Insbesondere Pflegende, die schon lange im Beruf sind, werden dieser Aussage zustimmen: Waren Angehörige zu Beginn der 1990er-Jahre noch dankbar, zurückhaltend und kooperativ, werden sie heute von vielen Pflegenden als fordernd, kontrollierend und dominant empfunden. Warum ist das so – und wie mit „schwierigen“ Angehörigen umgehen?
Auch wenn es vielen Mitarbeitern in der Pflege nicht passt: Pflegerische Arbeit wird öffentlich zunehmend als Dienstleistung wahrgenommen. War Pflege in früheren Jahren eher fachliche Krankensorge plus christliche Nächstenliebe, also „Pflege mit Herz und Berufung“, so ist sie heute eine Arbeit mit einem klaren ökonomischen Äquivalent. Damit wird sie vergleichbar mit vielen anderen Dienstleistungsberufen. Angehörige verhalten sich entsprechend dieser Veränderung, indem sie zunehmend:
- selbstbewusster sind und auch so auftreten,
- mehr informiert werden möchten,
- mehr informiert sind,
- ihre Kundenrolle bewusst ausleben,
- zunehmend kritische Fragen stellen,
- selbstbewusst und selbstverständlich den Beschwerdeweg nutzen.
Gerade aus dem Grund, dass Angehörige zunehmend in die Kundenrolle wechseln, haben sie eine „mächtigere“ Position den Pflegekräften gegenüber. Stellvertretend für den Pflegebedürftigen wählen sie nämlich die Dienstleistung aus, zum Beispiel das Pflegeheim oder den Pflegedienst. Sie kennen den Beschwerdeweg, den sie auch nutzen. Im Vorfeld haben sie sich ausgiebig informiert, was sie von der Pflege erwarten können und sie sind den Pflegemitarbeitern moralisch überlegen.
Angehöriger hat mächtige Position
Ob in einem Krankenhaus oder Pflegeheim: Ein Patient oder Bewohner ist in einer schwachen und abhängigen Position. Er kann oftmals seine Bedürfnisse nicht angemessen äußern und vertreten, weil er zu schwach hierfür ist oder weil ihm schlicht und einfach die verbale Sprache nicht mehr zur Verfügung steht. Dies kann bei einer Bewusstseinseinschränkung, einer Aphasie aufgrund eines Schlaganfalls oder noch gravierender bei einer Demenz der Fall sein.
Hier springt nun der Angehörige in diese Rolle, in dem er sich zum „Anwalt“ des zu Pflegenden macht. Die Anwaltsposition ist eine moralische überlegene Rolle, da der Angehörige diese selbstlos und aufopfernd einnimmt. Eine gleichwertig moralische Position – quasi auf Augenhöhe – können die Mitarbeiter der Pflege nicht vorhalten. Hier kann nur ein „Dienstleistungsethos“ entgegengehalten werden. In Konfliktfällen ist ein Angehöriger gegenüber dem Mitarbeiter in einer ethisch mächtigeren Position. Diese wird noch mächtiger, wenn die ethische Position sich mit der Kundenrolle verbindet.
Ein reales Praxisbeispiel aus einem Krankenhaus soll helfen, diesen Sachverhalt zu verdeutlichen: Frau Braun besucht ihre alte Mutter im Krankenhaus. Diese ist zu Hause gestürzt und hat einen Oberschenkelhalsbruch erlitten. Als Frau Braun das Patientenzimmer ihrer Mutter betritt, sieht sie, dass ihre Mutter nichts mehr zu trinken hat. Die Mineralwasserflasche auf dem Nachtschrank ist leer. Nach Auskunft der Mutter hat diese schon mehrmals deswegen geschellt, aber bisher habe noch niemand vom Personal darauf reagiert. Aufgebracht stürmt Frau Braun in das Dienstzimmer, in dem mehrere Pflegemitarbeiter gerade zusammenstehen. Sofort poltert sie los: „Was ist das denn hier für eine Schlamperei? Meine Mutter hat schon ewig nichts mehr zu trinken bekommen. Haben Sie Ihr Examen im Lotto gewonnen? Ich verlange, sofort den zuständigen Arzt zu sprechen! In diesem Krankenhaus waren wir zum letzten Mal“.
Was ist hier passiert? Warum hat Frau Braun das gefühlte „Recht“, so mit den Mitarbeitern sprechen zu können? Im Praxisbeispiel erleben wir eine Tochter, die sich für ihre alte Mutter einsetzt, da die alte Dame ihre Belange gegenüber den Mitarbeitern nicht selber vertreten kann. Zudem sind viele alte Menschen sehr obrigkeitshörig, sodass sie sich in ihr Schicksal fügen.
Hier übernimmt jetzt die Tochter diese Rolle. Sie macht sich zum Anwalt, also zum Fürsprecher ihrer Mutter. Damit nimmt sie eine moralische Position ein. Da sie einen Fehler der Mitarbeiter vermutet, überspringt sie mehrere Stufen im Beschwerdewesen. Zudem nutzt sie ihre Kundenrolle, indem sie darauf verweist, dass sie beim nächsten Mal ein anderes Krankenhaus wählen wird. Indirekt droht sie also damit, die ökonomische Basis des Krankenhauses zu schwächen. Damit nimmt sie gleichzeitig auch eine ökonomische Position ein.
Tipps für den Umgang mit „schwierigen“ Angehörigen
- Es muss eine früh einsetzende, strukturierte Angehörigenarbeit angeboten werden: Sorgen der Angehörigen werden gezielt erfragt, das Schulderleben erhoben und Verständnis für die Sichtweise der Angehörigen entwickelt.
- Der Angehörige muss als „Patient zweiter Ordnung“ – dieser Begriff stammt aus der Palliative Care – gesehen werden, da er ebenfalls einen Unterstützungsbedarf hat.
- Angehörige wollen für ihre schwere Aufgabe endlich einmal gelobt werden. Oftmals haben sie spontan „vorübergehend“ die Pflegerolle angenommen. Diese dauert dann allerdings in den meisten Fällen viele Jahre. Von der Familie erhalten pflegende Angehörige keine Anerkennung und kein Lob. Deshalb ist es so wichtig, dass Mitarbeiter der Pflege und Betreuung diese Anerkennung aussprechen.
- Angehörige sind ebenfalls Experten! Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Mitarbeiter der Pflege mit Angehörigen in eine Konkurrenzsituation einsteigen – „Ich habe Examen!“ versus „Ich kenne meine Mutter aber 60 Jahre!“ Hier sollte unbedingt die Kooperation gesucht werden, zum Beispiel indem Mitarbeiter bei Angehörigen nachfragen, welche Erfahrungen sie in der häuslichen Situation gesammelt haben.
- Hierzu gehört auch, dass Pflegemitarbeiter ihr Wissen mit Angehörigen teilen, zum Beispiel über Tipps, wie einzelne Handlings im Umgang mit dem Betroffenen ausgeführt werden können. Hierbei sollten Mitarbeiter sich ruhig einmal auf die Finger schauen lassen und ihr Handeln erläutern. Das vermittelt dem Angehörigen Wertschätzung.
- Die Einrichtung sollte realistische Hilfen anbieten, indem verständliches Informationsmaterial angeboten und örtliche Selbsthilfegruppen vermitteln werden.
- Vor dem „schwierigen“ Angehörigen nicht weglaufen, sondern auf ihn zugehen und gezielt nach seinen Bedürfnissen fragen.
- Angehörige müssen auch als Kunden gesehen und wahrgenommen werden.
Das Elend in der häuslichen Versorgung
Wechselt ein Pflegebedürftiger aus dem häuslichen Bereich in ein Krankenhaus oder eine stationäre Pflegeeinrichtung, ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, aus welcher Lebenssituation der Angehörige diesen Wechsel miterlebt, nämlich:
- Der Angehörige ist zu Beginn der häuslichen Pflege-situation meistens unvorbereitet in die Helferrolle geraten.
- Die häusliche Pflegesituation dauert dann aber im Schnitt 6,7 Jahre.
- Pflegende Angehörige sind selbst schon älter und unterstützungsbedürftig.
- Die Pflege wird neben der übrigen Alltags- und Berufstätigkeit unter erheblichen zeitlichen, physischen und psychischen Aufwendungen geleistet.
- Pflegende Angehörige kommen zunehmend in eine gesellschaftliche Isolation, da Bekannte, Nachbarn und Freunde sich abwenden.
- Pflegende Angehörige erbringen Leistungen der Grund- und Behandlungspflege, die eigentlich einer Fachausbildung bedürfen.
- Nur in 30 Prozent der häuslichen Pflegesituationen wird ein Pflegedienst einbezogen.
- Die Pflege wird unter unzureichenden räumlichen und technischen Bedingungen geleistet.
- Pflegende Angehörige geraten in eine völlige Vereinnahmung durch den Pflegebedürftigen. Selbst wenn sie einmal kurzfristig die Situation verlassen können, sind sie doch gedanklich ständig an den zu Pflegenden gebunden.
- Angehörige befinden sich in ständiger Sorge, ob sie den Anforderungen auf Dauer gewachsen sind. Hieraus entsteht eine dauerhafte Überforderungssituation.
- Rollenmuster lösen sich auf, zum Beispiel bei Demenz („Wenn Eltern zu Kindern werden und doch die Eltern bleiben“).
- Die dauerhafte Erschöpfung führt zu einem erhöhten Gewaltpotenzial, was das Schulderleben zusätzlich vergrößert.
- Beziehungen zu weiteren Familienmitgliedern geraten zunehmend in eine Krise, sodass Familien zunehmend unter der Pflegesituation zerbrechen.
- Es ist keine Gratifikation für die häusliche Situation zu erwarten.
- „Licht am Horizont“ ist der Tod des zu Pflegenden, was der pflegende Angehörige sich aber nicht wünschen „darf“.
Diese Aspekte verdeutlichen, dass pflegende Angehörige im häuslichen Bereich maximal überfordert sind. Wird jetzt zum Beispiel ein Wechsel in den stationären Pflegebereich erwogen, ist das eine Entscheidung, die aus einer „Situation des Scheiterns“ heraus gefällt wird. Das wiederum macht Frustration, die sich dann in Konflikten mit Mitarbeitern der Pflege auslebt. Auch im Krankenhaus potenziert sich diese Frustration, wenn plötzlich ein akutes Ereignis, etwa ein Sturz, zusätzlich eintritt.
Angehörige wertschätzen
Viele pflegende Angehörige sind völlig erschöpft und ausgebrannt. Daher ist es auch kein Wunder, dass bei ihnen wesentlich häufiger Depressionen vorliegen als bei der gleichaltrigen nicht-pflegenden Bevölkerung. Zudem erhalten sie kaum Anerkennung für ihren „24-Stunden-sieben-Tage-in-der-Woche-Job“ – insbesondere, da Frauen meistens diese Rolle übernehmen. Pflegende Männer hingegen bekommen wesentlich mehr Anerkennung für diese Familienarbeit – „Ist ja nur ein Mann; dass der das trotzdem macht!“
Auch wenn Einrichtungen ihre Angehörigenarbeit in keiner Weise refinanziert bekommen, müssen sie durch ein fachliches Angebot, etwa durch einen Angehörigen-Beauftragten, auf diese veränderte Angehörigenhaltung reagieren. Wenn nicht, unterstützen sie die Entwicklung von „schwierigen“ Angehörigen.