• 22.05.2017
  • Story
Typ-1-Diabetes bei Kindern

Den Diabetes managen

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 5/2016

Die Zahl der Diabetiker im Kindes- und Jugendalter steigt. Betroffene müssen lebenslang konsequente Maßnahmen durchführen, um ihren Blutzucker in Grenzen zu halten. Spezialisierte Diabeteszentren richten ihren Fokus vor allem darauf, die Familien bestmöglich anzulernen und psychisch zu stärken.

Auf dem Schrank direkt neben der Küchentür der Familie W. liegt ein kleines Heft. Darin stehen die Blutzuckerwerte und die gespritzten Insulin-Dosen von Timon. Seit etwa zwei Jahren weiß der heute Sechsjährige, dass er an Typ-1-Diabetes leidet (siehe Kasten). Schon einige Monate zuvor war seiner Mutter aufgefallen, dass der Junge mehr Durst hatte als gewöhnlich und dass er wieder anfing, ins Bett zu machen. Der Kinderarzt wies in seinem Urin zunächst Glukose nach – ein Zeichen für einen zu hohen Blutzuckerwert, weil die Niere bei normalen Werten keinen Zucker ausscheidet. Doch eine Kontrolluntersuchung gab wieder Entwarnung. „Da hat die Bauchspeicheldrüse vorübergehend nochmal ausreichend Insulin produziert", erklärt Andreas W., der Vater von Timon. Die ganze Familie kennt sich inzwischen gut aus mit der Krankheit.

„Fit gemacht" hat sie auch das Team vom Diabeteszentrum der Darmstädter Kinderkliniken Prinzessin Margaret. Etwa ein halbes Jahr nach den ersten Symptomen stellte Timons Kinderarzt die Diagnose und wies ihn in die Klinik ein. Im Rahmen des stationären Aufenthaltes stand neben der Einstellung seines Blutzuckers durch eine Insulintherapie die Aufklärung der Familie im Vordergrund. „Wir kannten Diabetes zu diesem Zeitpunkt nur im Zusammenhang mit älteren Menschen", erzählt Andreas W., „in der Klinik haben meine Frau und ich viele Gespräche geführt und uns mit dem Thema auseinandergesetzt."

Wie gut die Familien betroffener Kinder mit der chronischen Erkrankung zurechtkommen, hängt wesentlich von der ersten Zeit nach der Diagnosestellung ab. „Viele Eltern fühlen sich überfordert und weinen erst einmal viel", erzählt Martina Meuren, Kinderkrankenschwester auf der Station A der Darmstädter Kinderkliniken. Dann gelte es, ihnen die Angst zu nehmen und geduldig zu erklären, dass man mit Diabetes heute ganz gut leben könne. Seit 26 Jahren arbeitet die 56-Jährige bereits auf der Station und hat in dieser Zeit unzählige Kinder mit der Krankheit „großwerden" sehen. Denn die Patienten kommen nicht nur nach der Diagnosestellung, sondern im Verlauf auch zu weiteren Schulungen und mitunter mit Blutzuckerentgleisungen oder zur Therapie anderer Erkrankungen.

Tatsächlich stehen den Betroffenen heute gute Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zwar ist der Typ-1-Diabetes bis heute nicht heilbar, wenn auch viele Forschungsansätze, wie die Transplantation von Insulin-produzierendem Inselgewebe, einen Weg dafür suchen. Dennoch haben Typ-1-Diabetiker heute durch gut verträgliche synthetische Insuline und technische Hilfsmittel, wie leicht händelbare Blutzucker-Messgeräte, Insulinpumpen und Pens gute Voraussetzungen, trotz den Umständen eine gute Lebensqualität zu erreichen und durch konsequente Messungen und entsprechende Insulingaben gefährliche Entgleisungen und langfristige Folgeschäden zu verhindern.

Diabetes mellitus - der "honigsüße Durchfluss"

Diabetes mellitus ist eine chronische Stoffwechselerkrankung, bei der es zu einem Anstieg der Glukose (Traubenzucker, unser wichtigster Energielieferant) im Blut kommt. Weil Glukose osmotisch wirksam ist, zieht es vermehrt Flüssigkeit aus dem Gewebe, die dem Körper dann über die Niere verloren geht. Symptome sind daher starker Durst, eine hohe Urinausscheidung und eine trockene Haut. Unbehandelt kann der Blutzucker immer weiter steigen und schließlich ein lebensbedrohliches diabetisches Koma auslösen. Außerdem führen hohe Werte langfristig zu Gefäß- und Nervenschäden, erhöhen das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen und können Nieren- oder Augenschäden verursachen. Der Begriff Diabetes mellitus stammt aus dem Griechischen und bedeutet „honigsüßer Durchfluss". Im Mittelalter diagnostizierten Ärzte die Krankheit aufgrund des süßen Uringeschmacks. Heute stehen dafür Schnelltests zur Verfügung. Auch den Blutzuckerwert kann heute jeder medizinische Laie – mithilfe kleiner Geräte – leicht selbst aus einem Bluttropfen bestimmen. Ärzte messen außerdem bestimmte Langzeitwerte, wie das HbA1, die Rückschluss über den durchschnittlichen Blutzucker der vergangenen Wochen liefern. Zu einem Diabetes kommt es zum Beispiel, wenn die Bauchspeicheldrüse kein oder nicht mehr genug Insulin produziert. Dieses Hormon ist dafür zuständig, den Zucker aus dem Blut in die Zellen zu schleusen. Typ-1-Diabetes entsteht durch einen Autoimmunprozess, der die Insulin-produzierenden Betazellen in den Langerhansschen Inseln der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) zerstört. Warum das Immunsystem die Zellen angreift, ist bisher nicht bekannt. Experten vermuten, dass unter anderem bestimmte Infektionen eine Rolle spielen. Bei dem Typ-2-Diabetes hingegen bildet die Bauchspeicheldrüse zwar Insulin. Es verliert aber zunehmend seine Wirksamkeit. Während Typ-1-Diabetes die Lebensgewohnheiten nach dem heutigen Wissensstand keine Rolle spielen, begünstigen den Typ-2-Diabetes bestimmte Faktoren wie Übergewicht, Bewegungsmangel und eine ungesunde Ernährung.

Ganz normale Kinder

Je schneller die Familien die Krankheit akzeptieren, desto eher seien sie offen für die notwendigen Maßnahmen. Etwa zehn bis 14 Tage bleiben die Kinder nach der Erstdiagnose in der Klinik, je nach Alter in Begleitung eines Elternteils. Bei Timon fiel der Aufenthalt 2013 sogar über Weihnachten. Da habe die Station einen Baum aufgestellt und die Familie mitsamt Timons älterem Bruder und Großeltern zusammen gefeiert, erzählt der Vater. Alles sollte so normal wie möglich weiterlaufen, damit das Kind nicht das Gefühl bekommt, etwas Schlimmes sei eingetreten. Zwar seien in der ersten Zeit bei seiner Frau schon ab und an ein paar Tränen geflossen, erinnert sich Andreas W. Doch Timon habe davon nichts mitbekommen. „Du bist ein ganz normaler Junge", habe der Vater ihm erklärt, „nur produziert dein Körper kein Insulin mehr, aber dafür hast du jetzt deine Pumpe als Freund."

Schon von Anfang an habe der damals Vierjährige seinen Blutzucker selbst gemessen. „Wir lernen Kinder etwa ab drei Jahren dazu an", sagt die Kinderkrankenschwester Meuren, „zuerst führen wir ihnen die Hände, später machen sie das ganz allein." Wenn ein Patient das nicht wolle, dann müssten die Eltern das übernehmen. Manchen falle der Stich in den Finger zunächst schwer. Die Kinder können das dann an einem großen Teddy, die Eltern an sich selbst ausprobieren. „Mit der Zeit ist das in der Regel kein Problem mehr", so Meuren.

Etwa 250 Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus im Quartal behandelt und betreut das Zentrum. Mit zum Team gehören neben Pflegekräften und Ärzten auch Fachpsychologen für Diabetes und Diabetesberaterinnen. Die Kinderkrankenschwester Stephanie Kempe hat sich schon in den 1990ern von der Deutschen Diabetes Gesellschaft zur Beraterin ausbilden lassen, dann das Zentrum mit aufgebaut und schult seither die stationären und ambulanten kleinen Patienten, ihre Eltern, aber auch Erzieher und Lehrer.

Eltern benötigen viel medizinisches Know-how

Mindestens 30 Stunden Unterricht bekommen die Familien als Grundschulung im Rahmen des stationären Aufenthaltes nach der Diagnosestellung. „Sie müssen bei der Entlassung in der Lage sein, den Diabetes zu managen", erzählt sie. Dazu gehören unter anderem ein gutes Verständnis der Krankheit und der medizinischen Zusammenhänge, was eine Unterzuckerung und eine Überzuckerung bedeuten und welche Maßnahmen sie erfordern. „Sie müssen wissen, wie Insulin wirkt, welche Lebensmittel sie abwiegen müssen, was Broteinheiten sind und wie die Insulindosis entsprechend der Ernährung berechnet wird", zählt Kempe auf, „und sie müssen den Blut- zucker messen und Insulin verabreichen lernen." Kleinkinder bekommen in der Regel von der Krankenkasse eine Pumpe bezahlt, die ihren Körper kontinuierlich mit Insulin versorgt. Dann ist es Aufgabe der Eltern, die Katheter zu wechseln und zu den Mahlzeiten und bei Bedarf Boli zu geben. Ohne Pumpe müssen sie das synthetische Hormon entsprechend mehrmals täglich injizieren.

Typ-1-Diabetes kann zwar prinzipiell in jedem Alter auftreten, gehäuft erkranken aber Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Vor allem bei Kleinkindern steigt die Zahl der Neuerkrankungen. Je nach Alter bei der Manifestation gibt es laut Kempe Besonderheiten. So seien Kleinkinder in ihrem Essverhalten oft schwer kalkulierbar. Auf ein „Ich habe einen Riesenhunger" seien sie manchmal trotzdem schon nach wenigen Löffeln satt. Da mache es unter Umständen Sinn, das Insulin erst nach dem Essen zu spritzen. „Grundschulkinder sind hingegen in der Regel sehr gut zu händeln", erzählt Kempe. Sie würden sich über kleine Trostgeschenke freuen und seien stolz, wenn sie den Blutzucker selbst messen. Außerdem seien die Eltern „dicht dabei".

Kein Platz mehr für Diabetes

Das ändere sich aber gewöhnlich in der Jugend. „Pubertierende wollen autonom sein und ihre Eltern nicht mehr immer mit im Boot haben", erzählt sie. Hinzu kämen weitere Schwierigkeiten. Teenager haben ein starkes Bedürfniss, nicht anders zu sein als ihre Freunde. Heranwachsende machen oft erste Erfahrungen mit Alkoholkonsum. „Besonders in Verbindung mit Tanzen kann das zu Unterzuckerung führen", so Kempe. Denn wenn die Leber mit dem Abbau des Alkohols beschäftigt sei, vermindere das die Zuckerneubildung, und durch die Bewegung verbrauche der Körper viel Energie. Auch wollen Jugendliche möglichst frei von Zwängen, ungeplant in den Tag leben und unbeschwert sein. „Diabetes und Pubertät, das passt nicht zusammen", sagt Kempe.

Auch eine Reihe anderer Faktoren erschweren das Management. Bereits bestehende Probleme in der Familienstruktur ließen oft nicht ausreichend Platz für den Diabetes. So seien etwa berufstätige Mütter auf ein gutes Netzwerk und die Kooperation der Erzieher in Kindergärten angewiesen, so die Beraterin.

„Hypomännchen" zeigt Symptome einer Unterzuckerung

Damit die Familien auch in schwierigen Situationen bestmöglich zurechtkommen, bietet das Zentrum ihnen eine Reihe von Unterstützungen, darunter Schulungen wie „Fit für die Schule", in dem die Diabetesberaterinnen Kindern Tipps geben, wie sie ihren Freunden erklären können, was an ihnen besonders ist, und wann sie etwa im Kindergarten einer Erzieherin Bescheid sagen müssen. Um die körperlichen Symptome einer Unterzuckerung anschaulich zu erklären, hängt im Zentrum ein von Kindern gemaltes „Hypomännchen", mit den zu den verschiedenen Körperstellen gehörenden Erscheinungen.

Timon kennt sich inzwischen schon so gut damit aus, dass er eine Unterzuckerung schon bei noch fast normalen Werten spürt. „Er hat dann ein komisches Gefühl und kann das schon selbst managen", erzählt sein Vater. Einmal habe er angerufen und gesagt: „Mama, ich hab 65 gehabt und zwei Traubenzucker gegessen."

Trotzdem müssen auch Erzieher und Lehrer entsprechend über die Erkrankung Bescheid wissen. Timons Vater hat das tatkräftig selbst in die Hände genommen, einen Vortrag im Kindergarten seines Sohns gehalten und die wichtigsten Punkte schriftlich zur Verfügung gestellt. Das Zentrum bietet ebenfalls regelmäßig entsprechende Kurse.

Auch für ältere Kinder gibt es dort Angebote. Im „Wake up"-Kurs finden Jugendliche verständnisvolle, professionelle Gesprächspartner für ihre Probleme und bleiben schon mal eine gewisse Zeit danach mit anderen Betroffenen über eine WhatsApp-Gruppe in Ver- bindung. Mit dem Workshop 16+ möchte das Zentrum die Heranwachsenden schließlich an ihre Zukunft als Erwachsene heranführen. Dort besprechen die Beraterinnen allgemeine Fragen, wie „Wie lief es bisher?" oder „Wo siehst du dich in der Zukunft?". Aber auch konkrete Themen, zum Beispiel Sexualität und Schwangerschaft, kommen zur Sprache. Mit den Eltern bleibt das Team ebenfalls weiter in Kontakt und bespricht die anfallenden Probleme und bietet psychologische Unterstützung.

Das Beste daraus machen

Timon steht die Pubertät noch bevor. Doch sein Vater will es gelassen angehen. Es gebe Dinge, sagt er, die könne man nicht beeinflussen. Die müsse man hin- nehmen und das Beste draus machen. Nur ein einziges Mal habe Timon bisher gesagt, er wolle kein Diabetiker mehr sein. „Ich habe ihm gesagt, dass er sich das zwar nicht aussuchen könne, aber dass es auch nichts Schlimmes sei", erzählt Andreas W. Die Familie hat den Diabetes von Timon akzeptiert und die notwendigen Maßnahmen in ihren Alltag integriert.

Doch trotz aller Konsequenz: Nicht immer gelingt es, die Blutzuckerwerte in einem „normalen" Bereich zu halten. Aber starke Abweichungen über einen längeren Zeitraum und damit Folgeschäden zu vermeiden, „dafür geben wir alles", so der Vater.

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