Um sturzgefährdete Patienten und Bewohner zu erkennen, sollte das Sturzrisiko eingeschätzt werden. Aber wie? Risikoskalen sind wenig zielführend. Wichtiger ist es, dass Pflegende die typischen Risiken kennen und diese flexibel in der konkreten Pflegesituation anwenden können. Dazu gehört auch, bei erfolgten Stürzen das Sturzmuster genau zu analysieren.
Stürze mit Verletzungsfolge haben einen klaren Altersbezug. Mehr als 120.000 ältere Menschen in Deutschland erleiden jährlich als Folge eines Sturzes eine Hüftfraktur. Von diesen ist über die Hälfte nach dem Ereignis erheblich bewegungseingeschränkt. Etwa 20 Prozent werden dadurch sogar derart pflegebedürftig, dass ein Umzug in eine Pflegeeinrichtung nötig wird (Freiberger 2014, DTB 2010).
Häufig kommt es nach erfolgten Stürzen zu einer Abwärtsspirale aus Sturzangst mit Bewegungseinschränkung und daraus resultierend zu einem höheren Sturzrisiko. Die Sturzangst beherrscht den Lebensalltag und mündet nicht selten in der völligen Aufgabe von Selbstständigkeit und sozialer Teilhabe (Freiberger 2014). Für Bewohner von Pflegeheimen gehen Stürze besonders häufig mit Krankenhausbehandlung und weiteren Einbußen in den Aktivitäten des täglichen Lebens einher.
Eine Studie in drei deutschen Pflegeheimen hat eine Sturzrate von 2,6 pro Bewohner und Jahr ermittelt (Becker et al. 2005). In einer schwedischen Studie wurden innerhalb von sechs Monaten bei 40 Prozent aller Bewohner und bei 62 Prozent der Menschen mit Demenz Stürze ermittelt (Eriksson 2008 et al.). Die Pflegepersonen in den Einrichtungen belasten sich zudem oft mit dem Vorwurf, im Vorfeld nicht adäquat reagiert zu haben und der Angst vor rechtlichen Konsequenzen (Huhn 2009).
Beobachtungen der Bewegungsabläufe alter Menschen und der Sturzgeschehen haben gezeigt, dass ein Großteil der Stürze in folgenden Situationen passieren:
- beim Aufstehen aus dem Sitzmöbel,
- beim Erreichen der Standstabilität,
- beim Losgehen beziehungsweise während der ersten Schritte,
- beim Richtungswechsel und
- beim Hinsetzen.
Der Grund: Bei diesen Bewegungen handelt es sich um sehr komplexe Aufgaben mit hohen Anforderungen an Kraft und Gleichgewicht (DTB 2010, Becker et al. 2005). Deshalb muss diesen Bewegungsabläufen eine besondere Aufmerksamkeit zukommen, um damit verbundene Risiken zu vermindern.
Begriffsbestimmungen
Stürze und Beinahe-Stürze
Unter einem Sturz wird ein Ereignis verstanden, in dessen Folge eine Person unbeabsichtigt auf dem Boden oder auf einer tieferen Ebene aufkommt. Ein Sturz liegt auch dann vor, wenn der Betroffene den Boden oder die tiefere Ebene nicht mit dem ganzen Körper berührt (DNQP 2013).
In einigen Publikationen wird von „Beinahe-Stürzen" gesprochen. Dabei fallen die Erläuterungen hierzu unterschiedlich aus (ebenda). Wahrscheinlich lassen sich unter dieser Bezeichnung solche Ereignisse zusammenfassen, bei denen die Person zu fallen droht, der Sturz aber abgewendet werden kann. Dabei kann das Sturzereignis sowohl durch die Reaktion der Person selbst als auch durch eine Begleitperson verhindert werden. In beiden Fällen zeigen sich jedoch vorhandene und nutzbare Ressourcen.
Sturzassessment
Der Begriff „Assessment" bezeichnet die Sammlung und Interpretation von klinischen Informationen oder die Bewertung des Gesundheitszustandes einer Person durch ein Mitglied eines Gesundheitsberufes (Reuschenbach 2011, Georg & Frowein 2001). Es handelt sich demnach um eine differenzierte, tiefer gehende Erfassung und Untersuchung relevanter Problembereiche. Die Ergebnisse dienen als Grundlage der zu planenden Interventionen und Hilfsangebote. Da Stürze ein multifaktorielles Geschehen darstellen, in das sowohl personen- und umfeldbezogene wie auch situationsabhängige Risiken einfließen, muss die Risikobewertung entsprechend gestaltet werden (Huhn 2013).
Risikoskalen – oft unreflektierte Anwendung
Der Begriff des Assessments wird in den Pflegeberufen inzwischen inflationär für alle möglichen Vorgehensweisen zur Risikoeinschätzung verwendet. Insbesondere wird er mit standardisierten Risikoerhebungsbögen oder Risikoskalen gleichgesetzt. Bei solchen Erhebungen handelt es sich um sogenannte Assessment-Instrumente, die ein zu erwartendes Sturzrisiko vorhersagen sollen, möglichst sogar die Sturzwahrscheinlichkeit und Höhe des Risikos.
In einer Übersichtsarbeit haben Köpke und Meyer (2009) insgesamt 78 verschiedene Sturzrisikoskalen identifiziert und in die anschließende Untersuchung 28 Skalen aufgenommen. Keine dieser Skalen erfüllte die Kriterien Genauigkeit und Vorhersagefähigkeit. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass sich aus der Verwendung von Risikoskalen kein Nutzen ableiten lässt. Aus pflegewissenschaftlicher Sicht kann deshalb keine Empfehlung für den Einsatz von Sturzrisikoskalen gegeben werden und muss von deren Einsatz abgeraten werden.
In einer randomisiert-kontrollierten Studie haben Köpke und Meyer (ebenda) zudem die Wirkung der relativ bekannten „Downton-Skala" überprüft. Diese Studie hat alle vorherigen Annahmen zur Vorhersagefähigkeit bestätigt. Weder lässt sich eine sichere Vorhersage machen, noch kommt es bei der Erhebung mittels dieser Skala zu einem minderen Sturzaufkommen. Auch das häufig verwendete Argument für den Skaleneinsatz, wonach sich durch deren Einsatz das Problembewusstsein der Anwender verbessere, konnte nicht bestätigt werden.
Schon in der Erstveröffentlichung des Expertenstandards „Sturzprophylaxe in der Pflege" des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP 2006) hat die Expertengruppe keine Empfehlung für die Verwendung von Risikoskalen gegeben. Dies wurde auch in der Aktualisierung (DNQP 2013) bestätigt. Dennoch erfreuen sich solche Skalen immer noch besonderer Beliebtheit. Das wundert umso mehr, als den Expertenstandards eine hohe Verbreitung nachgesagt wird.
Möglicherweise sind Pflegepersonen und Qualitätsverantwortliche derart skalenfreudig, weil Skalen einfach auszufüllende Vorlagen darstellen. Sie genügen den Dokumentationsanforderungen zur Risikoeinschätzung der meisten Prüfinstanzen und vermitteln den Anwendern scheinbar Sicherheit. In der Umgangsweise mit den Risikoskalen zeigt sich jedoch in der Praxis überwiegend, dass Skalen selten reflektiert angewendet werden und dass deren Ergebnisse keine Relevanz für weitere Entscheidungen haben. Erhebungsinstrumente, die keine Konsequenzen nach sich ziehen, sind jedoch ineffizient und bedeuten lediglich die Verschwendung ohnehin knapper Ressourcen.
Klinische Einschätzung ist entscheidend
Das multifaktorielle Sturzgeschehen macht die Einschätzung des Sturzrisikos zu einer komplexen und anspruchsvollen Aufgabe. Im Vordergrund steht das Wissen um mögliche Risikofaktoren. Die Expertengruppe des DNQP hat in der aktuellen Standardversion (2013) auf der Basis einer umfangreichen Literaturstudie drei Kategorien zu Risikofaktoren gebildet, um eine Einschätzung vorzunehmen.
- Personenbezogene Risiken,
- Medikamentenbezogene Sturzrisikofaktoren,
- Umgebungsbezogene Sturzrisiko-faktoren.
Die personenbezogenen Risiken sind im Wesentlichen bereits in der Erstveröffentlichung des Expertenstandards enthalten. Dazu gehören insbesondere Einschränkungen in den AEDLs, Einschränkung der Gehfähigkeit, Schwindel, ausgeprägte köperliche Schwäche und Sehbeeinträchtigungen. Aber auch Personen, die an einer Inkontinenz leiden, sind besonders gefährdet, ebenso wie Personen mit akuten oder chronischen kognitiven Störungen.
Ein besonderer Stellenwert kommt in der Aktualisierung den Medikamenten zu, die als identifizierter Risikofaktor stärker in den Fokus rücken und eine eigene Kategorie bilden.
Im Bereich der umfeldbezogenen Risiken sind ausdrücklich freiheitsentziehende Maßnahmen (Fixierungen) aufgenommen worden. Hierzu liegen wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse vor, die belegen, dass auch durch eine kurzfristige Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten ein Verlust an körperlichen Fähigkeiten auftritt und somit das Sturzrisiko steigt (DNQP 2013, Huhn 2009). Auch finden sich ausreichend Nachweise, dass durch freiheitsentziehende Maßnahmen das Sturzrisiko nicht gesenkt werden kann (Köpke et al. 2012).
Für die Gefahren in der Umgebung liegen nur limitierte Aussagen vor, jedoch werden sie wegen der hohen Praxisrelevanz mit in die Risikobewertung aufgenommen. Hervorzuheben sind hierbei steile Treppen, fehlende Haltegriffe, schlechte Lichtverhältnisse, schwache Kontraste in Bodenbelägen oder sonstige, vor allem neu auftretende und kurzfristige Veränderungen der Umgebung. Deshalb stellen auch die Aufnahme in das Krankenhaus, ein Zimmerwechsel oder die Veränderung der Bettposition Risikosituationen dar (Huhn 2009).
Die durch das DNQP beschriebenen Risikokategorien dienen als Hintergrundwissen für Pflegepersonen und werden flexibel in der konkreten Pflege- und Alltagssituation angewendet. Im Vordergrund des Risikoassessments steht jedoch die klinische Einschätzung durch Pflegefachpersonen. Hier stärkt der Expertenstandard die Fachexpertise der Berufsgruppen und löst sich von starren abzuhakenden Vorgaben. Dadurch kann der individuellen Konstellation von Sturzrisiken variabel begegnet werden. Berücksichtigt werden muss zudem, ob ein mögliches Risiko immer oder nur in bestimmten Situationen besteht und ob ein Risiko zum Beispiel durch Hilfsmittel bereits kompensiert wird (Eriksson et al. 2008).
Erfolgte Stürze genau analysieren
Wenn es zu einem Sturz gekommen ist, wird das Sturzgeschehen mithilfe eines Sturzereignisprotokolls analysiert. Das Protokoll soll durch gezielte Fragen helfen, die Ursachen für den Sturz herauszufinden und ein mögliches Sturzmuster aufzudecken. Hierbei werden unterschieden:
- das individuelle Sturzmuster einer Person und
- das institutionelle Sturzmuster verschiedener Personen.
Werden die verschiedenen Stürze einer Person verglichen, ergeben sich oft Übereinstimmungen im Sturzgeschehen. Ähnlich ist es beim Vergleich von Stürzen unterschiedlicher Personen. Zumindest die Sturzorte, Aktivitäten vor dem Sturz oder Sturzzeiten stimmen häufig überein. Durch das Erkennen der Sturzmuster ergeben sich Ansatzpunkte für die Prävention (Huhn 2009, Eriksson et al. 2008).
Zur Informationssammlung und Bewertung des Sturzgeschehens ist es unerlässlich, den Sturzort aufzusuchen. So können die umgebungs- und situationsbezogenen Risiken am besten erkannt werden. Wenn die Möglichkeit besteht, soll das Sturzgeschehen mit der betroffenen Person gemeinsam rekapituliert werden, der Bewegungsablauf wiederholt und gegebenenfalls eine Verbesserung durch ein Hilfsangebot ausprobiert werden. So kann die Verbindung zwischen den personenbezogenen Risiken und der Situation hergestellt und vielfach der konkrete Unterstützungsbedarf direkt erhoben und ausprobiert werden (Huhn 2009).
Analyse von Sturzmustern – ein Fallbeispiel
In einer geriatrischen Klinik mit hohem Sturzaufkommen wird beobachtet, dass die meisten Stürze im Zimmer unmittelbar nach dem Aufstehen aus dem Bett vorkommen. Die Zweibettzimmer waren nach klassischem Muster eingerichtet: Die beiden Betten standen mit dem Kopfteil unter der Lichtleiste. Dadurch ergab sich ein Bettenabstand von einem Bett zum anderen von zirka 1,40 Meter. Der Abstand zu der jeweiligen Zimmerseite war ähnlich groß.
Beobachtet man nun den Bewegungsablauf fällt auf, dass die Patientinnen direkt nach dem Aufstehen aus dem Bett und auf dem weiteren Weg Richtungswechsel vornehmen müssen, um zum Bad oder zur Zimmertür zu kommen.
Versuchsweise wurde daraufhin das Bett, das der Tür näher steht, nicht mit dem Kopfteil, sondern mit der Längsseite zur Wand gestellt. Damit konnten beide Patientinnen nach dem Verlassen des Bettes vor dem ersten Richtungswechsel einige Meter geradeaus gehen, was ihnen Stabilität gegeben hat. Die Anforderungen an den Bewegungsablauf sind weniger komplex und leichter zu bewältigen. Inzwischen werden die meisten der Krankenzimmer dieser Abteilung so gestaltet.
Wichtig ist die klinische Einschätzung vor Ort
Ein Sturzassessment dient der Informationssammlung, der systematischen Auswertung und der Interpretation der gewonnenen Daten. Dabei müssen die personen-, umgebungs- und situationsbezogenen Risiken berücksichtigt werden. Der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege liefert hierzu wichtige Grundlagen. Er ersetzt jedoch nicht die klinische Einschätzung vor Ort. Dazu sind die Beobachtung der Bewegungsabläufe betroffener Personen, die Analyse erfolgter Stürze und die Begehung des Umfeldes unabdingbar. Die Erfassung eines möglichen Sturzrisikos stellt hohe Anforderungen an die Fachlichkeit der Pflegepersonen. Von der Anwendung von Risikoskalen wird aus pflegefachlicher Sicht abgeraten, weil sich keine Positivwirkung erkennen lässt. Mittels für den Pflegebereich standardisierter Erhebungsinstrumente lassen sich die Risiken nicht handlungsleitend ermitteln. Wenn das Sturzrisiko zudem wie hier beschrieben erhoben wird, bedeutet das einen nicht unerheblichen Ressourceneinsatz. Dieser bestätigt sich wahrscheinlich nicht unmittelbar durch Verringerung der Sturzrate, sondern folgt einem langfristigen Ziel. Er stellt jedoch eine unerlässliche Vorarbeit dar.
Beauchet O, Annweiler C, Dubost V et al. (2009): Stops walking when talking; a predictor of falls in older adults? Euro J Neurology (7): 786–795
Becker C, Loy S, Sander S et al. (2005): An alogrithm to screen longterm care residents at risk for accidental falls. In: Aging Clin Exp Res 17 (3): 186–192
Deutscher Turner-Bund (Hg.) (2010): Sturzprophylaxe Training. Wiesbaden: Meyer & Meyer
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) (Hrsg.) (2006): Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege. Osnabrück
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) (Hrsg.) (2013): Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege. 1. Aktualisierung. Osnabrück
Eriksson S, Gustafson Y, Lundin-Olsson L (2008): Risk factors in falls for people with and without a diagnosis of dementia in residental care facilities. In: Arch Gerontol Geriatr 46 (3): 293–306
Freiberger E (2014): Instabilität. In: Pantel, Schröder, Bollheimer, Sieber, Kruse: Praxishandbuch Altersmedizin. Stuttgart: Kohlhammer
Georg J, Frowein M (2001): Pflegelexikon. Bern: Huber
Huhn S (2009): Zeitgemäße Sturzprophylaxe: Sturzrisiken erfolgreich reduzieren. In: Die Schwester Der Pfleger 48 (2): 14–19
Huhn S (2013): Einem Sturz gezielt vorbeugen. Expertenstandard Sturzprophylaxe. In: Die Schwester Der Pfleger 52 (5): 40–44
Köpke S, Meyer G (2009): Sturzereignis Assessment. Vorhersage von Sturzereignissen – Instrument oder Einschätzung? Geriatrie Journal 11 (5): 35–38
Köpke, S et al. (2012): Effect of a Guidline-based Multicomponent Intervention in Use of Physical Restraints in Nursing Homes. A Cluster Randomized Controlled Trial. In: JAMA 307: 2177–2184
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