• 13.02.2018
  • Praxis
Langzeitpflege

Die Biografie im Blick

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 2/2018

Seite 40

Biografiearbeit kann Pflegenden helfen, Heimbewohner individuell zu fördern. Das kann Menschen motivieren, sich wieder zu bewegen, ausreichend zu essen oder besser mit Schmerzen umzugehen. Unter der entbürokratisierten Pflegedokumentation ist jedoch ein gegenläufiger Trend zu beobachten – eine gefährliche Entwicklung.

Jede beruflich Pflegende weiß: Eine biografische Orientierung in der Langzeitpflege ist unverzichtbar, wenn ein Mensch „individuell“ (laut Leitbild) gepflegt werden soll. Pflegebedürftige sollen in ihren täg­lichen Aktivitäten bestmöglich unterstützt und gleich­zeitig motiviert werden, selbstständiger zu werden. Da reichen Informationen über Nahrungsvorlieben oder Körperpflegemittel in der Regel nicht aus.

Fragt man Pflegende, was ihnen wichtig ist, sagen sie: „Ich möchte wissen, was das für ein Mensch ist, was ihn ausmacht.“ Doch wie bringe ich das in Erfahrung? Hilfreich sind biografische Informationen, die im Einzugs-gespräch und für die Pflegeanamnese erhoben werden. Gute Einrichtungen nutzen – auch unter der neuen entbürokratisierten Pflegedokumentation – eigens entwickelte Biografiebögen. Sehr gute Einrichtungen notieren auf Blankopapieren unstrukturierte Mitteilungen in ersten Gesprächen und ergänzen diese laufend. Manchmal werden auch gemeinsam mit den Angehörigen Collagen erstellt oder Lebensbücher über die Biografie entwickelt.

Lange Lebenslauf-Listen helfen wenig

Früher erfolgte oft ein „Abfragen“ der Lebensgeschichte mit vorgegebenen Fragen. Diese wirkten oft wie ein Verhör – zumal auch intime Fragen gestellt wurden. Hier sind einige skurril anmutende Biografiebögen bekannt: Gingen die Eltern regelmäßig zur Kirche? Welche Benimmregeln gab es als Kind? Wann war der erste Flirt? Kann die eigene Ehe als glücklich bezeichnet werden? Welche politischen Werte wurden unterstützt? usw. Diese Fragen haben mit der Gestaltung der Pflege nichts zu tun. Sie können vielmehr das Vertrauen der Befragten und Angehörigen in das Heim untergraben.

Lange Lebenslauf-Listen wurden auch vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) und Heimaufsicht verlangt. In der direkten Pflege haben sie nicht viel gebracht. Meist wurden diese anfangs zum Einzug des Bewohners erhoben und dann irgendwo abgeheftet. Verwunderlich war aber oft, wie wenig doch die Angehörigen über den zu Pflegenden wissen. Bei fortgeschrittener Demenz ist man auf die Familie angewiesen. Da kann es sein, dass ein ganzes Menschenleben zusammenschrumpft auf Aussagen wie: „Er guckte gerne aus dem Fenster“ oder „Er rauchte Overstolz“. Heutzutage ist diese Form von Biografie-Abfrage weniger geworden. Die Zufriedenheit der Prüfer hinsichtlich der Biografiearbeit hängt aber jeweils von der persönlichen Einstellung der Kontrolleure ab.

Ein Problem ist, dass Biografiearbeit in Pflegezusammenhängen bisher kaum fundiert ist. Biografiearbeit ist ein interdisziplinäres Thema – in der Sozialpädagogik, Psychotherapie oder Gerontologie gibt es dazu sehr viele Aktivitäten und Publikationen. Der Begriff wird auch unterschiedlich definiert, im Kern geht es dabei um die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte. Ähnliche Begriffe sind „Erinnerungsarbeit“ oder Reminiszenzarbeit. Hier geht es um individuelle oder gemeinsame Anregungen zur Erinnerung.

In ihrer Bachelorarbeit analysierte Sirsch (2005) deutschsprachige Altenpflege-Lehrbücher hinsichtlich der Biografiearbeit. Herausgekommen ist eine völlige Heterogenität. Je nach Autor/in wurden Inhalt und Umfang unterschiedlich dargestellt.

Die Biografie lebendig werden lassen

In der Pflege muss es bei der Biografiearbeit darum gehen, den Menschen auch in Bezug auf seine Pflegebedürftigkeit zu sehen. Dazu gehört, seine Gewohnheiten und Interessen kennenzulernen, ihm durch Aufgreifen früherer Dinge Freude zu bereiten und ihm Wertschätzung durch persönliche Orientierung zu vermitteln. Biografiearbeit kann auch Identität und Zugehörigkeitsgefühl stärken.

Der Mensch erschließt sich im Pflegeverlauf langsam in vielen kleinen Informationen. Dazu gehören Vertrauen und ein längerer Prozess des Kennenlernens. Gerade diese kleinen Informationen können wichtig sein und sollten auch an das Pflegeteam weitergegeben werden. Wie solche Biografie-Splitter aussehen können, vermittelt der Artikel „Lebensgeschichte lebendig werden lassen“ (Zegelin & Carollo 2011). Ob jemand Katzen liebt, aus Hamburg kommt, Opernfan war, zehn Enkel hat, immer nach Spanien reiste, bei Opel arbeitete oder ein Abendgebet braucht – diese Informationen stehen auf bunten Kärtchen allen zur Verfügung, um ins Gespräch mit den Pflegebedürftigen zu kommen.

Denn genau dies ist wichtig: Wertschätzung und Anerkennung des gelebten Lebens. Davon kann tatsächlich abhängen, ob Menschen sich wieder bewegen wollen, ausreichend essen, besser mit Schmerzen fertig werden oder schlafen können. Wir alle brauchen persönliche Ansprache und Zu-„Spruch“. Hunderte von Themen sind denkbar, von Heimat über Kindheitsfreunde bis zu tollen Festen im Leben – alle in der Pflege Tätigen, auch die Hilfskräfte, sollten in der Lage sein, über diese Themen Gespräche zu führen.

Pflegenden ist geraten, Gespräche während anderer Pflegehandlungen anzustreben. Dies wertet die körperliche Arbeit auf. Leider ist die Pflege inzwischen so rationalisiert, dass kaum Zeit für Interaktionen bleibt. Aus den Projekten zur Mobilitätsförderungsprojekten ist mir bekannt: Biografische Informationen sind oft ein Königsweg, um Menschen zu Bewegung zu motivieren. So können Beziehungen im Heim hergestellt werden und über Berufe oder Liebhabereien kleine Clubs entstehen. Frühere Vereinsmitgliedschaften oder Hobbys können ein verbindendes Element darstellen. Aber auch bei schwerkranken oder sterbenden Menschen können angenehme Erinnerungen kleine „Inseln“ sein und Momente der Dankbarkeit auslösen.

Was Biografiearbeit leisten kann – ein Fallbeispiel

Herr Bowmann, 74 Jahre alt, kam vor einigen Monaten in unsere Einrichtung. Er wurde zu Hause verwahrlost aufgefunden – zuletzt hat er sich nur noch von Leitungswasser ernährt. Der Vermieter hatte einen Berufsbetreuer organisiert. Dieser kannte Herr Bowmann nur kurz und hat ihn dann zu uns gebracht. Herr Bowmann leidet an mehreren schweren Krankheiten, unter anderem dem Korsakow-Syndrom, eine Form der Amnesie. Anfangs lag er nur im Bett oder kroch auf allen Vieren auf dem Boden – so hat er sich zu Hause auch fortbewegt. Herr Bowmann sprach völlig unverständlich, eine Kontaktaufnahme war nicht möglich.

Durch gründliche Recherchen, unter anderem im Internet, konnte ein entfernter Verwandter ausfindig gemacht werden. Dadurch wurde klar, dass Herr Bowmann aus Großbritannien kommt, als Seemann tätig war und in mehreren Ländern gelebt hat. Die Verständigung gelang in Englisch besser. Die Familie hatte keinen Bezug mehr zu Herrn Bowmann, vielleicht auch aufgrund seiner Alkoholkrankheit. Die Ehefrau lebte nach der Scheidung schon lange auf den Philippinen, allerdings gibt es noch einen Sohn und einen Bruder in England.

Inzwischen geht es Herrn Bowmann besser. Das Gehen war zunächst ein großes Problem, er stürzte oft. Nun läuft er am Rollator und ist in der Lage, sich auch außerhalb der Einrichtung zu bewegen. Ab und zu besucht ihn der entfernte Verwandte. Herr Bowmann erzählt viel von der Seefahrt – viele Äußerungen sind nun durch die biografischen Informationen verständlicher. Auch sein Zimmer wurde entsprechend dekoriert. Herr Bowmann bekommt eine Rente von der Royal Navy und ist in Deutschland versichert. Es sind verschiedene Dinge geplant, zum Beispiel eine Reise mit dem Wünsche-Wagen an einen Küstenhafen, ein Besuch seines Sohnes und vielleicht sogar eine Übersiedlung nach Großbritannien.

 

Fallbeispiel von Michael Schillberg, Altenpfleger, Geschäftsführung, Boecker-Stiftung Witten

   

Den richtigen Zugang wählen

Grundsätzlich sollten in der Erinnerungsarbeit positive Aspekte angesprochen werden. Es lässt sich aber nicht vermeiden, dass auch traurige Eindrücke aufsteigen. Hier ist ein gemeinsames Aushalten wichtig. Gerade in der Altenpflege ist es eine bedeutsame Aufgabe, die Menschen bei der Reflektion ihrer Lebensgeschichte zu begleiten. Viele ziehen eine Bilanz ihres Lebens, dazu braucht es eine intelligente und warmherzige Begleitung.

Zwei biografische Wege sind besonders hilfreich, um Zugang zu Bewohnern zu erhalten.

Wissen über die Person: Familie und Beruf sind prägend für Menschen, auch Lebensorte spielen eine große Rolle. Welche Liebhabereien hat jemand gepflegt? Welche Automarken ist er gefahren, welche Reisen hat er unternommen? Einen Schatz bilden auch Vereinsmitgliedschaften. Jeder Deutsche engagiert sich im Verlauf des Lebens in mehreren Gruppen, darüber sollten Mitarbeiter in der Langzeitpflege informiert sein. Aus all diesen Informationen lassen sich Kontakte herstellen und auch Angebote entwickeln.

Generatives Wissen: Damit sind die Lebensumstände gemeint, die eine ganze Generation prägten. Vielfach wird darüber geklagt, dass dieses Wissen bei Jüngeren fehle. Die schlimme Zeit der Kriegs- und Nachkriegszeit ist ja kollektiv tabuisiert und auch individuell verdrängt worden. Inzwischen gibt es aber in den Medien auch Aufarbeitungen, und es stehen viele Quellen zur Verfügung. Selbst bei Hochaltrigen könnte man heute mit den 1950er- und 1960er-Jahren einsetzen: Wie sah der Alltag aus? Welche Moden, welche Musik, welche Ereignisse werden (gern) erinnert? In der Pflegeausbildung ist es nützlich, auf einem „Zeitstrahl“ die Besonderheiten der Dekaden kennenzulernen.

Als Hilfe für diese generative Arbeit wurde vom Pflege e.V. ein Wandbild entwickelt. Es zeigt deutsche Geschichte und Alltagskultur von 1900 bis 2000. Das Bild lädt zu einer stundenlangen Betrachtung und Erinnerungsarbeit ein. Es enthält Themenstränge zu Geschichte, Sport, Haushalt oder Unterhaltung. So kann etwa ein Austausch über „Süßigkeiten“ entstehen, Bonbons in Zehn-Pfennigtüten, zu den ersten Perlonstrümpfen, zu Währungsreformen oder Fernsehserien. Inzwischen liegen zahlreiche Erfahrungen zum Umgang mit dem „Erinnerungs-Wandbild“ vor.

Die neue Pflegedokumentation – und nun?

Wurden früher dem MDK ellenlange Listen mit Biografiedaten vorgelegt, reichen heute wenige Aussagen. In den ersten Veröffentlichungen zur Entbürokratisierung der Dokumentation war zu lesen, dass die Biografiearbeit überflüssig sei. Laut „Strukturierter Informationssammlung“ (SIS) im Entbürokratisierungsprojekt soll sie in den vorgegebenen täglichen Aktivitäten aufgehen. Eine zusätzliche Biografieerhebung ist nicht vorgesehen (BMG 2016). Diese Betrachtung erscheint mehr als gefährlich. Die Biografiearbeit ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Pflege kaum noch ein professionelles „Rückgrat“ hat.

Kostenträger und Politik bestimmen die Standards in der Pflege. Sämtliche Diskussionen über den Pflegeprozess oder gar über Pflegemodelle sind entsorgt – ich sehe das SIS-Modell sehr kritisch und wundere mich, dass die Altenpflege dem fraglos folgt. Entbürokratisierung ist sicher wichtig, gerade vor dem Hintergrund, dass jahrelang nur die Leistungsvorgaben der Versicherer bedient und in aufgeblähten Katalogen ausgelebt wurden. Doch jetzt wurde das „Kind mit dem Bade ausgeschüttet“. Viele Informationen fehlen, der Nachweispflicht wird nicht Genüge getan.

Die Pflegeberufe sollten selbstbewusst „ihre“ Notwendigkeit der biografischen Arbeit vertreten. Die Erfordernisse sind in der ambulanten Pflege anders, die Wohnung ist „Biografie“, eine zweite Haut des Menschen. In der stationären Altenpflege kommt der Mensch hilfebedürftig und seiner Biografie „entkleidet“ an. Besonders bei Menschen mit Demenz ist die Spurensuche wichtig. In der Akut- und Kurzzeit-Pflege muss eine „Kurzversion“ der Biografiearbeit reichen. Diese Spezifitäten des Pflege-Settings sind nie überzeugend und verbindlich thematisiert worden.

Pflegende sollten sich auch nicht von den vorgegebenen Formularen irgendwelcher Dokumentationsfirmen leiten lassen. Sie sollten im Team entscheiden, welche Informationen ihnen wichtig sind. EDV-Firmen verbreiten am liebsten nur gleiche Datensätze. Sie sollten aber flexibel genug sein, um Besonderheiten aufzunehmen. Pflege ist komplex, verschiedene Modelle/Theorien haben ihre Berechtigung. Im Moment regiert leider der Abbau durch Rationalisierung und Ökonomisierung – Pflege sollte hier in der Lage sein, ihre Wertschöpfung zu verdeutlichen.

BMG (2016): Strukturierte Information als Element des Strukturmodells, www.bmg.bund.de, Zugriff am 30.11.17

Klingenberger, H. (2014): Biografiearbeit in der Pflege. Don Bosco

Sirsch, E. (2005): Biografiearbeit in der stationären Altenpflege. Eine vergleichende Analyse deutschsprachiger Lehrbücher. www.pflegewiki.de, Zugriff am 30.11.17

Schweitzer, P., Bruce, E. (2010): Das Reminiszenz-Buch. Hogrefe

Zegelin, A., Carollo, J. (2011): Biografische Splitter – Lebensgeschichte lebendig werden lassen. Die Schwester Der Pfleger 50 (6): 558–561

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