Die Wahrscheinlichkeit, als Pflegeperson auf einen Patienten mit HIV zu stoßen, steigt. Denn aufgrund der verbesserten Therapiemöglichkeiten werden die Betroffenen immer älter. Zudem nimmt die Zahl der Neuinfektionen leicht zu. Ziel muss es sein, dass die Versorgung von Patienten mit HIV Normalität wird. Dafür sind Schulungen und Aufklärung nötig.
Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Sie mit dem HI-Virus infiziert sind – so oder so ähnlich haben auch im Jahr 2016 rund 3.100 Menschen in Deutschland von ihrer Diagnose erfahren.
Dies ist für die Betroffenen meist ein großer Schock, doch grundsätzlich ist eine HIV-Infektion heute kein Grund mehr zur Panik. Die therapeutischen Möglichkeiten haben sich in den vergangenen 22 Jahren – seit Beginn der antiretroviralen Therapie – deutlich verbessert. Die Lebenssituation für die Betroffenen hat sich zumindest medizinisch weitestgehend normalisiert.
Die gute Botschaft lautet: Wer seine HIV-Medikamente regelmäßig nimmt und mindestens ein Jahr unter der Nachweisgrenze ist, kann andere Personen nicht mehr anstecken. Eine Heilung ist nach wie vor nicht möglich, die Betroffenen haben aber eine normale durchschnittliche Lebenserwartung.
HIV ist also kein Problem mehr? Ganz so einfach ist es nicht. Denn eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen erfährt erst sehr spät von ihrer Infektion. Rund 15 Prozent der Betroffenen in Deutschland wissen nichts von ihrer HIV-Infektion. Das sind nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts zirka 12.700 Personen. Je später die Diagnose gestellt wird, umso mehr Schaden kann das Virus im Körper anrichten. Folgekrankheiten können auftreten und auch heute noch zum Tode führen.
HIV und AIDS – die Begriffe
HIV steht für Humanes Immundefizienz-Virus, auch bezeichnet als Menschliches Immun- schwäche-Virus. Eine unbehandelte HIV-Infektion führt nach einer unterschiedlich langen, meist mehrjährigen symptomfreien Latenzphase in der Regel zu AIDS (engl. acquired immunodeficiency syndrome, erworbenes Immundefizienzsyndrom).
Das HI-Virus wird durch Kontakt mit Körperflüssigkeiten wie Blut, Sperma und Vaginalsekret übertragen. Potenzielle Eintrittspforten sind frische, noch blutende Wunden und Schleimhäute. Der häufigste Infektionsweg ist Anal- oder Vaginalverkehr ohne Verwendung von Kondomen. Die Benutzung kontaminierter Spritzen beim intravenösen Drogenkonsum stellt einen weiteren gängigen Infektionsweg d
HIV noch immer nicht „gesellschaftsfähig“
Es ist daher von großer Bedeutung, so früh wie möglich die Diagnose zu stellen und die Therapie einzuleiten. Die Behandlung erfolgt mittels einer Kombination verschiedener antiretroviraler Wirkstoffe. Diese unterbinden den Vermehrungszyklus von HIV. Infolgedessen können nicht mehr so viele Viren neu gebildet werden und das Immunsystem regeneriert sich. Wenn die Anzahl von Viren im Blut sehr stark sinkt und eine bestimmte Grenze unterschreitet, gilt der Betroffene als nicht mehr als ansteckend.
Trotz der guten Behandlungsmöglichkeiten scheuen sich jedoch viele noch immer, einen HIV-Test zu machen. Die Angst, aufgrund einer solchen Diagnose stigmatisiert und möglicherweise ausgegrenzt zu werden, spielt dabei eine große Rolle.
Diese Angst ist sicher nicht unbegründet: Eine Infektion mit HIV scheint das ganze soziale Gefüge auszuhebeln. Es ist zwar nach drei Jahrzehnten gelungen, das Virus mit Medikamenten in seine Schranken zu weisen, aber „gesellschaftsfähig“ ist es nie geworden.
Es gelingt vielen bis heute nicht, Betroffene als Menschen wie jeden anderen zu sehen. Unsicherheit im Umgang und Angst vor Ansteckung prägen viele Begegnungen zwischen Menschen mit HIV und jenen, die ohne das Virus leben. Und tatsächlich ist es genau diese soziale Belastung, die vielen Betroffenen heute mehr zusetzt als die medizinische Komponente.
HIV-Infektion in der Pflege nahezu ausgeschlossen
Auch im Gesundheitswesen kommt es immer wieder zur Diskriminierung von Patienten mit HIV. Nach einer Studie der Deutschen AIDS-Hilfe haben knapp 20 Prozent der Befragten angegeben, dass man ihnen eine Gesundheitsleistung verweigert hat. Gerade hier, wo sich Betroffene erhoffen, auf geschultes Personal zu treffen und professionelle Hilfe zu erhalten, müssen sie erleben, dass eine fundierte medizinische und pflegerische Ausbildung nicht automatisch bedeutet, mit diesem Thema professionell umzugehen.
Übertriebene Schutzmaßnahmen bis zu Ablehnung der Versorgung sind die Folge nicht überwundener Ängste vieler Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Dabei ist eine Übertragung von HIV in der pflegerischen Tätigkeit bei Beachtung der allgemeinen Hygiene- und Arbeitssicherheitsregeln nahezu ausgeschlossen. Es bedarf keinerlei HIV-spezifischer Schutzmaßnahmen.
In der Klinik für Infektiologie des Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikums in Berlin werden seit 1986 jährlich mehr als 1.000 stationäre Patienten mit einer HIV-Infektion betreut. Anfangs gab es keine anhaltend funktionierende medikamentöse Therapie. Viele Patienten starben an AIDS, der Folge einer HIV-Infektion. Heute werden oft Menschen in der Infektiologie betreut, die ihre Diagnose erst sehr spät erhalten haben und bereits an zum Teil lebensbedrohlichen Folgekrankheiten, wie einer speziellen Pneumonie, leiden.
Dadurch stehen diese Menschen vor gleich mehreren Problemen: Im Fokus steht zunächst die Behandlung der schweren Folgekrankheiten. Darüber hinaus müssen sie sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sie nun lebenslang ein Virus in sich tragen. Die Fragen, die sich den Betroffenen stellen – Woher habe ich das Virus? Warum trifft es mich? Welche Perspektive habe ich? –, stellt neben der akuten physischen Beeinträchtigung eine massive seelische Belastung dar. In dieser Phase brauchen die Betroffenen vor allem ein offenes Ohr, um sich zu entlasten. Sie benötigen umfassende valide Informationen und Hilfsangebote, um sich auf ihre neue Lebenssituation einstellen zu können.
Pflegende als Koordinatoren
Die Klinik für Infektiologie arbeitet in einem Netzwerk, das sich aus verschiedenen Berufsgruppen wie Pflege, Medizin, Physiotherapie, Sozialarbeit und Ernährungsberatung zusammensetzt. Die Begleitung und Beratung der Patienten erfolgt unter Einbeziehung externer Hilfsangebote wie beispielsweise der Berliner AIDS-Hilfe. In enger Kooperation mit spezialisierten Pflegediensten und niedergelassenen Ärzten sowie Beratungs- und Betreuungseinrichtungen wird der Patient bereits in der Klinik auf die Zeit nach dem Krankenhaus vorbereitet und auf Wunsch in das Netzwerk eingebunden.
Die Koordination dieser Maßnahmen erfolgt durch die Pflege. Dies ist sinnvoll, denn die Pflegenden sind durch ihren zeitlichen intensiven Kontakt zum Patienten die Berufsgruppe, die die Gesamtsituation am intensivsten beobachtet und einschätzen kann.
Auf dieser Basis wurde von den Pflegenden des Vivantes-Klinikums 2017 ein systematisches Beratungs- und Begleitungskonzept initiiert, das jedem Patienten mit einer HIV-Erstdiagnose oder einem anderem HIV-spezifischen Beratungsbedarf angeboten wird. Das Ziel ist, für jeden Betroffenen ein Setting herzustellen, das den individuellen Bedürfnissen, dem jeweiligen Wissensstand und der akuten emotionalen Lage entspricht. Das Ziel ist die Entlassung in eine Situation, in der die Betroffenen ihre medizinische Lage künftig rational einschätzen können und in das Netzwerk eingebunden sind, um mittel- bis langfristig auch die komplexen sozialen Probleme und Fragen bearbeiten zu können.
Die Beratung orientiert sich an einem Leitfaden, der in zwölf Themenkomplexe gegliedert ist. Einen besonderen Raum nehmen die Themen Behandlung/Therapie und Übertragungswege/Prävention ein. In diesen thematischen Einheiten geht es darum, den Betroffenen eine Perspektive zu eröffnen, dass auch mit einer HIV-Infektion ein erfülltes Sexualleben möglich ist und gleichzeitig die Weitergabe des Virus vermieden werden kann. Darüber hinaus lernen sie, dass die regelmäßige Einnahme der Medikamente ihnen einerseits das Überleben sichert und sie andererseits mittelfristig in eine Situation versetzt, in der sie andere Menschen nicht mehr anstecken können.
Unsicherheiten ernst nehmen
Da Menschen mit HIV heute eine „normale“ Lebensperspektive haben, sie nicht mehr unmittelbar an den Folgen sterben und gleichzeitig die Zahl von Neuinfektionen leicht steigt, wird infolgedessen künftig die Gruppe von Menschen, die mit dem Virus leben, immer größer. Die Wahrscheinlichkeit, in der Gesundheitsbranche auf diese Klienten zu treffen, steigt. Menschen mit HIV werden älter. Sie sind mit den gleichen gesundheitlichen Problemen konfrontiert wie jeder andere. Auch sie werden irgendwann auf vermehrte Unterstützung wie Pflege angewiesen sein.
Anbieter von Gesundheits- und Pflegeleistungen sind daher gut beraten, sich frühzeitig mit dieser Thematik zu beschäftigen. Die Mitarbeiter benötigen Schulungen und Aufklärung. Ihre Unsicherheiten und Ängste sollten ernst genommen und bearbeitet werden. Die regionalen AIDS-Hilfen bieten entsprechende Unterstützung an. Das Ziel sollte sein, dass für alle Institutionen im Gesundheitswesen die Versorgung von Menschen mit HIV „Normalität“ wird. Wenn es uns allen gelingt, den Menschen statt das Virus zu sehen, sind wir einen entscheidenden Schritt weiter.
Wierz, V.: Älter werden mit HIV. Heilberufe; 65 (4): 18–20
Deutsche AIDS-Hilfe: Positive Stimmen. Ergebnisbericht des PLHIV Stigma Index in Deutschland. www.aidshilfe.de/shop/pdf/2482
Deutsche AIDS-Hilfe: HIV-Infektion 2017. 10. Auflage, 2017
Robert Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin Nr. 47