Die meisten Menschen möchten im Alter gerne so lange wie möglich in ihrem Haus oder ihrer vertrauten Wohnung leben. Wie dabei die Gemeindeschwesterplus konkret unterstützen kann, haben wir uns im rheinland-pfälzischen Landkreis Alzey-Worms angesehen. Die Gemeinde ist seit knapp einem Jahr Teil eines bundesweit einmaligen Modellprojekts.
Die 92-jährige Emma Steinhaus* wartet schon ungeduldig auf dem Stuhl an ihrem Küchentisch. Die Wohnungstür hat sie schon vor einer Weile geöffnet, weil sie die Klingel nicht mehr hört. Sabine Scriba ist heute 20 Minuten später als sonst bei ihr. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht wo Sie bleiben", sagt die rüstige Rentnerin fast vorwurfsvoll, strahlt dabei aber bis über beide Ohren. Sie freut sich auf den Besuch der Gemeindeschwesterplus. Alle zwei Wochen kommt sie für gut eine Stunde vorbei. Dann reden sie über die vergangene Woche, tauschen sich über Alltägliches, aber auch Sorgen aus.
Modellprojekt Gemeindeschwesterplus
Die Landesregierung Rheinland-Pfalz erprobt seit dem 1. Juli 2015 in sieben ausgewählten Regionen das Konzept der Gemeindeschwesterplus. In diesen Regionen mit neun geförderten Städten und Landkreisen sind zunächst bis Ende 2018 an insgesamt 13 Pflegestützpunkten solche Gemeindeschwesternplus im Einsatz. Die eingesetzten Pflegefachpersonen sind teils in Vollzeit, teils in Teilzeit tätig. Die für die Kommunen entstehenden Kosten werden vom Land für dreieinhalb Jahre zu 100 Prozent gedeckt.
„Wie geht es Ihnen denn heute?", erkundigt sich Scriba. Emma Steinhaus reibt sich ihre Beine. „Sie schmerzen so." Auch ihre linke Hand kann sie vor Arthrose kaum bewegen. „Gehen Sie bitte zum Arzt", rät Scriba eindringlich und fragt gleichzeitig, ob die ältere Dame die Fingerübungen mache, die sie ihr vor einiger Zeit gezeigt hatte. Wie beiläufig erkundigt sich Scriba auch um weitere wichtige Details: „Haben Sie die Kontinenzhosen mal ausprobiert, die ich Ihnen bei meinem letzten Besuch dagelassen habe?" oder „Haben Sie noch einmal über meinen Vorschlag mit dem Hausnotruf nachgedacht?" Der Hausnotruf würde die Rentnerin monatlich zusätzlich 35 Euro kosten. „Das ist viel Geld für sie", weiß Scriba. Dennoch rät sie dringend dazu. Im vergangenen Jahr ist Emma Steinhaus in ihrem Haus gestürzt. Eine Nachbarin hatte das damals mitbekommen und Hilfe geholt. Kinder, die nach ihr schauen könnten, hat sie nicht, ihre zwei Ehemänner sind schon lange verstorben. Ihre einzigen entfernten Angehörigen schauen einmal in der Woche nach ihr. Die meiste Zeit verbringt sie allein. „Deshalb versuche ich, Frau Steinhaus so oft es geht zu besuchen und sie zu unterstützen, wo ich kann", sagt Scriba. Denn aus ihrem Haus auszuziehen kommt für die rüstige Rentnerin nicht infrage.
Mit ihrem Angebot zu unterstützen, spricht Scriba eines der originären Ziele der Gemeindeschwesterplus an: Präventive Hausbesuche bei hochbetagten Menschen, die noch keine Pflege brauchen. „Ich versuche, ihr tägliches Leben zu erleichtern, ihre Bedarfe, aber auch Risiken zu erkennen, sie vor Stürzen, Mangelernährung und sozialer Isolation zu schützen und entsprechend gegenzusteuern", beschreibt Scriba. Was präventive Hilfe im Einzelfall bedeuten kann, verdeutlicht sie so: „Ich stelle beispielsweise Kontakt zu örtlichen Vereinen her, damit die Senioren wieder unter Menschen kommen und nicht zu Hause vereinsamen. Oder ich motiviere dazu, Seniorennachmittage zu besuchen." Wenn es darum geht, die tägliche Versorgung sicherzustellen, spricht Scriba auch schon mal Nachbarn direkt an – zum Beispiel, um Hilfe beim Einkaufen oder die Fahrt zum Friedhof zu organisieren.
Das kostenlose Angebot der Gemeindeschwesterplus richtet sich an alle über 80-Jährigen aus der Gemeinde, die noch zu Hause wohnen und noch keine pflegerische Hilfe bekommen. 16 Landkreise und sechs kreisfreie Städte hatten sich um die Teilnahme am Projekt beworben. Zu den letztlich neun ausgewählten Bezirken des Modellprojekts zählt auch der Landkreis Alzey-Worms. Dort rührt Scriba derzeit noch kräftig die Werbetrommel, in dem sie Seniorennachmittage besucht, bei den einzelnen Ortsbürgermeistern, Gemeinde- und Kirchenvorständen vorstellig wird. Gleichzeitig eruiert sie aber auch, welche Bedarfe es noch in den Gemeinden selbst gibt, wo bürgerschaftliches Engagement gut läuft oder wo zusätzliche Netzwerke und Fahrdienste sinnvoll wären. Primär informiert sie aber die Senioren über Freizeit- sowie Unterstützungsmöglichkeiten und fördert aktive Nachbarschaften. „Ich berate und vermittele entsprechende Kontakte, bin aber selbst nicht pflegerisch tätig", betont Scriba – obwohl sie das könnte. Die 50-Jährige ist examinierte Pflegefachkraft. Bis vor einem Jahr hat sie noch als Pflegedienstleiterin auf der Inneren Station im Klinikum Worms gearbeitet. Dann hat sie von dem Modellprojekt erfahren und sich als Gemeindeschwesterplus auf Teilzeitbasis beworben.
Nur Pflegefachpersonen sind eingebunden
Sie befürwortet, dass nur Fachkräfte diese Position übernehmen dürfen: „Wir haben den geschulten Blick und erkennen, wenn im Bewegungsablauf der Senioren oder bei ihrer Atmung etwas nicht stimmt", begründet sie. Ihr Fokus liege aber klar auf präventiven Maßnahmen. „Ich höre zu, kümmere mich, netzwerke", beschreibt die gebürtige Rheinhessin ihre Arbeit. In erster Linie gehe es darum, die Selbstständigkeit der Menschen vor Ort so lange wie möglich zu erhalten. Wenn es erforderlich ist, rate die Gemeindeschwesterplus beispielsweise, Hilfe über eine 24-Stundenkraft ins Haus zu holen. „Die Möglichkeiten und einzelnen Varianten bespreche ich immer gemeinsam mit dem Senior. Dabei bevormunde ich niemanden, sondern es ist mir wichtig, dass die betreffende Person auch nachvollziehen kann, warum ich ihr bestimmte Maßnahmen vorschlage", betont Scriba.
Im Fall von Elisabeth Faupel* ist das ein Prozess, der erst langsam in Gang kommt. Was passiert, wenn ich pflegebedürftig werde? Wer pflegt mich? Wie möchte ich gepflegt werden? – Über solche Fragen hatte sich die 91-Jährige bis vor Kurzem keine Gedanken gemacht. Sie funktionierte einfach immer: sei es bei der Feldarbeit auf ihrem ehemaligen Weingut, bei der Betreuung ihres alkoholabhängigen 65-jährigen Sohnes oder als ihr Mann 2012 verstarb. Im ersten Gespräch mit der Gemeindeschwesterplus brachen all diese Belastungen aus ihr heraus. „Ich merkte, wie wichtig es für die alte Dame war, offen mit einer Person über ihre Sorgen sprechen zu können, die nicht zur Familie gehört", beschreibt Scriba. Gleichzeitig sei es in diesem ersten Gespräch wichtig, das Fundament für ein weiteres vertrauensvolles Miteinander zu legen. „Schließlich geht es mir darum, den Senioren wirkliche Hilfestellungen zu geben und ihnen nicht etwas ‚anzudrehen‘ dessen Nutzen sie nicht nachvollziehen können." Faupel hatte aus dem Gemeindeblatt von dem Angebot erfahren. „Ich war so hilflos und wollte mich einfach mal informieren, welche Möglichkeiten ich überhaupt habe.", sagt sie.
Inzwischen besucht sie die Gemeindeschwesterplus zum fünften Mal. Ab nächster Woche bekommt sie Unterstützung von einer 24-Stunden-Hilfskraft aus Rumänien. Die Vor- und Nachteile bespricht sie mit Scriba. „Es ist so schwer, sich zu entscheiden. Vielleicht wäre betreutes Wohnen besser für mich", sagt Faupel. Eins steht jedenfalls fest für sie: „Im kommenden Winter will ich mich nicht mehr allein um Haus und Hof kümmern müssen." Damit sie das auch nicht mehr muss, versucht die Gemeindeschwesterplus ihre Bedarfe zu ermitteln und etwaige Kontakte herzustellen.
Mittlerweile hat Scriba seit Januar rund 40 Hausbesuche getätigt und leistet damit als eine der ersten Gemeindeschwesternplus Pionierarbeit. „Welch guter Ansatz sich hinter dem Projekt verbirgt, wird mir dabei immer bewusster", gesteht sie und erläutert ihre Motivation: „Viele ältere Personen wissen gar nicht, welche Möglichkeiten sie haben, Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern oder sogar ganz zu vermeiden. Sie dabei zu beraten und ihnen überhaupt erst einmal die Thematik bewusst zu machen, ist nicht nur eine sehr sinnvolle Arbeit, sondern bereitet mir auch viel Freude."
Spezielle Fortbildungen
Damit sie und die anderen 15 Gemeindeschwesternplus des Projekts während ihrer Hausbesuche die entscheidenden Informationen von den Senioren erhalten, um etwaige Risiken zu erkennen, gab und gibt es regelmäßige Schulungen. Dort lernen die Pflegefachpersonen, wie systemische Beratung funktioniert, gehen gemeinsam exemplarische Fallbesprechungen durch oder besprechen auch, wie das Angebot der Gemeindeschwesterplus noch bekannter gemacht werden kann.
Die Fortbildungen erfolgen an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch Theologischen Hochschule in Vallendar. Dort und in Köln ist auch das Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. (DIP) angesiedelt, das die Fortbildungen in Vallendar ausführt und das Projekt wissenschaftlich begleitet. Die Gemeindeschwesterplus schließe eine wichtige Versorgungslücke – besonders in ländlich geprägten Gebieten, sagt DIP-Direktor Prof. Dr. Frank Weidner. „Rheinland-Pfalz fördert hier ein Projekt, das für alle Bundesländer einmalig ist, denn es setzt auf die Kompetenzen der Pflege in der präventiven und gesundheitsförderlichen Arbeit mit hochbetagten Menschen und kann nun neue Ansätze in der Beratung, Unterstützung und Vernetzung in den Kommunen erproben."
Dass diese Unterstützung tatsächlich gewinnbringend für die Senioren ist, kann Scriba schon jetzt bestätigen. „Ich hoffe, dass das Projekt bundesweite Nachahmer findet, denn es steckt wirklich ein sinnvolles Konzept dahinter und ich bin froh, von Beginn an dabei sein zu dürfen", sagt die Gemeindeschwesterplus und macht sich auf den Weg zu ihrem nächsten Hausbesuch.