Ärmel hochkrempeln und loslegen – das ist Christel Bienstein. Mit Ideen, Charme und Enthusiasmus ist sie zu einer der bekanntesten deutschen Pflegewissenschaftlerinnen avanciert. Die Nähe zur Pflegepraxis hat sie dabei nie verloren. Jetzt verabschiedet sie sich in den Ruhestand – zumindest beinahe.
Mitte der 80er Jahre, in einem Heim für schwerstbehinderte Kinder: Christel Bienstein beobachtet ihren Bruder, der einem etwa siebenjährigen Jungen Sahne in den Mund gibt und um den Mund herum verteilt. Das Kind, das nicht sehen und sich kaum bewegen kann, beginnt zu schmatzen und die Sahne abzuschlecken. Danach gibt der Bruder, von Beruf Heilpädagoge, dem Jungen etwas Sahne auf die Hand, woraufhin es die Hand hebt und an der Sahne leckt. „Auch schwerst mehrfachbehinderte Kinder sind in der Lage, Sinneserfahrungen zu machen“, erklärt ihr Bruder. „Wir müssen ihnen nur helfen, die Welt und sich selbst kennenzulernen.“ Christel Bienstein ist fasziniert. Gedanklich zieht sie gleich Parallelen zur Pflege. Dieses Konzept könnte auch bei uns klappen, denkt sie sich.
Ansteckender Tatendrang
Dies ist der Auftakt der Basalen Stimulation in der Pflege. Christel Bienstein arbeitet zu dieser Zeit als Lehrkraft am Bildungszentrum des DBfK in Essen und betreut ein zweijähriges Pflegefachseminar für berufserfahrene Pflegende. Sie erzählt den Teilnehmern des Seminars von dem Konzept, und die lassen sich von ihrem Enthusiasmus schnell anstecken. Gemeinsam erarbeiten sie Ideen, wie die Basale Stimulation in der Pflege aussehen könnte, probieren diese in der Praxis aus, beobachten, entwickeln neue Ideen. Irgendwann kommen sie an einen Punkt, wo sie mit ihrem „Latein am Ende“ sind. Da ruft Christel Bienstein kurzentschlossen den Begründer der Basalen Stimulation, Andreas Fröhlich, persönlich an und bittet ihn um Hilfe. Sie berichtet dem verdutzten Professor von ihren Erfahrungen, lädt ihn ins Bildungszentrum ein, nimmt ihn mit auf die Intensivstation. Andreas Fröhlich lässt sich von ihrem Tatendrang bald mitreißen. Gemeinsam übertragen sie das Konzept auf die Pflege wahrnehmungsbeeinträchtigter Menschen. 1991 folgt dann die Veröffentlichung des ersten Buchs zur Basalen Stimulation in der Pflege.
Mit ähnlichem Enthusiasmus gelingt es Christel Bienstein, die Kinästhetik nach Deutschland zu holen und aufzubauen. Sie liest 1987 in der Zeitung, dass zwei Doktoren namens Lenny Maietta und Frank Hatch einen Kurs in Zürich zur besseren Bewegung von Patienten anbieten. Sie ärgert sich – denkt „typisch Mediziner“ (was die beiden ja gar nicht sind) –, ist aber neugierig und beschließt, an dem 3-Tages-Seminar teilzunehmen. Anschließend ist sie so überzeugt von dem Bewegungskonzept, dass sie sich gleich zur ersten berufsbegleitenden Weiterbildung zur Kinästhetik in der Schweiz anmeldet. Drei Jahre dauert diese, und Christel Bienstein pendelt zu den Blockseminaren regelmäßig von Essen in die Schweiz. Eine sehr aufwendige Geschichte – mit Familie und zwei Kindern.
Noch während der Weiterbildung spricht sie mit den Kinäs- thetik-Begründern Maietta und Hatch, dass das Konzept unbedingt auch in Deutschland etabliert werden müsse. Aber, da ist sie sich sicher: Mit einer dreijährigen berufsbegleitenden Weiterbildung wird das hierzulande nicht funktionieren. Maietta und Hatch sind offen für ihre Pläne, gemeinsam entwickeln sie einen einjährigen Basiskurs und einen sich anschließenden einjährigen Aufbaukurs. Christel Bienstein unterstützt die beiden, wo es geht, organisiert Vorträge in Deutschland, plant die ersten Kurse. „Das war alles total spannend“, erinnert sie sich, „wir haben viel mit Patienten gearbeitet und gemerkt: Das Konzept funktioniert.“ Gleichzeitig weiß sie – sobald die ersten Kurse gut etabliert sind, ist sie raus. Sie möchte sich weiteren Themen widmen, hat noch vieles vor, um die Pflege in Deutschland voranzubringen.
"Das will ich werden!"
Dabei ist Christel Bienstein nur über einen Umweg zur Pflege gekommen. Eigentlich wollte sie Erzieherin werden. Aber die Ausbildung ist zu teuer, deshalb soll sie in die Krankenpflege. 17 Jahre ist sie und noch nicht wirklich überzeugt von dem Plan, den ihre Familie für sie hat. Sie trifft eine Freundin, die gerade die Ausbildung macht, und probiert die damals übliche Schwesterntracht mit Schleier und Pelerine. Gar nicht mal schlecht, denkt sie, als sie sich vor dem Spiegel dreht. Feuer fängt sie aber erst, als sie den ersten Tag nach dem mehrwöchigen Schulblock auf einer Station verbringt, das geschäftige Treiben und die Patienten erlebt. Danach ist für sie klar: „Das will ich werden!“ Sie absolviert 1972 in Marl ihr Examen, bewirbt sich dann nach Essen und beginnt auf einer chirurgischen Intensivstation, mit schwerstkranken und beatmeten Patienten.
Nur zwei Jahre später wird sie von Allergien geplagt. Die Formaldehyd-Allergie ist schließlich so stark, dass ihr Arzt drängt: „Sie müssen umschulen.“ Wie damals üblich führt das Arbeitsamt mit ihr einen Intelligenz-Test durch – quasi als Eintrittskarte für ein Studium ohne Abitur. Es folgt die Begabtenprüfung an der Universität. Christel Bienstein besteht den Test und beginnt Lehramt für Geschichte und Germanistik zu studieren. Während des Studiums tritt sie in den DBfK ein – „aus Sorge, den Anschluss an die Pflege zu verlieren“ – und übernimmt gelegentlich Nachtwachen im Krankenhaus. Zudem arbeitet sie aushilfsweise am Bildungszentrum des DBfK in Essen in der Bibliothek – ihrem späteren langjährigen Arbeitsort. Nach dem Staatsexamen beginnt sie dort ab 1977 als Referentin und entwickelt ein „Berufspädagogisches Fachseminar“, das der Vorläufer der heutigen Praxisanleiter-Ausbildung ist.
Erste wissenschaftliche Gehversuche
Schon damals fällt ihr auf, wie dürftig das Wissen ist, das in der Pflege vermittelt wird. Christel Bienstein reist mit einer Kamera durch die Republik und filmt die Seminarteilnehmer bei der Schüleranleitung. Gemeinsam schauen sie sich die Filme an und merken: „Pädagogisch sind die Themen zwar gut rübergebracht, aber die Inhalte stimmen nicht.“ Es werden viele Mythen und Rituale und auch falsche Kenntnisse vermittelt – einfach weil das Wissen fehlt. Christel Bienstein recherchiert in US-amerikanische Studien, um zu sehen, dass auch hier überwiegend Management- und pädagogische Inhalte, aber kaum pflegefachliche Themen behandelt werden. Sie bewirbt sich für ein Europa-Stipendium und geht in die Schweiz, um hier aktuelle Entwicklungen mitzubekommen. Nur wenig später stellt sie ein zweijähriges, berufsbegleitendes Pflegefachseminar auf die Beine, das sich vertiefend mit pflegefachlichen Fragestellungen wie Sturz, Atmung, Dekubitus beschäftigt.
Sie unternimmt mit den Seminarteilnehmern erste wissenschaftliche Gehversuche wie die Betten-Studie und die Atmungsstudie, die sie heute selbst als „vorwissenschaftliche Arbeiten“ bezeichnet – noch ist das Wissen um das methodische Vorgehen gering. In dieser Zeit entwickelt sie auch die Atemskala zur Einschätzung des Pneumonierisikos und führt die erweiterte Norton-Skala in Deutschland ein.
Ab 1990 übernimmt Christel Bienstein dann die Leitung des Bildungszentrums in Essen. Schon damals ist ihr klar: „Jetzt kommen die Hochschulen, jetzt müssen wir uns stärker auf wissenschaftliche Kurse konzentrieren.“ Sie selbst möchte beginnen zu promovieren – zu ihrem Herzensthema Basale Stimulation – und hat bereits eine Zusage für eine Förderung durch die Robert Bosch Stiftung.
„Dann machen Sie mal“
Gleichzeitig ist Christel Bienstein im Kontakt mit Konrad Schily, dem Gründungspräsidenten der Privatuniversität in Witten/Herdecke, und überzeugt ihn, den ersten pflegewissenschaftlichen Studiengang an einer Universität einzuführen. Er sagt daraufhin zu ihr: „Dann machen Sie mal!“ Und sie macht – zusammen mit drei Mitstreitern, unter anderem Angelika Zegelin. Gemeinsam planen sie, oft abends am Küchentisch, den ersten universitären Studiengang in der Pflege. Die Promotion hängt sie dafür an den Nagel und übernimmt 1994 die Leitung des neu gegründeten Instituts für Pflegewissenschaft.
Der Andrang der Interessenten ist groß. Aus 85 Bewerbern wählen sie knapp 30 Teilnehmer aus. Doch diese müssen viel Geduld beweisen, denn die Genehmigung des Studiums lässt lange auf sich warten. Erst drei Jahre später erkennt das NRW-Wissenschaftsministerium den neuen Studiengang an – und das nur unter der Voraussetzung, dass der Studiengang sofort auf Bachelor- und Masterbasis umgestellt wird. Viele Kollegen sind entsetzt, aber Christel Bienstein sieht es positiv: „Wir sind die ersten, die den Bachelor-Abschluss anbieten. Das ist ein tolles Angebot!“ So bringt sie es auch ihren Studierenden bei, die ja eigentlich auf ein Diplom hingearbeitet haben, und überzeugt sie von den Vorteilen. Alle Studierenden schließen nahtlos den Master an, viele von ihnen sind heute promoviert.
1997 baut sie das erste Doktoranden-Kolleg für Pflegewissenschaftler auf und kann dafür die bekannte Pflegewissenschaftlerin und Professorin Ruth Schröck gewinnen, die damals schon im Ruhestand ist. Zusammen schreiben sie einen Antrag bei der Robert Bosch Stiftung auf Förderung des ersten Graduierten-Programms für Pflegewissenschaftler – für die ersten drei Durchgänge werden die Studiengebühren für die angehenden Doktorand/innen komplett finanziert.
Ein fortwährender Kraftakt
Die darauf folgenden Jahren stehen im Zeichen von Forschung und Lehre. Der erste große Forschungsauftrag kommt aus dem NRW-Ministerium: eine Untersuchung über die Versorgung von Wachkoma-Patienten in Nordrhein-Westfalen, das Fördervolumen liegt bei rund 700 000 D-Mark. Es folgen Aufträge aus dem Bundesforschungsministerium, ein EU-Projekt und andere größere Aufträge, die die finanzielle Situation des Instituts sichern – dieses muss sich an einer freien Universität selbst finanzieren. Viele ehemalige Studenten werden als wissenschaftliche Mitarbeiter in die Projekte aufgenommen, das Institut wächst. „Ich habe mich oft gefühlt wie eine Unternehmerin, und ich muss sehen, dass das Unternehmen sich entwickelt – und das Unternehmen hieß Pflegewissenschaft“, sagt Bienstein.
Dennoch steht der Fortbestand des Instituts zwischenzeitlich auf der Kippe. 2003 beschließt die Universität, das Institut für Pflegewissenschaft aufgrund defizitärer Ergebnisse aufzugeben. Christel Bienstein wird darüber nicht informiert. Sie erhält die Information von einer Journalistin. Das ist der Moment, wo sie darüber nachdenkt, alles hinzuwerfen. Sie spielt schon länger mit der Idee, sich selbstständig zu machen und ein Institut für die Pflege von wahrnehmungsgestörten Patienten zu gründen. Gleichzeitig denkt sie: Das kannst du nicht machen, du hast so viele Kollegen und so ein tolles Team hier.
Plötzlich tritt ein ungewöhnlicher Retter auf den Plan. Ein Artikel über die geplante Schließung des Instituts für Pflegewissenschaft erscheint gleich am nächsten Tag. Der Geschäftsführer der renommierten Mercator-Stiftung liest ihn, trommelt noch am gleichen Tag seinen Vorstand zusammen und beschließt, das Institut für drei Jahre zu fördern. Seine Bedingung: Bienstein muss ihm versprechen, die Leitung beizubehalten. So bleibt sie, und es gelingt dem Institut in den folgenden drei Jahren, sich zu erholen, viele Forschungsprojekte umzusetzen und weiter zu wachsen.
Dennoch bleibt es ein Kraftakt, für die Pflege Forschungsgelder zu gewinnen. In schwachen Zeiten zahlt Christel Bienstein aus eigener Tasche, um Projekte nicht vorzeitig abzubrechen. Was sie hält, ist das Team, das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird, aber auch ihre Erfahrung, dass sich selbst in schwierigen Situationen fast immer eine Lösung finden lässt.
Unerschütterliche "Yes we can"-Ausstrahlung
Mehr als 20 Jahre hat Christel Bienstein das Institut – heute Department für Pflegewissenschaft – geleitet. Sie hat das Konzept der Basalen Stimulation auf die Pflege übertragen, die Kinästhetik nach Deutschland geholt und den ersten pflegewissenschaftlichen Studiengang an einer deutschen Universität auf die Beine gestellt. Und dies sind nur einige der Meilensteine, die sie für die Pflege erreicht hat. Ihr ging es immer darum, „Entwicklungen auf den Weg zu bringen“ und „Themen voranzutreiben, die aus Sicht der Patienten“ wesentlich sind. Dazu hat sie die Ärmel hochgekrempelt und losgelegt – ideenreich, oft unkonventionell, immer fokussiert. Nicht der Weg ist das Ziel – das Ziel ist das Ziel.
Ihre Nähe zur Pflegepraxis hat sie dabei nie verloren. Sie ist neugierig geblieben, frei von Dünkel und Eitelkeit. Die Pflegeszene dankt es ihr mit Begeisterung. Sie ist extrem beliebt, wohin sie auch kommt. Wer Christel Bienstein kennt, weiß: Sie hat diese unerschütterliche „Yes we can“-Ausstrahlung. Ihr geht es immer um die Sache, sie ist zugewandt und lösungsorientiert – unabhängig davon, ob sie einen Pflegeschüler oder einen bekannten Manager vor sich hat. Und sie versteht es, Anekdoten zu erzählen und einen ganzen Saal zum Lachen zu bringen – und dabei ganz nebenbei ihre Botschaft zu platzieren.
Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung bringt zu ihrem Ruhestand einen langen Artikel, um ihre außergewöhnliche Rolle für die Pflege zu würdigen. Franz Wagner, Geschäftsführer des DBfK, hält sie für „die bei den Pflegepraktikern bekannteste deutsche Pflegefachperson“. Er bewundert „ihre ungeheure Kreativität und ihre Fähigkeit, Rituale zu hinterfragen und ‚blinde Flecken‘ zu entdecken“. Ihr Weggefährte in der Basalen Stimulation Professor Andreas Fröhlich bezeichnet sie als „außerordentlich wache und begeisterungsfähige Frau, die auch in schwierigen Situationen einen robusten Optimismus an den Tag“ legt.
Für ihre Verdienste rund um die Pflegewissenschaft wurde sie 2004 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Jahr 2012 wurde sie zur Präsidentin des DBfK gewählt. Das will sie nach ihrer Wiederwahl in 2016 auch bis zum Jahr 2020 bleiben.
Verabschiedung in den Beinahe-Ruhestand
Die Leitung des Departments hat die 65-Jährige Ende Mai 2017 an einen Kreis von Kollegen abgeben. Kommissarisch – denn noch ist der/die Nachfolger/in von Christel Bienstein nicht bekannt. Solange wird sie auch im kommenden Wintersemester weiter als Lehrbeauftragte für das Bachelor-Programm der Pflegewissenschaft tätig sein.
Ihren Abschied von der Universität wollte sie bewusst nicht groß zelebrieren und hat einen Kongress anlässlich ihres Ausscheidens abgelehnt. Dafür haben ihre Kollegen aus dem Department sie mit einer besonderen Tour überrascht, einer Biografie-Reise in einem alten Bulli. Die führte von der Krankenpflegeschule Marl, wo sie ihre Ausbildung absolvierte, über ihren Heimatort, wo der Bürgermeister mit dem Mittagessen wartete, und das Bildungszentrum Essen zum Department in Witten/Herdecke. Hier endete der Tag dann mit einer großen Überraschungsparty. Viele Ehemalige waren extra dazu angereist. „Das war ein sehr ergreifender Tag“, erinnert sich Bienstein.
Jetzt freut sich die vierfache Großmutter auf mehr Zeit mit der Familie. Und sie möchte sich einen großen Wunsch erfüllen: „Ich möchte einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren“, verrät sie. Und wie es sich für eine Macherin gehört, ist die Reise schon fest geplant.