Die Patientenverfügung wurde schon 2009 gesetzlich verankert. Dennoch bestand weiterhin ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit. In manchen Fällen wurde das Gesetz von Gerichten schlicht ignoriert. So musste erst der Bundesgerichtshof kommen und mit den gesetzlichen Vorgaben Ernst machen.
Im Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 17. September 2014 (Az. XII ZB 202/13) ging es um eine 1963 geborene Patientin, die im Jahr 2009 eine Gehirnblutung mit der Folge eines apallischen Syndroms erlitten hatte. Wegen des Wachkomas war eine Kontaktaufnahme mit ihr nicht möglich. Die Patientin wurde über eine Magensonde ernährt. Der Ehemann und die Tochter der Betroffenen, die zu ihren Betreuern bestellt worden waren, haben beim Betreuungsgericht Stollberg im Erzgebirge beantragt, den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen zu genehmigen. Eigentlich waren sie davon ausgegangen, dass die Einstellung der künstlichen Ernährung gar nicht genehmigungsbedürftig sei. Deswegen haben sie hilfsweise einen sogenannten Negativ-Beschluss beantragt. Sie stützten ihre Anträge darauf, dass die Patientin vor ihrer Erkrankung gegenüber Familienangehörigen und Freunden geäußert hatte, dass sie im Falle einer schweren Krankheit keine lebenserhaltenden Maßnahmen in Anspruch nehmen wolle.
Sowohl das Betreuungsgericht als auch das Landgericht Chemnitz wies die Anträge jedoch ab. Erst vor dem BGH drangen Ehemann und Tochter mit ihrem Anliegen durch. Die Richter aus Karlsruhe konnten zwar noch nicht abschließend entscheiden und verwiesen daher die Angelegenheit zur weiteren Aufklärung zurück an das Landgericht Chemnitz. Dabei haben sie aber einige klärende Worte gesprochen.
Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen: Die wesentlichen Grundsätze im Überblick
- Entscheidend für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ist der Wille des Patienten. Dies kann ausdrücklich erklärt werden oder sich aus einer schriftlichen Patientenverfügung ergeben. Auch der mutmaßliche Wille kann ausreichend sein.
- Bei der Ermittlung des Willens ist nicht danach zu unterscheiden, ob der Tod noch fern ist oder ob er unmittelbar bevorsteht. Die Anforderungen sind in jedem Fall gleich.
- Der Wille des Patienten ist verbindlich. Unabhängig davon, ob die Grunderkrankung einen „irreversiblen tödlichen Verlauf" genommen hat oder nicht.
- Zuständig für Ermittlung und Umsetzung des Patientenwunsches ist der Betreuer oder der Vorsorgebevollmächtigte.
- Sind Arzt und Betreuer sich einig, dass der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen dem Willen des Patienten entspricht, kann dies auch ohne Einschaltung des Betreuungsgerichts geschehen. Legt der Arzt sein Veto ein, muss das Gericht entscheiden.
- Ganz unabhängig davon kann sich jeder an das Betreuungsgericht wenden. Gerade beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen haben die Betreuungsgerichte schon bei kleinsten Anlässen die Pflicht, sich mit der Angelegenheit zu befassen.
Patientenwillen in drei Schritten ermitteln
Zunächst muss es beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen darum gehen, den Willen des Patienten zu bestimmen. Denn dieser ist entscheidend. Am unproblematischsten ist es, wenn der Patient seinen Willen noch selbst äußern kann. Ist er dazu jedoch nicht mehr in der Lage, hat er seinen Willen zuvor womöglich in einer Patientenverfügung niedergelegt. Es handelt sich dabei ebenfalls um eine willentliche Entscheidung; sie ist lediglich bereits im Vorfeld verfasst. Auch der in einer Patientenverfügung niedergelegte Wille ist unbedingt zu beachten.
Gibt es jedoch keine Patientenverfügung oder ist sie unzureichend, kommt der mutmaßliche Wille ins Spiel. Zweifelsohne ist der Boden bei dessen Ermittlung schon ziemlich schwankend. Aber auch hier gilt, dass der mutmaßliche Wille zu beachten und umzusetzen ist. Das Gesetz fordert (§ 1901 a Abs. 2 BGB): Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten. Der BGH ergänzt, dass zunächst individuelle Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen gefunden werden müssen. Erst wenn diese fehlen oder unzureichend sind, können objektive Wertvorstellungen herangezogen werden.
Zuständig ist nur der Betreuer
Zuständig für die Ermittlung und Umsetzung des Patientenwillens ist alleine der Betreuer. Kein Arzt, kein Angehöriger und auch keine Pflegepersonen haben hier das Sagen. Gibt es keinen Betreuer, muss zunächst ein Betreuer vom Betreuungsgericht bestellt werden. Die Betreuungsgerichte können das notfalls innerhalb von 24 Stunden erledigen.
Gibt es bereits einen vom Patienten eingesetzten Vorsorgebevollmächtigten, muss kein Betreuer bestellt werden. Allerdings muss die Vollmacht ausdrücklich die Ermächtigung im Zusammenhang mit ärztlichen Maßnahmen umfassen (§ 1904 Abs. 5 BGB). In diesem Fall ist dann der Bevollmächtigte zur Ermittlung und Umsetzung des Patientenwillens berufen. Im Weiteren ist der Einfachheit halber nur von dem Betreuer die Rede.
Der Betreuer prüft nun, ob die Festlegungen in der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat er dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901 a Abs. 1 BGB).
Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, muss der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten feststellen. Auf dieser Grundlage entscheidet er dann, ob er in eine ärztliche Maßnahme einwilligt oder sie untersagt (§ 1901 a Abs. 2 BGB).
Patientenverfügung muss schriftlich vorliegen
In dem Fall aus Stollberg musste also zunächst vom BGH geprüft werden, ob es eine wirksame Patientenverfügung gab. Der Ehemann hatte dazu vor Gericht immerhin erläutert, dass man sich kurz vor der Erkrankung noch darum gekümmert hatte, die Formulare seien aber letztlich nicht ausgefüllt worden. Damit fehlte es letztlich an einer Patientenverfügung. Bis in das Jahr 2009 hinein war zwar noch eine mündliche Patientenverfügung möglich, spätestens aber seit der gesetzlichen Verankerung der Patientenverfügung fordert das Gesetz unbedingt die Schriftform (§ 1901 a Abs. 1 BGB). Und die lag hier zweifelsfrei nicht vor.
Den mutmaßlichen Willen ermitteln
Also mussten Ehemann und Tochter als Betreuer den mutmaßlichen Willen ermitteln. Das haben sie auch getan. So haben sie unter anderem erfahren, dass die Patientin mit einer Freundin über deren Nichte gesprochen hatte. Diese war mit 39 Jahren ins Wachkoma gefallen. Die Patientin hatte geäußert, dass sie in einem vergleichbaren Zustand nicht am Leben erhalten werden wolle. Auch die Betreuer selbst, die Mutter der Patientin und ihre Schwester konnten ähnliche Äußerungen der Patientin bestätigen. Der BGH hat diese Gespräche ernster genommen als die Untergerichte – und deswegen das Landgericht Chemnitz dazu verdonnert, dem nochmals nachzugehen.
Auch ein Weiteres hat der BGH bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens klargestellt. Zwar müssen bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens vor Gericht strenge Beweismaßstäbe gelten. Es geht immerhin um Leben und Tod. Allerdings kommt es dabei nicht darauf an, ob der Tod unmittelbar bevorsteht oder nicht. Die unteren Gerichte hatten noch argumentiert, dass bei Patienten, denen der Tod nicht unmittelbar bevorstehe, strenger hinzuschauen sei. Das hat der BGH aber verworfen.
Außerdem, so der BGH, darf es keine Rolle spielen, ob die Grunderkrankung einen „irreversibel tödlichen Verlauf" genommen hat. Das wurde bei der gesetzlichen Novellierung zwar durchaus diskutiert, hat aber gerade keinen Eingang ins Gesetz gefunden. Im Gegenteil: Das Gesetz regelt klar und deutlich, dass es für die Verbindlichkeit des Willens nicht auf die Art und das Stadium einer Erkrankung ankomme. Auch insofern war also eine „Erinnerung" des BGH notwendig.
BGH macht klare Aussagen
Somit steht fest: Der BGH hält es für möglich, dass der mutmaßliche Wille der Patientin aus dem Erzgebirge lautete, die lebenserhaltenden Maßnahmen abzubrechen. Der BGH macht also Ernst damit, dass der mutmaßliche Wille für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ausreichen kann.
Schließlich hat der BGH auch entschieden, dass der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen durchaus ohne gerichtlichen Beschluss vonstattengehen kann. Hier ist jedoch das Entscheidungsverfahren von Bedeutung. Das Entscheidungsverfahren beginnt damit, dass der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist (§ 1901 b Abs. 1 BGB). Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung des Patientenwillens. Das heißt: Hat der Betreuer den Willen des betreuten Patienten dahingehend ermittelt, dass dieser den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen wünscht, dann ist das in dem Konsil zwischen Betreuer und Arzt zu erörtern.
Dabei ist ein Betreuer verpflichtet, auch Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen einzuschalten (§ 1901b Abs. 2 BGB). Er muss dies jedoch nur dann tun, wenn dadurch keine unnötigen Verzögerungen entstehen. Die Angehörigen müssen also lediglich angehört werden (wenn es zeitnah möglich ist). Denn: Nicht sie entscheiden, sondern der Betreuer.
Sofern Betreuer und Arzt sich einig sind, kann die Maßnahme ohne Einschaltung des Betreuungsgerichts durchgeführt werden. Das ist nur dann anders, wenn der Arzt ein Veto einlegt (§ 1904 Abs. 4 BGB). Mit anderen Worten: Die Einschaltung des Gerichts ist nicht erforderlich, wenn sich Arzt und Betreuer darüber einig sind, dass die Entscheidung dem Willen des Patienten entspricht. Auch das musste der BGH in seinem Urteil aus dem Jahr 2014 klarstellen.
Wichtig ist aber ebenso: Ganz unabhängig von dem geschilderten Verfahren kann sich jeder an das Betreuungsgericht wenden. Das können Ärzte, Pflegende, Angehörige oder auch der Betreuer sein. Insbesondere sollte man dies dann tun, wenn Anlass zur Vermutung besteht, dass etwas passieren könnte, was der Patient so nicht gewollt hat. Gerade beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen haben die Betreuungsgerichte schon bei kleinsten Anlässen die Pflicht, sich mit der Angelegenheit zu befassen. Immerhin steht das Leben der Patienten auf dem Spiel.
Selbst wenn das Gericht nach dessen Anrufung ein sogenanntes Negativattest erlässt, also zum Ausdruck bringt, dass die Maßnahmen nicht genehmigungsbedürftig sind, so bringt dies für die Pflege eine haftungsrechtliche Entlastung. Wissen Ärzte und Pflegende damit doch immerhin, dass von Seiten des Betreuungsgerichtes keine Einwände bestehen.