• 19.07.2018
  • Praxis
Fixierung und medikamentöse Ruhigstellung

Auf dem Rückzug

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 4/2018

Seite 28

Mechanische freiheitsentziehende Maßnahmen sind in der Altenpflege rückläufig. Doch noch sind die Unterschiede zwischen den Einrichtungen groß. Auch die Verordnungshäufigkeit von Antipsychotika zeigt Handlungsbedarf an.

Der Ende 2017 erschienene 5. Pflege-Qualitätsbericht legt nahe, dass Freiheitsentziehende Maßnahmen (FeM) in Pflegeheimen in Deutschland auf dem Rückzug sind. Waren im 3. Pflege-Qualitätsbericht noch bei 20 Prozent der geprüften Bewohner FeM dokumentiert worden, so waren es im 4. Bericht 12,5 und jetzt 8,9 Prozent (1).

Der Bericht lässt zwar keine Aussage über Unterschiede zwischen Pflegeheimen oder Regionen zu, auch werden die Zahlen nur als Mittelwerte ohne Maße zur Abschätzung von statistischer Unsicherheit angegeben. Dennoch kann von einer echten Abnahme der FeM über die Zeit ausgegangen werden.

Dies dürfte das Ergebnis langjähriger wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema an mehreren Standorten in Deutschland sein, der Entwicklung und Praxiseinführung von Programmen zur Vermeidung von FeM sowie öffentlichkeitswirksamer Kampagnen und juristischer Initiative.

Weniger FeM, aber große Unterschiede zwischen den Einrichtungen

In einer älteren Erhebung mit zirka 2 400 Bewohnern aus 30 Hamburger Pflegeheimen hatten noch 26,2 Prozent mindestens eine FeM an einem Stichtag. Bettgitter waren dabei die häufigste FeM. Gurte, feste Stecktische und andere Maßnahmen wurden bei nur jeweils zwei bis drei Prozent beobachtet. Dabei waren die Unterschiede zwischen den 30 Einrichtungen groß. In dem Heim mit der geringsten FeM-Rate waren weniger als fünf Prozent am Stichtag mit einer FeM versehen, in dem Heim mit der häufigsten Anwendung waren es hingegen zirka 60 Prozent (2).

Diese Unterschiede zwischen den Einrichtungen sind immer noch präsent, wie wir in einer späteren Untersuchung gesehen haben (3) und kürzlich auch in einer bislang unveröffentlichten großen Studie mit 120 Pflegeheimen (4). Einfach messbare Merkmale der Bewohner und der Ausstattung der Einrichtung liefern hier keine Erklärungen (2). Der wichtigste Grund für diesen Unterschied zwischen den Einrichtungen ist vermutlich die Pflegekultur, also die Haltungen und Einstellungen der Pflegenden und der Einrichtungsleitung in Bezug auf FeM. Pflegende haben tendenziell eher negative Einstellungen zu FeM (5).

Allerdings beschreiben Pflegende auch Situationen, in denen sie FeM als nötig oder schwer vermeidbar erleben. Der sich aus diesem Widerspruch ergebende innere Konflikt wird meist damit gelöst, die Notwendigkeit von FeM zu begründen, zum Beispiel weil es „zum Besten“ des Betroffenen sei oder weil die Angehörigen FeM gewünscht hätten. Oft betrachten Pflegende FeM als „normale“ Pflegeintervention (5).

Als Gründe für FeM werden in wissenschaftlichen Erhebungen mehrheitlich die Sicherheit der Bewohner, vor allem der Schutz vor Stürzen und Verletzungen genannt ebenso wie Unruhe und scheinbar zielloses Umherlaufen (6). Sehr wahrscheinlich können jedoch Stürze durch FeM nicht wirksam vermieden werden. Wahrscheinlicher ist sogar, dass die längerfristige Anwendung von FeM mit einem höheren Risiko für Stürze und Verletzungen einhergeht. FeM verhindern Bewegung und beeinflussen dadurch Gleichgewicht und Muskelkraft negativ. FeM werden jedoch nicht durchgehend angewendet, und in Phasen ohne FeM haben Betroffene zweifellos ein höheres Verletzungsrisiko. Der Verzicht auf FeM führt nicht zu einer Zunahme von Stürzen und Verletzungen, wie kontrollierte Studien zeigen (3). Voraussetzung ist natürlich, eine sichere Umgebung zu schaffen und sichere Mobilität zu ermöglichen.

Übermedikation mit psychotropen Medikamenten regulieren

Neben den mechanischen FeM können auch Medikamente mit ruhigstellender Wirkung als Fixierung wirken und werden oftmals auch als „chemische Fixierung“ bezeichnet. Antipsychotika, Tranquilizer und andere psychotrope Medikamente können Personen an selbstbestimmter Fortbewegung hindern und sie antriebslos und schläfrig machen.

Werden solche Medikamente zum Zwecke des Freiheitsentzugs verordnet, bedürfen auch sie einer richterlichen Genehmigung bei Nichteinwilligungsfähigkeit des Patienten. Da die Medikamente jedoch nicht mit dieser offen bekundeten Intention und Indikation verordnet werden, ist es kaum möglich, sie als Fixierung zu identifizieren.

Empfehlungen zufolge ist die Pharmakotherapie ein letzter Therapieschritt zur Kurzzeitbehandlung bei agitiertem Verhalten, gesteigerter Psychomotorik, psychotischen Symptomen wie Wahn und Halluzinationen, affektiven Symptomen, zum Beispiel Depression, Schlafstörungen, Delir. Einer mäßigen Wirkstärke stehen schwere Nebenwirkungen gegenüber (4).

Gemäß Analysen von Verschreibungsdaten in Deutschland werden entgegen der Empfehlungen aus Leitlinien bei nicht-kognitiven Störungen Antipsychotika als häufige Therapieoption eingesetzt, und bis zu 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen haben mindestens eine Antipsychotika-Verschreibung (7). In Studien mit deutschen Pflegeheimen zeigten sich Variationen der Häufigkeiten von psychotrop wirksamen Medikamenten zwischen den Zentren, die nicht mit bewohner- oder pflegeheimbezogenen Merkmalen erklärt werden können. Daher nimmt auch hier die „Organisationskultur“ der jeweiligen Einrichtungen wahrscheinlich eine wichtige Rolle beim Verordnungsverhalten ein (7).

Eine Veränderung dieser Kultur erfordert einerseits, dass medizinisches und pflegerisches Personal nicht-pharmakologische Ansätze berücksichtigt, und andererseits, dass Personal- und Zeitressourcen zur Verfügung stehen. Pflegende und Therapeuten haben oft nicht die Kompetenz, herausfordernde Verhaltensweisen zu identifizieren und benötigen Unterstützung, die Umstände und Faktoren zu verstehen, die die Symptome verstärken.

Wirksame Ansätze zur Vermeidung von Antipsychotika-Verordnungen bei Menschen mit Demenz liegen international vor (8). In Deutschland sind die Verordnungsraten von psychotrop wirksamen Medikamenten in Pflegeheimen – und hier insbesondere Antipsychotika – ungebrochen hoch und erfolgreiche Maßnahmen zur Reduktion stehen aus.

Über die Jahre ist es also gelungen, FeM in Pflegeheimen zu verringern. Natürlich gibt es Potenzial in Richtung FeM-freie Pflege und Überwindung von Praxis­variation.

Der nächste Schritt muss nun getan werden und die Übermedikation mit Antipsychotika reguliert werden. Das kann nur durch eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Pflegenden, Haus- und Fachärzten und gegebenenfalls Apothekern gelingen.

(1) Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen: https://www.mds-ev.de/themen/pflegequalitaet/mds-pflege-qualitaetsberichte.html, Zugriff am 06.03.2018

(2) Meyer G, Köpke S, Haastert B, Mühlhauser I: Restraint use among nursing home residents: cross-sectional study and prospective cohort study. J Clin Nurs 2009; 18: 981–990

(3) Köpke S, Mühlhauser I, Gerlach A, Haut A, Haastert B, Möhler R, Meyer G: Effect of a Guideline-based Multi-Component Intervention on Use of Physical Restraints in Nursing Homes. A Cluster Randomized Controlled Trial. JAMA 2012; 307: 2177–2184

(4) Abraham J, Möhler R, Henkel A, Kupfer R, Icks A, Dintios CM, Haastert B, Meyer G, Köpke S: Implementation of a multicomponent intervention to prevent physical restraints in nursing home residents (IMPRINT): study protocol for a cluster-randomised controlled trial. BMC Geriatr 2015; 15: 86

(5) Möhler R, Meyer G: Attitudes of nurses towards the use of physical restraints in geriatric care: A systematic review of qualitative and quantitative studies. Int J Nurs Stud 2014; 51: 274–288

(6) Köpke S, Möhler R, Abraham J, Henkel A, Kupfer R, Meyer G: Leitlinie FEM – Evidenzbasierte Praxisleitlinie Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen in der beruflichen Altenpflege. 1. Aktualisierung 2015, 2. Auflage. Universität zu Lübeck & Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2015. http://www.leitlinie-fem.de/download/LL_FEM_2015_Internet_gesamt.pdf, Zugriff am 06.03.2018

(7) Richter T, Mann E, Meyer G, Haastert B, Köpke S: Prevalence of psychotropic medication use among German and Austrian nursing home residents: a comparison of three cohorts. J Am Med Dir Assoc 2012; 13: 187.e7–187.e13

(8) Richter T, Meyer G, Möhler R, Köpke S: Psychosocial interventions for reducing antipsychotic medication in care home residents. Coch­rane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 12. Art. No.: CD008634. DOI: 10.1002/14651858.CD008634.pub2

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