• 26.09.2018
  • Praxis
Kommentar

"Wir kämpfen an einer Front, die niemand sehen will"

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 4/2018

Seite 44

Nur wenn der Wert pflegerischer Arbeit öffentlich anerkannt wird, werden Pflegende weiterhin mit ihrem Gewissen vereinbar pflegen können. Nur dann werden sich auch künftig Menschen finden, um diese Arbeit zu verrichten. Der Appell eines Pflegers.

Ich bin examinierter Pfleger und habe, die Ausbildung inbegriffen, fünf Jahre in Pflegeheimen gearbeitet, auch auf Wohnbereichen speziell für Menschen mit Demenz.

Ich habe mich von den dort Anvertrauten anschreien, schlagen, kratzen, bespucken und bereits um 6.00 Uhr am Morgen als unfähiger Taugenichts beschimpfen lassen. Ich habe die abstrusesten Phantasien validiert, fühlte mich ein, erkundete dabei biografische Details und Hintergründe, verlängerte Leben und behielt, bei aller Würdelosigkeit von persönlichen Schicksalen, den Respekt und den Humor.

Ich habe belebend oder beruhigend gewaschen, massiert, gecremt, Nägel geschnitten, den Friseurbesuch organisiert. Ich hatte täglich zahlreiche „Nahkoterfahrungen“, versorgte professionell Wunden, brauchte permanent zehn Augen am Hinterkopf und nicht weniger vorn geöffnet, um nur ja das nächste Hämatom, den nächsten Sturz zu vermeiden und zudem eine Flucht aus den geschützten Räumen unmöglich zu machen.

Ich rief Sonntagmorgens um acht Uhr bei fremden Leuten an, um ihnen zu sagen, dass die liebe Mutti heute Nacht verstorben ist. Schweren Herzens, selbst mit Tränen kämpfend. Weil es meine Pflicht war. Danach flechtete ich Zöpfe, rasierte faltige Haut, informierte das Bestattungsinstitut, reichte Essen, versuchte das Verdursten zu verhindern, indem ich Flüssigkeit in widerwillige Münder träufelte, und wischte hinterher die Mundwinkel sauber. Ich protokollierte jeglichen Vorfall und protokollierte noch das Protokollieren, stets am Rande der Legalität, jeden Tag einen Fuß schon in der Schlinge.

Ich lächelte, schätzte Risiken ein, koordinierte Therapeuten-Termine, stellte einen Becher Wasser ans Bett und schaltete das Nachtlicht ein, rettete im Zimmer nebenan eine Seele, die vor Kummer zu zerbrechen drohte. Ich duschte und badete, reinigte Zahnprothesen, begleitete – wenn es noch ging – auf die Toilette. Ich hörte mir sieben Stunden lang an: „Ich will sterben. Lasst mich doch sterben. Ich will sterben. Lasst mich doch sterben. Ich will sterben. Lasst mich doch sterben ...“, ohne vor Ratlosigkeit oder Scham genervt zu werden.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – gern geschehen! All das gehörte zu meinem Beruf – für 1.400 Euro netto. Interesse?

Wir sind die Sündenböcke für eine verfehlte Politik

Ganz ehrlich: Ich liebte diesen Beruf. Was ich jedoch überhaupt nicht mehr ertragen konnte, war die sogenannte Öffentlichkeit medialer Natur, die Gesellschaft, die versucht, aus mir und allen Kollegen einen schlagenden, freiheitsberaubenden, skrupellos Medikamente verabreichenden Unmenschen zu machen. Bei aller Würde, die wir versuchen aufzubringen, behandelt man uns würdelos!

Wir sind die Sündenböcke für eine verfehlte Politik, für die Gier, die Ratlosigkeit, für fehlende Visionen, ein fehlendes Konzept. Wir sind Angestellte in einer „Gesundheitswirtschaft“, die weder etwas mit Gesundheit zu tun hat, noch etwas mit Wirtschaft zu tun haben sollte. Wir kämpfen in jedem Dienst, in jeder Minute an einer Front, die niemand sehen will, von der sich jeder abwendet, um hinter dem Rücken zu tuscheln: „Also, ich könnte das nicht machen.“

Für unsere Arbeitgeber, egal wie sie auch heißen, welches Leitbild sie sich geben, welcher Dachorganisation sie angehören und wie humanistisch sie sich im Wettbewerb gebärden, sind wir nur schlecht kalkulierbare Wirtschaftlichkeitsfaktoren mit dem Hang, immer im ungünstigsten Augenblick zu erkranken.

Und dann, bei allem Engagement das Bitterste: Die meisten Schlagzeilen, die wir Pflegekräfte in den Massenmedien Deutschlands bekommen, sind negative: Irgendwo hat mal wieder ein Pfleger einen Pflegebedürftigen geschlagen, ein Bettgitter unerlaubter Weise gezogen, Psychopharmaka verabreicht, die nicht verordnet waren, einen Sturz nicht verhindert, etwas übersehen, das schließlich zum Tod des Schutzbedürftigen geführt hat und dann auch noch den Ehering vom kalten Finger gezogen. Wir sind die, die zu Tode pflegen, ignorant die Leiden übersehen, um sich gemütlich eine immer währende Kaffeepause zu genehmigen.

Wir sind unmenschlich – sind wir das? Will die Öffentlichkeit uns so sehen? Denkt bitte nach! Alter, Demenz, Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, der Tod – all das sondiert nicht nach einem gefüllten oder einem leeren Portemonnaie, nicht nach einer Einstellung. Es betrifft uns alle. Wie wollen wir selbst später einmal gepflegt werden? Wie wollen wir, dass unsere Großmutter heute gepflegt wird? Wer soll sich liebevoll um sie kümmern, wenn sie sich der Welt langsam entfernt, die Bügelwäsche in den Herd legt und jeden Tag davon ausgeht, dass heute Sonntag ist? Wer soll sich mit ihr am „Demenztisch“ unterhalten und sie dabei trotzdem ernst nehmen? Eine Chinesin?

So wie bisher geht es nicht weiter

Ich bin bereit, mit jeder politischen wie außerpolitischen Macht zusammenzuarbeiten, zu beraten, zu diskutieren, zu schreiben, bereit, mein Wissen um die Realität in der Pflege genauso einzubringen, wie all meine anderen Erfahrungen und meinen gesunden Menschenverstand, um Veränderungen anzustoßen.

Denn Fakt ist: So wie bisher geht es nicht weiter. Bei all der übergestülpten, bürokratischen Fachlichkeit kommt eines zu kurz: der Mensch. Momentan arbeitet die Pflege einzig auf Verschleiß der Wenigen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen dafür entschieden haben, in ihrem Dasein Altruismus und Egoismus zu verbinden, sich entschieden haben, ihre Menschlichkeit zu einem Gut zu machen.

Wir arbeiten auch dann noch, wenn andere sich längst hätten krankschreiben lassen, denn schließlich sind wir immer noch gesünder, als die Leidenden, welche wir zu umsorgen haben, arbeiten an Wochenenden und Feiertagen, Weihnachten wie Ostern, Tag wie Nacht. Wir geben dabei denen Liebe, die verlassen wurden, zu nichts mehr nütze sind, am Ende eines Lebens voller Triumphe nun das Scheitern, das Verlassen zu erlernen und schließlich ihre Endlichkeit zu erfahren haben.

Nein – natürlich gelingt uns dies nicht immer mit Auszeichnung oder gar nach Plan. So ist das Leben. Wir sind angewiesen auf unsere Stärken wie Schwächen, unsere Menschlichkeit, auf ein Netzwerk verständnisvoller Menschen, Ärzte, Therapeuten, Angehörige, angewiesen auch auf individuelle Fähigkeiten wie Geduld, Empathie, Kreativität, Demut, welche nicht jedem gleich gegeben sind. Wir sind aber auch angewiesen auf eine Öffentlichkeit, die einen Wert in unserer Arbeit erkennt. Denn nur wenn dieser Wert erkannt wird, werden wir weiterhin mit unserem Gewissen vereinbar pflegen können und werden sich auch künftig Menschen finden, um diese Arbeit zu verrichten.

*

Autor

WEITERE FACHARTIKEL AUS DEN KATEGORIEN