Vor 20 Jahren eröffnete die Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte. Seither bietet sie chronisch kranken Patienten wissenschaftlich fundierte alternative Behandlungskonzepte.
Wenn Krankenpfleger Jallal Al-Abtah den Medikamentenschrank seiner Station öffnet, findet er ungewöhnliche Wirkstoffe. Hier stehen nicht Diclofenac, Atosil, Rhytmonorm und ähnliche Präparate in der ersten Reihe, sondern Gingium, Myrthe, Mutterkraut und Angocin und andere Wirkstoffe aus der Natur. Auch der Therapieplan seiner Patienten unterscheidet sich deutlich von dem anderer Kliniken. Statt Infusionen, Injektionen und Tabletten sind hier vor allem Wickel, Auflagen, Kneipp-Bäder, Nordic Walking und Schröpfmassagen an der Tagesordnung. Sogar Blutegel kommen zum Einsatz. Aber nur vor dem Wochenende, denn sonst stört die Nachblutung bei den anderen Therapien.
Im Stationszimmer zeigt Al-Abtah eine Schüssel mit Senfmehl. Das brauchen die Pflegekräfte zum Beispiel für Auflagen bei Nasennebenhöhlenentzündungen. „Dabei müssen wir sehr vorsichtig sein“, erklärt der Pfleger, „wenn sie zu lange auf der Haut bleiben, können Sie Verbrennungen verursachen.“
Grenzen der Schulmedizin
Al-Abtah leitet den stationären Bereich der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte. 54 Betten umfasst seine Station. Bei ihm liegen vorwiegend Patienten, die bereits unzählige andere Klinikaufenthalte hinter sich gebracht haben. „Die Schulmedizin stößt bei Menschen mit chronischen Krankheiten wie Rheuma oder auch Migräne oft an ihre Grenzen“, erzählt er. Die meisten seiner Patienten kämen mit einer langen Liste an Medikamenten. In vielen Fällen würden sie diese schon seit vielen Jahren einnehmen, ohne dass sie ihre Beschwerden noch ausreichend linderten.
Das Team der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin hat das Ziel, diese Medikamente möglichst zu reduzieren und ihren Patienten neue Wege ohne schädliche Nebenwirkungen aufzuzeigen. „Das ist für sie eine große Umstellung, wenn sie auf einmal bei akuten Beschwerden keine Tablette bekommen, sondern zum Beispiel eine Lavendel-Herz-Auflage oder eine Schröpfmassage“, so der Stationsleiter.
Alle Therapien sind evidenzbasiert
Nicht nur die Patienten müssen sich umstellen, sondern auch die Pflegekräfte. „Wer hier arbeiten will, muss von unserem Konzept überzeugt sein“, erzählt Annette Aldick, Pflegedirektorin der Klinik. Um das zu unterstützen, gehen die Mitarbeiter streng wissenschaftlich vor. Alle angewendeten Therapien sind in ihrer Wirkung durch Studien belegt. Fehlen solche Untersuchungen, führt die Klinik sie selbst durch. „Dafür haben wir eine eigene Forschungsabteilung“, so Aldick. Eine solche Studie ist die 2016 veröffentlichte Untersuchung über die Wirksamkeit von Kohlauflagen, bei der die damit behandelten Patienten über deutlich weniger Schmerzen berichteten als diejenigen mit einer herkömmlichen Therapie.
Neben dem stationären Bereich gibt es noch eine Ambulanz für Traditionelle Chinesische und eine für Traditionelle Indische Medizin. Hier bekommen die Patienten über ihren stationären Aufenthalt hinaus weitere Unterstützung. Für einen langfristigen Erfolg spielen die sogenannte Mind Body Medizin und Ordnungstherapie eine wichtige Rolle. Beide unterstützen einen gesunden Lebensstil mit ausgewogener Ernährung und regelmäßiger Bewegung. „Viele unserer Patienten haben Nahrungsmittelunverträglichkeiten“, sagt Al-Abtah. In der Klinik steht den Patienten daher bei den Mahlzeiten speziell geschultes Personal für Fragen zur Seite. Wer will, kann während seines Aufenthaltes schon Diät halten. Das sogenannte Heilfasten nach Buchinger basiert ausschließlich auf flüssiger Kost mit Gemüsebrühe, Säften und verschiedenen Tees.
„Unser Ziel ist, den Patienten Wege zu zeigen, die auch zu Hause für sie gangbar sind“, sagt Al-Abtah. Eine wesentliche Aufgabe der Pflegekräfte der Klinik ist daher, die Patienten in den entsprechenden Anwendungen anzulernen und darin zu schulen, einen gesundheitsfördernden Lebensstil zu entwickeln.
Rund 30 examinierte Krankenpflegekräfte arbeiten hier eng zusammen mit Ärzten, Ordnungs- und Physiotherapeuten sowie Ernährungsspezialisten. Die meisten Pflegekräfte haben eine zusätzliche Ausbildung als Heilpraktiker. Neben dem Knowhow in den naturheilkundlichen Anwendungen brauchen sie laut Annette Aldick vor allem Empathie und Geduld. „Die Frustrationstoleranz ist bei chronisch kranken Menschen oft sehr niedrig“, ergänzt Al-Abtah.
Seit fast 20 Jahren gibt es die Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Essen-Mitte nun bereits. „Dennoch ist das Konzept relativ einzigartig“, so die Pflegedirektorin, „wir bekommen fortwährend Anfragen von anderen Kliniken für Hospitationen von Pflegenden.“ Die Patienten kämen aus dem ganzen Bundesgebiet, und es gebe eine Wartezeit von mehreren Wochen. Weil sich das Konzept so gut etabliert hat, bringen die Mitarbeiter schon seit einiger Zeit ihre naturheilkundlichen Betrachtungen auch in anderen Kliniken ein. Dort schulen sie etwa onkologische Pflegekräfte.