, in dem dies als primäres Ziel angegeben wurde. Vielmehr tragen die untersuchten Projekte dem Pflegestärkungsgesetz Rechnung; überwiegend wollen sie die pflegerische Versorgung (50 %) und den pflegerischen Prozess (47 %) optimieren und/oder die arbeitsbedingte psychische Belastung (47 %) reduzieren. So werden in einem Projekt z. B. Technologien erprobt, die zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben beitragen sollen. Auch die Optimierung physischer Belastung und die Kompetenzentwicklung schreibt sich so manches Projekt auf die Fahnen. Ein Projekt modelliert pflegerische Prozesse, um darauf aufbauend Auszubildenden mittels Sprachausgabe und Display Rückmeldungen zu ihrem Lernfortschritt zu geben. Die Verbesserung der arbeitsbezogenen Gesundheit der Pflegenden wird schließlich von 30 % der Projekte in den Zielbeschreibungen genannt.

Sicherheit und Gesundheit in der digitalen Arbeitswelt

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Sicherheit und Gesundheit in der digitalen Arbeitswelt“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (www.baua.de/digitale-arbeit). Die menschengerechte Gestaltung der Arbeit steht dabei im Fokus. Dieses Programm nimmt neue Gestaltungsspielräume infolge der Digitalisierung genauso in den Blick wie damit eventuell verbundene Chancen und Risiken für die Erwerbstätigen. Auch jene Anforderungen, die sich aus der Digitalisierung für den betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitsschutz ergeben, werden untersucht.

Einbeziehung der Praxisperspektive. Die Technologieentwicklung sollte eng an den Arbeitsprozessen der künftigen Anwenderinnen und Anwender ausgerichtet sein, um Pflegende entlasten zu können. Eine Voraussetzung dafür ist eine frühzeitige Beteiligung der Pflegenden [5]. Aus diesem Grund haben wir die Art und den Zeitpunkt der Einbindung von Praxispartnerinnen und -partner in den Projekten untersucht und gefragt, ob der Technologieerprobung eine Bedarfserhebung vorausging.

Erfreulich ist, dass in allen Projekten Praxispartnerinnen und -partner aus der Pflege eingebunden waren. In der Mehrzahl der Projekte betraf dies die Phase der Implementierung, d. h. die Technikerprobung direkt vor Ort. In gut einem Drittel der Projekte waren die Pflegenden schon bei der Entwicklung der Technologie beteiligt – und zwar insbesondere dann, wenn es das Ziel war, die physische Belastung zu optimieren.

Darüber erfolgten bei der Hälfte der Projekte Anforderungsanalysen – v. a. bei jenen, die auf eine Optimierung arbeitsbedingter Belastung zielen. Die Anforderungsanalysen selbst wurden ganz unterschiedlich umgesetzt und reichten von Szenario-Workshops über Exper­tinnen- und Experteninterviews bis hin zu Methoden aus dem Design Thinking, wie der Wall-Walk-Methode, bei der in einem iterativen, interdisziplinären Prozess Daten zusammengetragen und Ideen entwickelt werden. Ein Teil der Förderprojekte begründete die Technologiewahl ferner durch andere Indikatoren wie klinische Forschungsbefunde.

Die für diesen Beitrag recherchierten 30 Projekte sind Wegbereiter für die Digitalisierung in der Pflege und lassen erahnen, wie moderne Technologien die Pflegearbeit verändern könnten. Dieser Beitrag soll Pflegende dazu ermu­tigen, diesen Weg ein Stück weit mitzugehen, sich über die neuesten Entwicklungen zu informieren und ein Erproben digitaler Anwendungen zu wagen. Das PpSG setzt hierfür finanzielle Anreize, die Ergebnisse und Erfahrungen aus den Projekten steuern Informationen und Anregungen für die konkrete Umsetzung bei.

Die Mehrheit der Förderprojekte folgt der Intention, die pflegerische Versorgung zu verbessern und den Arbeitsalltag zu erleichtern. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht ist hier­für entscheidend, inwiefern der Technolo­gieeinsatz die menschengerechte Gestaltung von Arbeit unterstützt. Dafür ist eine Technikentwicklung und -implementierung erforderlich, die sich kontinuierlich an Bedarfen der pflegerischen Praxis orientiert und Pflegende einbezieht. Die Analyse tätigkeitsbezogener Anforderungen und die direkte Beteiligung Pflegender sind wichtige Schritte in diese Richtung.

[1] Braeseke G, Pflug-Thorsten C, Tisch T. et al. Abschlussbericht zur Umfrage zum Technikeinsatz in Pflegeeinrichtungen (UTiP). Sachbericht für das Bundesministerium für Gesundheit; 2020

[2] Decker M. & Weinberger N. Was sollen wir wollen – Möglichkeiten und Grenzen der bedarfsorientierten Technikentwicklung. Technische Unterstützungssysteme; 2015: 19–29

[3] Richtlinien des GKV-Spitzenverbands nach § 8 Abs. 8 SGB XI zur Förderung der Digitalisierung in stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen; 2019. Im Internet: www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/pflegeversicherung/ finanzierungs_foerderungsmassnahmen/190502_Pflege_ RiLi_8Abs8_SGBXI_Digitalisierung.pdf

[4] Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin; 2020. Im Internet: www.baua.de/dok/8824734

[5] Hochmuth A, Exner A, Dockweiler C. Implementierung und partizipative Gestaltung digitaler Gesundheitsinterventionen. Bundesgesundheitsblatt 63; 2020: 145–152

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