• 01.05.2018
  • Praxis
Minimierung freiheitsentziehender Maßnahmen

Fixierungen müssen nicht sein

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 4/2018

Seite 21

Das Krankenhaus Rummelsberg hat als erste Klinik deutschlandweit das Heimkonzept des Werdenfelser Wegs in einer Klinik umgesetzt. 

Ein 82-jähriger an Demenz leidender Patient liegt in seinem Krankenbett. Rechts und links von ihm sind Gitter an seinem Bett angebracht. Damit will man ihn vor Stürzen und Verletzungen schützen. „Doch das ist ein Trugschluss“, betont Christian Köbke, Mitglied der Pflegedirektion am Krankenhaus Rummelsberg. „Vielmehr zwingen solche freiheitsentziehende Maßnahmen den Patienten in die Bettlägerigkeit“, weiß der erfahrene Pflegewissenschaftler. Folge: Die fehlende Mobilität beschleunigt den kognitiven Abbau und steigert beispielsweise die Sturzgefahr aufgrund muskulären Abbaus.

Freiheitsentziehende Maßnahmen (FeM) schaden also mehr als dass sie nutzen. Sie können bei Patienten zu Stress, Angst oder Aggressionen führen. Zudem besteht das Risiko für Komplikationen wie Druckgeschwüre, Hämatome oder sogar Frakturen – weil die Patienten trotz Bettseitenteilen versuchen, sich aus dem Bett zu „befreien“. Je öfter solche Fixierungen angewendet werden, desto mehr lassen außerdem Muskelkraft und Koordinationsfähigkeit nach. „Dadurch werden Stürze sogar noch wahrscheinlicher, und die Patienten sind nach solchen Maßnahmen nicht selten kränker als zuvor“, sagt Köbke.

Für ihn ist es deshalb selbstverständlich, FeM kritisch zu hinterfragen. Das Konzept des Werdenfelser Wegs auch auf die Gegebenheiten in einem Krankenhaus zu übertragen, war für ihn nur logische Konsequenz. Dank der Initiative der Pflegedirektion ist das Krankenhaus Rummelsberg die erste Klinik deutschlandweit, die das Konzept Ende 2016 auf den Klinikalltag adaptiert hat. Bis dato wurde der Ansatz ausschließlich in Pflegeheimen praktiziert.

Werdenfelser Weg

 

Das 2007 im Werdenfelser Land in Bayern entwickelte Heimkonzept setzt auf spezialisierte Verfahrenspfleger. Aufgabe dieser Verfahrenspfleger ist es, Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen in Pflegeheimen aufzuzeigen und so eine würdevolle Pflege der Patienten zu ermöglichen.

   

Mitarbeiter sensibilisieren

„Wie oft fallen Kinder beim Spielen hin? Keiner würde auf die Idee kommen, sie zu fixieren. Jeder kann und darf stürzen – wichtig ist, dass die Sturzfolgen minimiert sind“, gibt Köbke zu bedenken. Eine qualitativ hochwertige Pflege könne nur fixierungsfrei gelingen, ist der Pflegewisssenschaftler überzeugt. Seit 2016 kümmert er sich deshalb um entsprechende Fort- und Weiterbildungen für Pflegende der insgesamt zehn Fachabteilungen der Klinik gemeinsam. Was sind FeM? Wie sehen die rechtlichen Grundlagen aus? Welche Alternativen gibt es? All diese Fragen werden geklärt, um den Mitarbeitern Handlungssicherheit zu geben. Darüber hinaus gibt es Deeskalationstrainings und Fortbildungen zum Haftungsrecht.

Mittlerweile gibt es zudem vier sogenannte Verfahrenspfleger in der Klinik. Das sind speziell weitergebildete Pflegende, die fest am Klinikum angestellt sind. „Das ist eine Besonderheit“, betont Köbke. Sie stehen allen Mitarbeitern beratend zur Seite, wenn es um alternative Versorgungskonzepte geht. Dafür sind sie über zwei beziehungsweise drei Tage in rechtlichen und mediativen Grundlagen geschult worden.

Der Schlüssel, FeM zu vermeiden, liege in erster Linie im Engagement der Pflegenden. „Gemeinsam mit Betroffenen, Angehörigen, Medizinern und Betreuern entscheiden wir gemeinsam und individuell, welche alternativen Möglichkeiten wir haben“, beschreibt Köbke und gibt ein Beispiel: Eine demenzkranke Mutter läuft aus ihrem Zimmer weg, stürzt dabei und verletzt sich. Um sie künftig zu schützen, wendet sich die Tochter an das Klinikpersonal und bittet darum, ihre Mutter am Bett zu fixieren. Hier kommen nun die Verfahrenpfleger ins Spiel. In einem gemeinsamen Gespräch mit der Tochter werden verschiedene Optionen diskutiert. Das könne zum Beispiel ein niedriges Bett anstatt eines Bauchgurtes sein oder ein Multifunktionsrollstuhl, in dem sie unangegurtet sitzen könne, ohne herauszufallen, verdeutlicht Köbke. Auch das in Rummelsberg eingesetzte Kinästhetik-Konzept helfe, die Mobilisierung von Patienten zu fördern.

Konzept stößt in Klinik an Grenzen

Der Verzicht auf FeM könne kurzfristig für das Pflegepersonal mehr Arbeit bedeuten, weil sie herausfinden müssen, welche Hilfsmittel die richtigen für den Patienten sind. „Aber danach erleichtert es die Arbeit, weil die Patienten deutlich ausgeglichener sind.“

Das Hinterfragen der eigenen Arbeit sei den Pflegenden anfangs schwer gefallen. Sie aber regelmäßig zu kontrollieren, lag nicht in Köbkes Interesse. Vielmehr war es ihm wichtig, ihr Bewusstsein für die Thematik zu schärfen. „Nur weil ein Arzt eine Fixierung anordnet, muss das eine Pflegekraft nicht machen. Pflegerische Pflicht ist es, das eigene Handeln zu reflektieren und gegebenenfalls Alternativen aufzuzeigen“, betont er.

Jeden Monat ist er für eine Woche auf einer Station des Krankenhauses unterwegs, um sich die dortige Arbeitsweise anzuschauen. Er ist sich sicher: „Es hat sich viel zum Positiven geändert, seitdem wir nach dem Werdenfelser Weg handeln.“ Das zeigten erste Evaluationsergebnisse.

Ergebnisse der Evaluation

In der Fachklinik für Orthopädie, Neurologie und Innere Medizin sowie der Geriatrischen Rehabilitation des Krankenhauses Rummelsberg wurden vor und nach Einführung des Konzepts „Werdenfelser Weg“ Prävalenzerhebungen zur freiheitsentziehenden Maßnahmen (FeM) vorgenommen. Ergebnis: 2016 wurden bei 205 Patienten 22 FeM beobachtet. Das entspricht einer Quote von knapp elf Prozent.

 

2017 konnten bei 279 Patienten lediglich zwölf Fixierungen festgestellt werden. Die Prävalenz lag nur noch bei gut vier Prozent.

   

Dennoch stoße das Konzept im Krankenhaus auch an seine Grenzen. Aufgrund der kurzen Verweildauern könne nicht so intensiv auf Patienten eingegangen werden wie in der Langzeitpflege. Das sei ein Grund, warum bislang nur wenige Kliniken das Heimkonzept umsetzten.

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